der brief der kinder
Meine 12 jährige Tochter Lena kam neulich von der Schule nach Hause und schmiss ihre Schultasche in die Ecke. Das hatte erfahrungsgemäß nichts Gutes zu bedeuten.
Sie rannte wortlos nach oben und knallte die Tür zu ihrem Zimmer zu.
Nun hatte ich nach all den Jahren Erfahrung genug ab zu warten, biss sich die Wogen geglättet hatten, so zu sagen.
Eine Weile später kam sie wieder runter, stellte ihre Tasche ordentlich hin und kramte einen Briefumschlag heraus. Sie
gab ihn mir mit den Worten: „Hier, von der Schule“ in die Hand.
Bevor ich ihn öffnete, wollte ich von ihr wissen, um was es ging. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie irgendetwas angestellt hatte, weswegen man ihr einen Brief für mich mit gab.
„Es geht um Alina“, erklärte sie. „Alina?“, fragte ich. „Ist das nicht dieses türkische Mädchen? Aber wieso kriegst du einen Brief mit, wenn sie was angestellt hat? Oder habt ihr...“
Weiter kam ich nicht, weil sie mir ins Wort fiel.
„Alina hat nichts angestellt und ich auch nicht. Und sie ist keine Türkin. Niemand hat was angestellt, außer ein paar blöder
Eltern.“
Ich zog es vor, keine weiteren Nachfragen zu stellen und öffnete den Brief.
Es war eine Einladung zu einem außerplanmäßigem Elternabend. „auch das noch, ich hab ja nichts Besseres zu tun,“, sagte ich mehr zu mir selber, aber Lena wurde daraufhin schon wieder wütend. „Ach ja, was Wichtigeres?“, rief sie ziemlich erbost.
Beim Abendessen redeten wir dann im Kreis der Familie über die ganze Angelegenheit, wobei mir meine Tochter ein Bild zeigte, das Alina gezeichnet und es ihr geschenkt hatte. Ein typisches Kinderbild, das eine kleine Familie
zeigte, aber auch etwas, das auf keinem Kinderbild sein sollte. Zerstörte Häuser und Raketen, die über ihre Köpfe flogen. Ich sah jetzt auch keinen zwingenden Grund, weshalb Alina die Klasse verlassen sollte.
Bevor ich mich am nächsten Abend auf den Weg zur Schule machte, steckte mir meine Tochter einen Brief zu. „Der ist von uns Kindern. Lies ihn bitte am Schluss vor“, sagte sie. Ich versprach, dass ich das machen würde.
Die Rektorin begrüßte uns und kam auch gleich zur Sache. Ziemlich schnell bildeten sich zwei Lager, pro und anti Alina, beziehungsweise ihrer Mutter. Ulkiger weise saß die anti Alina
Fraktion rechts im Klassenzimmer und die eher toleranteren Eltern links. Ich sah mir das Ganze mittig von hinten an.
Der Wortführer der rechten Fraktion war der Besitzer des Schreibwarenladens am Marktplatz. Seine Argumente galten der Verschleierung der Mutter (Wer weiß, was die noch alles zu verbergen haben), über das Kopftuch des Mädchens (irgendwann werden unsere Mädchen auch so rumlaufen müssen), bis hin zu der Sorge, dass durch die Straßen marodierende Horden von Asylanten sein Geschäft leerräumen könnten.
Unterbrochen wurde seine flammende Rede immer wieder von Zwischenrufen der linken Fraktion. Besonders eine
Mutter, die ich nicht näher kannte, warf ihm immer wieder rechtes Gedankengut und Schüren von Ängsten vor.
Die Rektorin versuchte vergeblich zu schlichten und Sachlichkeit in die Diskussion zu bringen. Bevor wir noch dazu kamen, ab zu stimmen, ob die Schließung der Balkanroute richtig war, hatte sie die Schnauze voll und brach den Elternabend ohne Ergebnis ab.
Resigniert raufte sie sich die Haare und sagte: „Hat noch irgendwer etwas zu sagen, was bisher noch nicht herein gebrüllt wurde?“
Ich erhob mich und verkündete: „Ich hab hier einen Brief von denen, die es eigentlich betrifft und die zu dieser
Sache noch gar nicht gefragt wurden. Von unseren Kindern.“
Ich erhielt die Erlaubnis ihn vor zu lesen, was ich dann auch tat.
„Sehr geehrte Rektorin, Sehr geehrt Eltern.
Wir, die Kinder der Klasse 6a wollen nicht, dass uns Alina verlässt.
Ihre Mutter kam verschleiert, als sie sie abholte. Na und, was kann Alina dafür?
Sie kommt mit Kopftuch zum Unterricht. Na und? Andere tragen ein Halstuch, oder einen Schal. Sind sie die Nächsten, die dafür blöd angemacht werden?
Mit ihren wenigen Worten, die sie auf deutsch kann und vielen Bildern hat uns Alina von ihrem bisherigem Leben
erzählt. Von ihrer Heimat, dem Krieg und der Flucht.
Alina ist ein sehr tapferes Mädchen und wir wissen nicht, wer von uns das alles überstanden hätte.
Bitte nehmen sie uns Alina nicht weg.
Gezeichnet...“
Ich faltetet den Brief zusammen. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich hab noch nie so eine Stille in einem voll besetztem Klassenzimmer erlebt.
„Alle“, sagte ich. „Ausnahmslos alle Schüler und Schülerinnen der Klasse 6a haben diesen Brief unterschreiben.“
Dem Ladenbesitzer blieb der Mund offen stehen. „Ja, auch Ihre Tochter hat unterschrieben“, beantwortete ich seine
nicht gestellte Frage. Beschämt wandte er sich ab.
Ich ging durch die Reihen nach vorne zum Pult und übergab der Rektorin den Brief der Kinder.
Als ich nach Hause kam, erwartetet mich meine Tochter bereits ungeduldig. „Na...?“, wollte sie wissen. „Naja“, antwortetet ich. „Ihr werdet eine menge Arbeit haben dafür zu sorgen, dass Alina im Unterricht gut mitkommt.“ Freudig umarmte mich meine Tochter.
„Tja, es gibt nichts Gutes...“, sagte ich. „...außer man tut es“, ergänzte meine Tochter lächelnd.
es gibt nichts gutes, ausser man tut es.
Der Spruch passt nicht nur zu dieser Geschichte, sondern auch zu dem Spendenbuch, in dem diese Geschichte ebenfalls nach zu lesen ist.
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