Das verspätete Geburtstagsgeschenk
Martha hockte am Ufer und schaute übers Wasser. Welle auf Welle rollte auf sie zu. Schaumgekrönt. Die Gischt spritzte ihr ins Gesicht, so kräftig peitschte der stürmische Wind das Wasser aufs Land. Da sah sie es: „Da draußen zieht ein Segelboot vorbei, ein Zweimaster mit rotem Segel. So ein Boot habe ich doch noch nie hier auf dem Balaton gesehen … verrückt! Aber es erinnert mich an etwas. Nur an was?“ Sie wandte sich an Bertram, der neben ihr auf einem Stein hockte und hinaussah. „So ein Boot habe auch ich
noch nie gesehen. Es sieht interessant aus, wie ein Fischerboot.“ Marthas Gedanken durchsuchten angestrengt alle Winkel ihres Gehirns. Sie wusste, dass solch ein Boot ein Teil ihres Lebens war. Aber im Moment fand sie den verbindenden Faden nicht.
“Mist, wenn man alt wird und das Gedächtnis nicht mehr präzise arbeitet!“ murmelte sie vor sich hin. „Ach lass man, das kommt wieder, wenn du gerade nicht dran denkst“, wurde sie von ihrem Begleiter beruhigt, der fortfuhr: "Aber mal auf dem Balaton zu segeln, das wäre noch ein Abenteuer." Martha lachte: "Segeln! Genau! Das war es, was ich mir immer gewünscht habe.
Bertram, das müssen wir mal machen."
Bertram lachte auch. Dann hörten sie Jutka nach ihnen rufen und sie wandten sich dem Haus zu.
Der Sturm war stärker geworden und es hatte begonnen mit großen Tropfen zu regnen. Donner rollte heran und noch fern aber grell stachen die Blitze in den aufgewühlten grün gefärbten See.
Jutka und die anderen Schwestern hatten ihre Gäste aus dem weitläufigen Park und vom Ufer zurück ins Haus gebracht. Gerade rechtzeitig, bevor sich die Naturgewalt mit ganzer Kraft und heftig Bahn brach. Durch die nun herab rauschende Regenwand konnte man das andere Ufer des Sees mit dem
charakteristischen Panorama der erloschenen Vulkane nicht mehr sehen. Und auch das Boot mit den rostroten Segeln war wie von einem nassen Lappen von der Bildfläche gewischt. Und doch. Sie erinnerte sich nun im Aufleuchten eines grellen Blitzes, wusste es jetzt genau, dort war eben noch ein Zeesenboot gewesen. Jetzt war ihr der Name des Bootes wieder eingefallen. Es war genau solch ein Schiff, wie ihr Großvater eines besessen hatte und dann in einer stürmischen Nacht mit ihm im Bodden versunken war. Sie hatten es nicht rechtzeitig zurück geschafft. Auch ihr Vater war mit einem Zeeskahn auf den Bodden
gesegelt. Er hatte sich ein neues bauen lassen. Martha blickte angestrengt aus dem Fenster ihres Zimmers. Die Gardinen waren zur Seite geschoben. Hinter ihr stand die deutschsprachige Pflegerin. Sie hatte Marthas Sessel nah ans Fenster geschoben. Nun konnte die Bewohnerin des Zimmers 307 der Seniorenresidenz auf den See sehen. Aber da war nichts, nur die graue Regenwand. Die blühenden Akazien bogen sich im Sturm, der aus Nordost aufs Ufer traf und für den Balaton ungewöhnlich hohe Wellen mit weißer Gischt bis in den Park peitschte. Martha war sich sicher, dass die Blüten der Bäume auch auf dem grünen Rasen
liegen würden, nach diesem Unwetter.
Obwohl es erst früher Nachmittag war, freute es Martha, dass die Schwester die Leselampe angemacht hatte. Ihr Licht vertrieb die Düsternis und tauchte den Raum in freundliches Licht. Dann brachte die Schwester einen Teller mit Linzer Gebäck und eine Kanne Kräutertee. Sie stellte die bauchige Keramikkanne auf das Stövchen, unter dem jetzt ein Teelicht brannte. Martha nahm sich vom Tee, lies ein Stück dunklen Kandiszucker unter Knistern sich auflösen, rührte mit ihrem Lieblingslöffel mit den Familieninitialen den sich auflösenden Zucker im Tee um und lehnte sich im
Sessel zurück. Sie fühlte sich wohl und konnte sich ihren Gedanken hingeben. Warum fiel ihr der Großvater gerade jetzt ein? Warum erschien ein Zeesenbot auf dem Balaton gerade kurz nach ihrem 85. Geburtstag? Sie wischte sich über die Stirn, wohin eine ihrer weißen Locken sich aus der Hochsteckfrisur geflüchtet hatte und gleichzeitig versuchte sie, diese weit weg liegenden Ereignisse wegzuwischen. Sie griff zum Smartphone und wählte die vorgespeicherte Nummer ihres Sohnes Hinrich, der in der Nähe von Wustrow lebte.
