1. Kapitel
Warum gibt es keine Engel, die morgens, wenn man erwacht, am Bett stehen und einem zuflüstern, ob es ein guter Tag wird, ein schlechter, oder ob es ratsam wäre, man würde erst gar nicht aufstehen? Ich glaube nicht an Engel, darum würde es mir auch reichen, wenn ich die Botschaft durch den Radiowecker zugestellt bekomme oder auch als Post-it, an den Kühlschrank geklebt.
Da dies eine Erfindung der Zukunft ist, wusste ich also nicht, dass an diesem Tag eine schicksalhafte Begegnung auf mich wartete, die den Verlauf meines gesamten bisherigen Lebens aus den Angeln heben würde. Hätte ich das am Morgen erfahren, wäre ich in
meinen vier bescheidenen Wänden geblieben, hätte das Haus nicht verlassen und wäre so vielleicht dem weiteren Verlauf aus dem Weg gegangen.
Ist das überhaupt möglich? Schon oft habe ich mich gefragt, ob es Zufälle und so etwas wie Schicksal gibt. Ist alles vorbestimmt und lässt sich sowieso nicht ändern? Oder ist es oft eine winzige Entscheidung, eine vertane Minute, ein kurzer Moment des Innehaltens, der letzten Endes den Weg anders verlaufen lässt? Oder ist der eigene Lebensplan längst vorbestimmt und man hat überhaupt keinen Einfluss darauf, weil man selbst die vermeintlichen Fäden gar nicht in der Hand hält? Ich weiß es nicht und werde es nie erfahren, denn es gibt niemanden, der diese
Fragen beantworten kann.
An diesem 26. Juni 2010 erwachte ich ohne Wecker. Es war Samstag und die Sonne stand schon hoch am Horizont, was mir egal war, denn ich hatte an diesem Wochenende nichts vor. Gemütlich genoss ich das langsame Wachwerden ohne Hektik, den Kaffee und die Zeitung im Bett und die ausgiebige Dusche. Während ich mir ein großes Handtuch aus dem Haufen schmutziger Wäsche in der Ecke meines Badezimmers angelte und um meine Hüfte knotete, suchte ich im Spiegel nach Auffälligkeiten oder Veränderungen, die sich in den letzten neun Stunden in mein Gesicht geschlichen haben könnten. Beruhigt stellte
ich fest, dass alles beim alten war.
Ich, Jim Rigby, war am Vortag 29 Jahre alt geworden. Kein besonderer Tag, da ich meine Geburtstage nie verherrlichte. Möglichkeiten zum Feiern ergaben sich im Sommer genug, darum legte ich mich nicht auf diesen einen bestimmten Tag fest. Meine, fast ausschließlich weiblichen Kolleginnen der Fir Grove Elementary School, in der ich als Sportlehrer arbeitete, die Jungs meiner Football-Mannschaft hatten mir gratuliert und zwei meiner Freunde riefen mich am Nachmittag an, aber das war auch schon alles.
Mein Sportlehrerdasein gefiel mir sehr gut, wie mir mein gesamtes Leben zu dieser Zeit gefiel. Ich war vogelfrei, konnte jederzeit tun,
was ich wollte und hatte einige liebenswerte Menschen um mich. Es störte mich nicht, dass ich Lehrer in genau der Grundschule war, die ich selbst einmal als Kind besuchte. Nach dem Studium hatte es sich so ergeben und die ganze Sache aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten, machte mir einfach viel Spaß. Dadurch konnte ich jedoch nicht behaupten, schon viel herumgekommen zu sein. Aber ist es nicht die Hauptsache, dass man sich wohl fühlt? Ich hatte noch nie das Bedürfnis und im Grunde auch nicht das nötige Kleingeld in der Tasche, mich in anderen Ländern umzuschauen. Mein Lebensmittelpunkt war Portland, im schönen Bundesstaat Oregon. Die raue Küste und die vielen Wälder befriedigten meine Bedürfnisse
nach Weite und Freiheit. Konnte man sich dort doch ewig in der Natur aufhalten, wenn der Wunsch nach Ruhe und Ungestörtsein im Alltag Überhand nahm. Oft war ich tagelang nur mit Zelt und Schlafsack unterwegs und genoss aus vollem Herzen meine Freiheit.
