Das größte Wunder von allen
von Christiane Müller
Wo bin ich? Was ist passiert?
Ich werde langsam wach, kann mich aber seltsamerweise überhaupt nicht bewegen.
Um mich herum scheint alles weiß zu sein.
Ich höre verschiedene Pieptöne, ein Tröpfeln und ein leises Summen, das ich mir nicht erklären kann.
Langsam erkenne ich Konturen.
Ich bin in einem Zimmer, liege im Bett, und dieses Bett scheint das einzige Möbelstück in diesem Raum zu sein.
Sehr langsam und mit großer Anstrengung gelingt es mir, den Kopf
ein wenig zu drehen.
Wahrscheinlich verursachen die Geräte und Maschinen um mich herum diese komischen Geräusche.
Und irgendwelche Schläuche führen in meinen Körper.
Jetzt verändern sich die Töne. Sie werden lauter, fordernder.
Die Tür geht auf, und drei weiß gekleidete Frauen rennen zu mir.
Sie wirken ernst und besorgt, kontrollieren die Geräte, reden miteinander in einzelnen Worten, die ich nicht begreife.
Nur den Satz: „Wie müssen die Dosis erhöhen“, kann ich verstehen, obwohl
mir der Sinn noch rätselhaft ist.
Dann beugt sich die älteste der drei Frauen zu mir herunter und schaut mir in die Augen.
Sie hat ein freundliches, rundes Gesicht, braune Augen und graues Haar und erinnert mich ein kleines bißchen an meine Oma.
„Keine Angst, meine Liebe! Ganz ruhig! Wir kümmern uns um Sie. Sie müssen viel schlafen und sich ausruhen. Alles wird wieder gut.“
Bei diesen leisen, beruhigenden Worten streichelt sie meine Hand. Das weiß ich, aber ich kann es nicht spüren.
Als die Frauen mein weißes Zimmer verlassen, ist mir nur eines vollkommen
klar: Das eben war nichts weiter als eine nette Lüge.
Gar nichts wird wieder gut.
Langsam, aber immer deutlicher spüre ich die Schmerzen überall. Wenn ich versuche, mich zu bewegen, ist es am schlimmsten.
Es tut so schrecklich weh.
Ich schließe die Augen und fliehe vor den Schmerzen in die Dunkelheit.
Als ich wieder aufwache, kann nur noch Umrisse im Raum erkennen.
Das einzige schwache Licht kommt vom Fenster. Vielleicht ist das der Mond, den ich schon immer so sehr geliebt habe.
Zum Glück haben die Schmerzen
wesentlich nachgelassen, aber ich befürchte, das liegt nur an der höheren Dosis der Schmerzmittel, von der sie eben gesprochen haben.
Plötzlich überwältigt mich die Erinnerung, und ich weiß endlich, warum ich hier bin.
Ich sehe mich wieder auf der Landstraße durch die wunderschöne Sommerlandschaft fahren. Um mich herum war alles grün, und ich staunte wie so oft darüber, wie viele unterschiedliche Grüntöne es auf der Welt gibt. Der Himmel war strahlend blau und das Grün hier und da von den leuchtend gelben Flächen der Rapsfelder
unterbrochen, die mich so unbeschreiblich begeistern. In den Bäumen wehte ein leichter Wind, und ich dachte, wie viel Spaß es machen müßte, sich im Sommer ein Cabrio leisten zu können.
Im Radio lief einer meiner Lieblingssongs, und ich sang laut mit.
Warum auch nicht? Schließlich hörte mich ja keiner, und ich war gut gelaunt und aufgeregt, weil ich zu dem Gespräch mit einem neuen Auftraggeber unterwegs war und von ganzem Herzen hoffte, dieser Tag würde endlich mein Leben verändern.
Es mußte einfach klappen! Wenn ich von dieser Firma Aufträge bekommen könnte
und sie wirklich so fair zahlen würden, wie sie mir am Telefon versprochen hatten, würde ich endlich weniger Sorgen haben und müßte nicht mehr jeden einzelnen Cent umdrehen, wie man so sagt.