„Hinrich, mien Jung, wie geht es Dir an deinem 65. Geburtstag? Ich gratuliere
Dir. Feierst Du mit deinen Segelfreunden?“ Sie lauschte eine Weile, schmunzelte hier und da während sich um ihre Augen kleine Lachfalten legten und sagte dann: „Schön, dass die Leute aus dem Zeeskahnverein mit Dir feiern. Ach wie gern wäre ich einmal als Kind mit meinem Großvater auf einem Zeesboot hinaus auf den Bodden gefahren. Aber Großvater hat ja darauf bestanden, dass die Deerns nicht aufs Boot gehören. Und es war an meinem 10. Geburtstag, als sein Boot von der Nachtfahrt im Sturm nicht nach Hause kam. Hätte er mir den Geburtstagswunsch erfüllt, würden wir jetzt nicht miteinander telefonieren. Ja,
das war damals so.“ Sie lauschte auf die Antwort ihres Jungen.
„Nein wehmütig bin ich nicht … und entgegnete dann wohl auf seinen Versuch sie zu trösten: „Ach Flusskreuzfahrt und Mittelmeerreise ist ja alles gut und schön. Aber auf einem Zeesboot unter vollen Segeln und den Fischgeruch in der Nase, das ist auch heute für mich noch etwas ganz Besonderes. Stell Dir mal vor, was ich heute auf dem Balaton gesehen habe, ein Zeesboot. Es ist im Sturm gesegelt. … Was soll heißen „Mutter“. Ich bin zwar seit gestern 86 Jahre alt, aber nicht tüddelig im Kopf! Ich bitte mir Respekt aus, mein Sohn.“
Sie lachte herzlich zu ihm hin und bat ihn dann: „Frag doch mal bei deinen Freunden im Verein herum, ob wer was weiß über ein Zeesboot auf dem Balaton und ruf mich zurück. Hab noch einen netten Abend.“ Sie trennte die Verbindung und nahm einen Schluck Tee. Vor dem Fenster tobte weiter das Unwetter und Martha lehnte sich in ihrem Sessel zurück und dachte zurück an ihren Großvater, der abends mit seinem Zeesboot hinaus gefahren war auf dem Bodden, um Fische zu fangen. Im Morgengrauen kamen sie zurück und dann war die ganze Familie gefragt, beim Sortieren und Putzen zu helfen. Auch sie musste manches Mal mit
helfen, bevor sie zur Schule ging. Großvater und Vater schlachteten dann die Aale und räucherten sie. Das ganze Haus, der Hof und jedes Kleidungsstück rochen in ihrer Kindheit nach Fisch und Geräuchertem. Erst als sie nach Stralsund ins Internat kam, um die Hauswirtschaftsfachschule zu besuchen, stellte sie fest, dass ein junges Mädchen nach Rosen und Jasmin duften sollte und nicht nach Fisch und Rauch. Doch woher hätte sie das wissen sollen. Damals war sie 14 Jahre alt und der Vater hatte gespart, damit sie eine Ausbildung bekommen konnte. In ihrem Fischerdorf war es so. In ihrer Familie hatte immer die Söhne die
Fischereifirma weitergeführt und die Frauen die Marktstände betreut, zuletzt ihr Sohn Hinrich und dessen Frau. Dann waren nur noch Töchter geboren wurden und das Boot war vor einigen Jahren, als die Fischerei nichts mehr einbrachte, für die Touristen umgebaut worden. Nun betrieb deren Familie in dem Boddenort eine Pension, vermietete Zimmer und betrieb Ausflüge auf dem alten Boot mit den rotbraunen Segeln.