Der einzige Luxus, den ich mir je geleistet hatte, war ein gutes Auto, ansonsten klebte mein Name schon seit neun Jahren an der gleichen Wohnungstür. Ein Schlafzimmer, ein größerer Wohn-und Küchenbereich, ein kleines Bad und ein Balkon waren mein Reich und nichts sollte sich daran ändern. Ich weiß nicht einmal, ob ich damals über eine Familie nachdachte. Meine eigene gab es nicht mehr, gab es für mich nie, denn meine Eltern sind bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen,
als ich vier Jahre alt war. Pflegefamilien bestimmten meine Kindheit, zur Adoption hat es nie gereicht und kaum war ich 16, habe ich mich, mehr oder weniger selbständig, unter der Aufsicht der Jugendämter erfolgreich durchs Leben geschlagen. Ein gerahmtes Foto, mit einem mir fremden, lächelnden Paar, erinnerte mich als einziges an meine Herkunft. Da ich ein glückliches Familienleben nicht kannte, vermisste ich es auch nie. Hatte ich doch ausreichend gute Freunde, einige Freundinnen und ab und zu auch mal längere Beziehungen, die sich jedoch nie als ernsthaft genug herausstellten, um den Gedanken an eine eigene Familie weiterzuspinnen.
Warum ich gerade an diesem Morgen über
mein Leben nachdachte, weiß ich nicht mehr. Auf jedem Fall grinste ich mich schief im Spiegel an und stellte wieder einmal fest, dass ich ein glücklicher Mensch war.
Immer noch nur mit dem umgewickelten Handtuch, fläzte ich mich auf dem Sofa, blätterte in einer Zeitschrift, griff nach einem Buch, öffnete mir eine Flasche Wasser, um dann doch einen weiteren Kaffee zu trinken. Mir fehlte ein Plan für dieses Wochenende und obwohl ich Tage wie diese, im Grunde mochte, verspürte ich doch eine gewisse Unruhe.
Irgendwann beschloss ich, wenigstens meinen leeren Kühlschrank aufzufüllen und danach weiter zu überlegen, was ich mit dem angefangenem Tag machen würde. Schon an
dieser Stelle hätte ich von allen weiteren Unternehmungen absehen sollen, aber nicht immer deutet man die Zeichen richtig.
Als ich die Jeans über den Hintern zog, ging der Reißverschluss kaputt, nirgendwo, in keinem Winkel meines Kleiderschrankes fand ich ein sauberes T-Shirt und beim Anziehen der Sneakers fiel mir wieder ein, dass am Vortag der Senkel abgerissen war. Irgendwann war ich doch soweit hergestellt, dass ich die Wohnung, ohne aufzufallen verlassen konnte. Ein Shirt fand ich in der Sporttasche, die ich als mein einziges Heiligtum betrachtete und die demzufolge immer aufgeräumt war. Die Jeans wich einer Cargo Pants und einen Schnürsenkel für mein einziges Paar Schuhe fand ich im
Kramkasten der Küchenschublade.
Selbstverständlich war, wie zu erwarten, mein Auto zugeparkt. Genervt stand ich in der heißen Mittagssonne und starrte auf meinen dunkelblauen Volvo XC90, ohne die geringste Chance, ihn ohne Schaden vom Stellplatz zu bewegen. Seit vier Wochen hatte ich eine neue Nachbarin, die auf dem Flur in die Wohnung gegenüber eingezogen war. Carol war ausgesprochen nett, sehr hübsch, in meinem Alter und wir hatten schon einige Stunden als Balkonnachbarn Zeit zusammen verbracht. Normalerweise übersah ich es, dass sie fast täglich meinen Parkplatz zuparkte, denn in der Regel fuhr sie vor mir zur Arbeit. Heute nervte es mich und entsprechend schlecht gelaunt, donnerte ich
mit den Fäusten an ihre Tür. Spätestens als ich ungeduldig auf der Straße wartete und nachdem mein Auto befreit war, in der Hosentasche suchend nach dem Schlüssel griff, ihn nicht fand, da das Schlüsselbund noch in der Jeans steckte, hätte ich aufgeben sollen. Aber auch das war noch nicht genug.
