Mein Freund ist schon lange tot. Oder weggezogen. Woher soll ich das wissen. Erinnerung und Wahrheit sind nun einmal keine Geschwister. Ich weiß bis heute nicht, was zwischen uns stand. Vielleicht ist das aber auch die falsche Sicht der Dinge. Die wenigen, die uns beide kannten, fragten sich zumeist, was uns verband.
„Vorwärts, Kameraden! Wir müssen zurück!“
Die anderen mögen es nicht, wenn ich sage, dass das Unfug ist. Aber sie waren auch nie ich oder mein toter oder unbekannt verzogener Freund.
Wir haben neulich von der Uni aus eine Exkursion gemacht. Oder war es ein Ausflug des Kirchenchors? Ein Wandertag? Oder hatte ich mich einfach nur verlaufen? Das spielt auch keine Rolle. Auf jeden Fall bin ich die steile Stiege hinaufgekraxelt, vorbei an schroffen
grauen Felsen, habe dabei schwer atmende übergewichtige Damen mit Softeis in der Hand überholt und wurde selbst von dürren braungebrannten Läufertypen, Männlein und Weiblein, mit den unvermeidlichen Schirmmützen, Sonnenbrillen und Markenshirts an den den Rand der Treppe gedrängt. Zu meinen müde werdenden Füßen dröhnte im Tal irgendein Fluss, Rhein, Neckar, Donau, Wolga, was weiß ich, und von der fernen Uferpromenade grüßten aufgespannte Sonnenschirme unter denen die klugen Untengebliebenen sich Kaffee und Kuchen gegen unverschämtes Entgelt unklugerweise kredenzen ließen. Aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, diesen Felsen zu besteigen. Wer A sagt, muss auch B sagen. Und C und D und E und wenn er bei Z angekommen ist, muss er auch wieder von vorne anfangen. Denn wer A sagt, muss auch B sagen...
Schließlich erreichte ich die Spitze des
Felsens, auf dem mein Ziel thronte. Burg Adlerhorst... Felsennest, Weißenstein, Schwarzberg, Hochfeste, Wolkenheim, Grimmingen, Trutzschatten... oder zumindest das, was die Zeit davon übriggelassen und neu dazugebaut hatte. Denn den Weg zu der Stelle, wo Graf Haudrauf früher die Zugbrücke vor der Nase seiner Feinde hochgezog und wo heute ein fest gemauerter Übergang jeder Touristenarmee Einlass gewährte, flankierten nun Holzhütten, die mir vom Weihnachtsmarkt noch sehr bekannt vorkamen und in denen man Würstchen, Pommes, Gyros, Cola, Bier und jenen unvermeidlichen Erinnerungsschnickachnack erwerben konnte, den es überall gibt. Austauschbare Motive, austauschbare Geschmäcker. Von der Burg selbst war nur eine Ruine übrig, aber sie gehörte nun einmal zu den Dingen, die man gesehen haben musste. Die Überreste des Bergfrieds sahen aus, als hätte irgendein fast mittelloser Antiburgaktivist
versucht ihn in die Luft zu sprengen, wäre jedoch an der Kunstfertigkeit der mittelalterlichen Baumeister und seinen eigenen begrenzten finanziellen Möglichkeiten gescheitert. Alle Türme waren verschwunden bis auf einen, der jedoch mit Sicherheit rekonstruiert war und auf dem sich die Menschen drängten. Ein Schild, das noch vor den Verkaufshütten stand, verkündete den Preis, der zu entrichten war, wenn man dieses Meisterwerk der menschlichen Vorstellungskraft besteigen wollte.
Vielleicht war es ja bloß, weil ich geizig bin, den Aufpreis nicht zahlen wollte, oder es waren die vielen quietschenden Kinder mitsamt ihren entnervten Müttern, die dozierenden älteren Herren, die ihre Umwelt beeindrucken wollten und dabei nichts als Unfug von sich gaben, ich konnte das beurteilen. Herrgott! Diese selbsternannten Fremdenführer kannten noch nicht einmal das Wort 'Höhenburg'!, oder
irgendetwas ganz anderes, aber auf einmal war ich es leid. Der ganze Rummel war so unwirklich und zugleich so real, dass ich mich irgendwo anders hin wünschte. Und da ich keine Lust verspürte, mich die knapp 200 Meter in den spöttisch unter mir dahinfließenden Fluss zu stürzen, blickte ich mich nach allen Seiten um. Ich entdeckte einen kleinen Trampelpfad, der um die Burg herumzuführen schien. Ein auf Schienbeinhöhe hängendes Kettchen und ein drohendes verrostetes Schildchen „Zutritt für Unbefugte verboten! Eltern haften für ihre Kinder!“ sollten allzu Neugierige abhalten, ihn zu betreten. In einem seltenen Anfall von Anarchismus kümmerte ich mich nicht um die Warnung, meine Eltern waren ja weit und breit nicht in Sicht, und betrat zutiefst nonkonformistisch den Trampelpfad. Kein Befugter hinderte mich daran. Auf meinem Marsch um die Burg kam mir der Abgrund nie
wirklich nah und ich hätte das ob meiner Höhenangst bestimmt gemerkt. Zu meiner Überraschung konnte ich feststellen, dass die Mauer samt Wehrgang im hinteren Teil der Ruine noch recht gut erhalten war.
'Hier konnte man, was von Außen kam, bestimmt gut abwehren', dachte ich mir.
„Vielleicht sollte das, was Innen liegt, auch nur gut beschützt werden“, erwiderte mein Freund.
Ich blickte mich um, doch außer mir war da niemand