Laut singend fuhr ich auf die Kurve zu, in der auf einmal wie aus dem Nichts ein riesiger dunkler LKW auftauchte. Er war viel zu schnell, fing an, hin und her zu schleudern, und kam mir dann auf meiner eigenen Fahrspur entgegen gebraust.
Für Panik hatte ich gar keine Zeit mehr. Es gab nichts mehr, was ich tun konnte.
Und dann ein ohrenbetäubend lauter Knall und danach Stille und
Dunkelheit...
Ja, so war es passiert, und deshalb liege ich jetzt hier.
Eigentlich müßte ich furchtbare Angst haben und darüber rätseln, wie schwer ich verletzt bin, wie lange es dauern wird, bis alles wieder in Ordnung kommt, und wie ich all die nötigen Behandlungen bezahlen soll.
Aber an all das verschwende ich keinen einzigen Gedanken. Statt dessen läuft in meinem Kopf, der offensichtlich das Einzige von mir ist, das noch funktioniert, ein Film ab, der mich ganz tief berührt. Ich lasse mich von den Bildern tragen und spüre, wie lautlos
Tränen meine Wangen herablaufen zahllose, befreiende Tränen, die meine Erinnerungen an das Allerbeste und Wertvollste aus all den Jahren begleiten.
Ich spüre die Hand meiner Großmutter, die mich streichelt und tröstet, nachdem ich mir das Knie aufgeschlagen habe.
Ich höre die sanfte Stimme meines Großvaters, der mir Geschichten aus seinem Leben erzählt und mir versichert, daß ich sein und erreichen kann, was immer ich will.
Ich sehe das liebevolle Lächeln meiner Mutter, während wir zum ersten Mal zusammen backen und ich die Küche in ein absolutes Chaos verwandele.
Ich lache auf den starken Schultern
meines Vaters, der mich durch die Menge zum Zirkuszelt trägt.
Ich umarme meine beste Freundin aus meiner Kinderzeit und erlebe noch einmal das unbeschreibliche Herzklopfen bei meinem ersten Kuß mit diesem schwarz gelockten Jungen aus der Nachbarschaft, dessen Namen ich längst nicht mehr weiß.
Ich fühle den Wind in meinen Haaren, rieche den Duft des Meeres und von frisch gemähtem Heu auf der Wiese hinter unserem Haus und höre das so herrlich beruhigende Rauschen der Wellen am Strand.
Ich lasse die Sonne meine Haut wärmen und laufe barfuß durch den Sand
scheinbar endlos bis zum Horizont.
Ich staune über all die traumhaft schönen bunten Blumen am Wegesrand, lasse den Gesang der Vögel meine Seele berühren und möchte zu gern wissen, was die uralten Bäume in meinem Lieblingswald aus der Vergangenheit erzählen würden, wenn sie nur sprechen könnten.
Ich träume mich bei einem orangeroten Sonnenuntergang ans andere Ende der Welt und folge dem Mond auf seinem Weg durch die Nacht.
Ich lächele, als der niedliche kleine Hund unserer Nachbarin sich auf den Rücken legt und mich dazu auffordert, ihn zu
streicheln.
Ich berühre sein weiches Fell, sehe flauschige weiße Wolken am tiefblauen Himmel vorüberziehen und lasse keine anderen Gefühle mehr zu als grenzenlose Liebe, endloses Vertrauen und ganz tief im Herzen empfundene Dankbarkeit.
Wann habe ich eigentlich damit begonnen, das alles nach und nach zu vergessen, zu verlieren?
Ich war so stolz auf meine erste eigene Wohnung und auf meine Unabhängigkeit, und ich hatte tausend Träume, war voller Kraft, Energie und Optimismus.