Gequält lächelnd, bat ich Carol um meinen Ersatz-Wohnungsschlüssel, den ich ihr vor vierzehn Tagen vertrauensvoll zur Aufbewahrung gegeben hatte, nuschelte eine Entschuldigung und saß kurz darauf fahrbereit im Auto. Eigentlich sollte nun nichts mehr schief gehen - dachte ich.
Wenigstens die Fahrt durch die Straßen Beavertons, dem Vorort von Portland, der seit meiner Geburt mein Aufenthaltsort war, verlief
friedlich. Ich mochte diesen eigentlich langweiligen Ort, der in den letzten Jahren mächtig angewachsen war, schon immer sehr gern. Dort bin ich als Kind oft auf Erkundungstour gegangen, bis ich einmal in einem Abwasserrohr steckenblieb und unter großem Aufwand, mit Feuerwehreinsatz gerettet werden musste. Ich fand das und die Fahrt im Feuerwehrwagen sehr spannend, meine damaligen Pflegeeltern nicht. In Beaverton machte ich als Teenager meine ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, stellte bald fest, dass es viel Spaß machte, im Dunkeln Mädels zu küssen, die genauso wenige Kenntnisse diesbezüglich besaßen, wie ich. Es waren immer dieselben Straßen, Winkel und Gassen,
später kamen Kneipen dazu und meine erste wirkliche Freundin verführte ich nach allen Regeln der Kunst, die ich überhaupt nicht beherrschte, in Ermangelung eines eigenen Zimmers, in meinem ersten Auto. Es war zu wenig Platz, wir hatten beide Angst entdeckt zu werden und etwas falsch zu machen. Die Erinnerungen an mein erstes Mal, versuchte ich seit dem, in einem hintersten Winkel meines Gehirns zu verstecken. Später trennten mich einige Jahre des Studiums von meinem Zuhause, aber wirklich verlassen habe ich Beaverton nie.
Mein Leben fand in diesem Ort statt und als ich durch die samstagnachmittags bedingt leeren Straßen zum Supermarkt fuhr, die Sonne durch die geöffneten Fenster schien
und Pink etwas zu laut ihr „Bad Influence“ vom Besten gab, fühlte ich mich einfach nur gut.
Warum ich mich später so genau an diese Einzelheiten erinnerte, konnte ich nicht sagen. Vielleicht, weil nach diesem Tag eine andere Zeit für mich begann, vielleicht, weil ich dieses Gefühl der Sicherheit und des Wohlwollens so nie wieder empfunden habe oder, weil ich mir diese Zeit der Unbeschwertheit unzählige Male zurückgewünscht habe.
Gemächlich fuhr ich durch die Straßen, genoss die Fahrt und vergaß langsam den etwas hinderlichen Beginn des Tages. Nichts bewog mich dazu, auf schnellstem Weg nach Hause zu fahren, alle Pläne über Bord zu
werfen und mich in den sicheren Mauern meiner Wohnung einzuigeln. Ich wollte nach dem Einkauf einige Burger braten, um mir dann einen gemütlichen und ruhigen Abend zu machen, mit ein paar Freunden oder auch allein. Demzufolge arbeitete ich im Supermarkt akribisch meine Einkaufsliste für den Samstag und den Rest der Woche ab. In der Woche kam ich selten zum Einkaufen, da ich meinen Job relativ ernst nahm. Der Unterricht, die Vor-und Nachbereitungen erforderten Zeit, genau wie der ordentliche Zustand der großen Sporthalle, für den ich allein verantwortlich war.