Martha schreckte auf, als Schwester Jutka nach einem kurzen Klopfen ins Zimmer kam, um sie zum Abendbrot abzuholen, dass im unteren Speisesaal eingenommen wurde. War sie doch
tatsächlich eingeschlafen. Sie schüttelte den Traum von sich, in dem sie sich wieder als Gallionsfigur des großväterlichen Bootes gesehen hatte, genau wie in dem Film „Titanic“ und ihr Friedrich hatte sie im Arm gehalten. Ach welch ein Traum. Wenn Friedrich noch lebte, wäre sie sicher nicht hier an den Balaton in die Seniorenresidenz gegangen. Aber was sollte sie allein in Wustrow. Hier gab es noch einmal ein Abenteuer. Sie hatte ihr Haus den Enkeln gegeben. Die zahlten ihr eine kleine monatliche Miete und so war allen gedient. Und in den Ferien hatte die ganze Familie sich jedes Jahr ein Ferienhaus gemietet und war drei
Wochen zusammen. Martha freute sich schon darauf. In einem Monat war es wieder so weit.
Sie stand vom Sessel auf nahm sich ihren Gehstock und ging an der Seite von Schwester Jutka zum Fahrstuhl, der sie zum Speisesaal in die erste Etage brachte. Nein, es war nicht so, dass sie Begleitung brauchte, mit Stock ging es recht gut. Die Knie muckerten nur bei feuchtem Wetter, aber es war angenehm, jemanden zur Seite zu haben, der aufmerksam und freundlich schaute, dass alles in Ordnung war. Und die rundliche Jutka, die so herrlich lachen konnte mit ihrem verschraubten englisch-deutschen Kauderwelsch, dass
sie auch mit ungarischen Worten mixte, machten ihr das Herz warm.
Sie ging zu ihrem Tisch, an dem ihre Tischgenossen, die Burgenländerin Therese und die Holländerin Yvonne bereits dem Welsfilet zusprachen. Bertram ließ wohl das Abendessen mal wieder aus. Martha bat um einen Salat und etwas Putenbrust und vertiefte sich auf das Essen.
Therese brach zuerst das Schweigen: „habt ihr heute das seltsame Boot auf dem See gesehen, bevor das Unwetter kam? So etwas habe ich noch nicht gesehen.“ Yvonne antwortete: „Ich kenne die von den Fischern bei uns an der Küste gab es einige. Aber eigentlich
gehören die doch an die Ostsee, oder? Martha? Du müsstest sie doch kennen?“ Martha nickte und kaute genießend den zart gebratenen Putenbruststreifen, schickte ein wenig vom Gurkensalat hinterher, schluckte es schließlich hinunter, während die beiden alten Damen an ihren Lippen hingen und antwortete dann:
„Ja, ich sah es auch. Und ein Schwall Erinnerungen brach über mich herein. Wenn ihr mögt, lade ich euch nach dem Essen in mein Zimmer ein und erzähle ein wenig davon. Ich denke, irgendwo habe ich noch ein paar Fotos und einen guten Cherry kann ich auch anbieten.“ Die beiden Damen nickten freudig
zustimmend und dankten für die Einladung. Sie wollte sich gerade wieder ihrem Essen widmen, als Bertram an ihren Tisch kam und seinen Platz einnahm. „Gilt die Einladung auch für mich, Martha?“, fragte er: „Ich kann in Sachen Segelboot eine interessante Überraschung beitragen.“
Die drei Damen setzten ihr Abendbrot fort, während sich Bertram nur eine Tasse Tee bringen ließ, er mochte das späte warme Abendessen nicht. Martha wandte sich an Bertram: „Natürlich gilt die Einladung auch für Dich. Aber, nun erzähl schon, wir sind ganz Ohr, haben ja noch an unserem Abendessen zu kauen.“
Also ihr werdet es nicht glauben, ich habe im Internet recherchiert wegen des rotbraun betakelten Bootes. Es ist eine irre Geschichte.“ Er nahm einen Schluck Tee. Die drei Damen hatten ihr Besteck zur Seite gelegt und hingen an seinen Lippen. „Erzähl schon, Bertram, lass uns nicht verhungern,“ wurde er von Martha aufgefordert. „Es wurde vor 10 Jahren aus einem Boddengewässer von Rügen geborgen, in einer Bootswerft an der Donau restauriert und vor zwei Jahren an den Balaton verlegt,“ fuhr Bertram fort. „Und weißt du auch, wem es gehört? Kann man es ansehen? Können wir damit auf den Balaton?“, fragten die 3 Damen
durcheinander. Sie zeigten ihre Freude und Neugier nun unverhohlen, hatten das Besteck abgelegt und die Teller von sich geschoben.“ Bertram lachte herzlich auf. Lasst uns doch zu Martha gehen, da ist es bestimmt gemütlicher“, unterbrach er das Durcheinander. Die vier erhoben sich und trippelten und humpelten und schlurften und staksten zum Fahrstuhl.