Aber die Rechnungen wurden immer
höher, die Realität hat meine Träume zerstört, Menschen haben mich verletzt und enttäuscht, Versprechen wurden gebrochen, und so sehr ich auch alles versucht habe, konnte ich doch nie so viel verdienen, wie ich brauchte.
Und damit kam die Angst in mein Leben und wurde mein ständiger Begleiter.
Werde ich diesen Monat noch mit dem auskommen, was ich habe?
Kann ich die Miete auch im nächsten Jahr noch zahlen?
Was soll ich tun, wenn die Aufträge immer weniger, die Kosten immer höher und die Bezahlung immer schlechter wird?
Wovon soll ich leben, wenn ich älter
werde und vielleicht nicht mehr arbeiten kann?
Wie kann ich mich absichern, wenn ich doch keinen Cent dafür übrig habe?
Was wird aus mir?
Irgendwann hat mich nur noch die Hoffnung auf ein Wunder davor bewahrt, endgültig zu verzweifeln die Hoffnung auf einen Hauptgewinn im Lotto, der alle meine Sorgen beendet, die Hoffnung auf den Traumjob, bei dem ich endlich zeigen kann, was in mir steckt, und der mich von der Verlierer- auf die Gewinnerseite zieht, die Hoffnung auf ein besseres, leichteres, glücklicheres
Leben.
Tag für Tag habe ich auf das ganz große Wunder gewartet...
Das Piepen neben meinem Bett verändert sich plötzlich. Es wird lauter, drängender, verwandelt sich in einen einzigen anhaltenden Ton.
Ich schwebe schwerelos nach oben und blicke auf meinen armen, zerschundenen, bandagierten Körper im Bett. Zum Glück brauche ich ihn jetzt nicht mehr.
Er hat mich durch dieses Leben begleitet, hat mich nie ernsthaft im Stich gelassen und war mir vertraut. Und trotzdem war er eben nur so etwas wie die Kleidung, die man nach einer
gewissen Zeit eben wechseln muß.
Das weiß ich auf einmal ganz sicher, auch wenn ich noch absolut keine Vorstellung davon habe, wie es weitergehen wird.
Wichtig ist jetzt nur noch dieses unbeschreibliche Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit, wie ich es noch nie zuvor empfunden habe.
Ich fühle keine Schmerzen mehr, habe alle Ängste dort unten im Bett zurückgelassen und hoffe auch nicht mehr auf das große Wunder, das alles verändern soll, denn alles ist so, wie es sein soll.
Unter mir wird die Tür aufgerissen.
Ärzte und Krankenschwestern rennen ins Zimmer und machen sich hektisch an meinem Körper zu schaffen.
„Macht Euch keine Mühe mehr! Laßt es bitte einfach! Alles ist gut“, möchte ich ihnen zurufen, aber ich weiß, sie können mich nicht hören.
Und in diesem allerletzten Augenblick auf dieser Seite der Ewigkeit erkenne ich ganz klar die einzig wichtige Wahrheit im Hier und Jetzt: Das allergrößte Wunder von allen ist das Leben selbst dieses unbegreifliche, herrliche, grausame, lustige, traurige, schwere und wunderbare Leben!
Ich möchte nie mehr dieselben dummen Fehler wiederholen, und ich will dieses wertvolle Wissen nie, nie wieder verlieren und unbedingt mitnehmen wohin auch immer die endlose Reise mich von jetzt an führen wird.
Und allen, die in diesem Teil der Unendlichkeit zurückbleiben, den ich jetzt verlasse, möchte ich aus ganzer Kraft zurufen: “Haltet Euer wunderbares Leben fest! Vergeudet Eure Zeit nicht mit der Hoffnung auf noch größere Wunder! Genießt jeden kostbaren Moment! Liebt! Fühlt! Verzeiht! Helft einander! Lacht und weint! Singt und tanzt! Öffnet Eure Augen und Eure
Herzen ganz weit für die überwältigende Schönheit überall um Euch herum! LEBT!”