Am Nachmittag trainierte ich vier Mal pro Woche den Football-Nachwuchs Portlands und an meinem einzig freien Abend, immer
mittwochs, leistete ich mir einen gemütlichen Stammtisch mit alten und neuen Freunden. Es ist nicht so, dass nur Frauen am neusten Klatsch und Tratsch interessiert sind, auch Männer lieben es, sich über die aktuellen Beziehungskrisen, neue Automodelle und natürlich Football auszutauschen.
Mein Einkaufswagen wurde immer voller und immer mehr fiel mir ein, was noch fehlte. Als ich nach einer Ewigkeit endlich an der Kasse ankam, wunderte ich mich selbst über die Menge, sah das, was da über das Kassenband lief doch aus, wie der Einkauf eines Familienvaters. Schmunzelnd bezahlte ich den viel zu hohen Preis, beschloss wieder einmal, beim nächsten Einkauf bescheidener zu sein und bugsierte meine Beute zielsicher
zu meinem Auto.
Was dann passierte, kann ich im Nachhinein nicht mehr nachvollziehen. Da der Parkplatz des Supermarktes riesig groß und zudem auch fast leer war, machte ich mir nicht die Mühe, sonderlich aufmerksam auszuparken. Unvermittelt wurde ich jedoch durch einen ziemlich heftigen Knall gestoppt, Blech knirschte und dem Geräusch nach hatte auch ein Blinklicht dran glauben müssen. Im Rückspiegel tauchte ein rotes Auto auf, welches da vorher einfach nicht war und sogleich auch eine wild fuchtelnde junge Frau, deren Zornesfalten im Gesicht auch im Rückspiegel sehr gut zu erkennen waren. Was war passiert und woher kam dieses Fahrzeug? Ich bin doch nicht blind? War
womöglich ich Schuld? Nie im Leben war ich Schuld, analysierte ich kurz und knapp, während ich auf die Schnelle versuchte, mich auf die Wut der Fahrerin einzustellen. Mich nervte es genauso, denn inzwischen war ich mir sicher, nichts falsch gemacht zu haben. Verärgert stieg ich aus meinem Auto, stellte aus dem Augenwinkel fest, dass der Schaden an meinem Fahrzeug unerheblich war und nahm mit dem Rest meiner Sinne die Person zur Kenntnis, welche mit in die Seiten gestemmten Fäusten vor mir stand.
„Sind Sie blind, Sie Hornochse? Haben Sie Ihren Führerschein auf der Rolltreppe gemacht?“, pulverte sie sogleich los. Das konnte heiter werden, also beschloss ich zu kontern.
„Ich habe wenigstens einen Führerschein! Und ich versuche nicht, die Autos unschuldiger Mitbürger zu rammen.“
Schnaubend stand sie inzwischen dicht vor mir und ich ließ erst jetzt einen aufmerksamen Blick über mein Gegenüber gleiten. Ich kannte die Frau mit den längeren braunen Haaren nicht, die wohl etwa so alt und auch fast genauso gekleidet wie ich, mit Cargo-Hosen, einfachem Shirt und Sneakers, vor mir stand. Und trotzdem waren mir ihre Augen vertraut. Verstummt ließ ich mein Gedächtnis auf Hochtouren laufen, während sie noch immer mit unschönen Worten auf mich einredete. Irgendwann verstummte sie ebenfalls und mit grüblerischer Falte zwischen den Augenbrauen starrte nun auch
sie in mein Gesicht. War das wirklich …? Konnte es sein …?
„Amelie Baker? Bist du es, Amelie?“ Und zeitgleich kam aus ihrem Mund eine ähnliche Frage.
„Jim Rigby? Ich fasse es nicht! Du bist Jim Rigby, oder?“
© Fliegengitter 2013