Martha schloss ihre Zimmertür auf und lud ihre Gäste ein, auf Sofa und Sesseln Platz zu nehmen. Dann holte sie aus dem kleinen Küchenbuffet Gläser und die Flasche Cherry, und stellte eine Schüssel mit Schokoladenkeksen auf den kleinen Couchtisch.
„Moment noch, ich hole schnell noch das alte Fotoalbum", sagte sie und verschwand hinter einer Tür, hinter der es durch einen kleinen Flur zum Bad und Schlafzimmer ging. Martha hatte eines der 2-Raum-Appartements gemietet, solange sie noch nicht auf ständige Pflege angewiesen war, leistete sie sich einen größeren Lebensraum. Und genoss es. Sie kam gerade mit dem dicken Fotoalbum unterm Arm zurück, als Bertram den Cherry eingegossen hatte. „Auf einen gemütlichen Abend“, stießen sie miteinander an und dann setzte Bertram mit seiner Erzählung fort: „Aaalso …“, Bertram nahm Anlauf: „Der Besitzer ist ein gewisser
Hinrichsen, er stammt aus Bodstedt. Ein älterer Mann, der auf der Nordseite mit einem Wiener zusammen eine Segelschule und ein Hotel betreibt.“
Martha runzelte die Stirn: „Das ist doch bei mir ums Eck gewesen. Hinrichsen sagst Du? Mein Großvater hatte damals einen Lehrjungen, der so hieß.“
Sie holte das Fotoalbum und blätterte einige Seiten um.
„Hier schaut mal. Großvater mit dem Boot und das sind seine Angestellten. Das hier ist der kleine Hinrichsen. Er kam bei dem Sturm damals auch um. Wie Großvater.“
Man beugte sich über das Album.
„Da wird er ja staunen. Bis jetzt weiß er
nur, dass eine nette ältere Dame aus Deutschland sein Boot bewundert und gern einmal darauf über den Balaton segeln möchte. Ich habe vorhin bei ihm angerufen. Er lädt Dich ein, Martha, und ich begleite dich gern. Wir fahren mit meinem Auto, einverstanden?“
Martha blieb fast der Atem weg. Das war ja eine umwerfende Überraschung. „Darauf brauch ich noch einen Cherry.“ Sie stieß mit den anderen an, die überrascht den Berichten gelauscht hatten. Martha schaute sie an: „Wenn ihr mögt, vielleicht können wir den Ausflug ja zu viert unternehmen. Das würde ein wenig Abwechslung in unseren Heimalltag bringen.“ Yvonne und
Therese nickten zustimmend. „Welch wundervolle Idee, meine Liebe,“ meinte Yvonne und Therese schüttelte lachend ihre rot gefärbte Mähne. "Werde ich auf meine alten Tage noch zur Seejungfrau. Auf einem Segelboot war ich noch nie. Dazu musste ich also nach Ungarn in die Seniorenresidenz.“ Sie lachte herzlich und goss allen nochmal einen Cherry nach.
In diesem Moment läutete das Telefon. „Das wird mein Sohn sein“, sagte Martha, „ich bat ihn, mal rumzufragen, ob jemand etwas über den Zeeskahn auf dem Balaton weiß.“
„Ja bitte, Friedrichssohn“, meldete sie sich. „Guten Abend, mein Sohn, hast Du
etwas herausgefunden?“
Dann lauschte sie und lächelte.
„Nein, das ist kein Zufall, mein Freund hier, der Bertram, er hat auch recherchiert und uns schon eine Fahrt organisiert. Aber dass das definitiv Großvaters Boot ist, wie wunderbar. So geht mein Geburtstagswunsch doch noch in Erfüllung nur eben 70 Jahre später.
Und wenn ihr in den Ferien hier seid, dann machen wir das mal gemeinsam. Danke Dir. Und schöne Feier noch. Ja, ich grüße hier mal rum. Wir sind beim Cherry.“
Dann legte Martha auf und widmete sich wieder ihren Gästen, und sie hatten viel zu erzählen von Großvätern und
Träumen und sie freuten sich auf den nächsten Tag.