Marktwirtschaftliche Erkenntnisse anhand von Maikäfern
In den Jahren 1947 - 1950, von denen ich hier erzähle, besaßen die meisten Kinder in der BRD nur wenig Spielzeug. Die lebensnotwendige Beschaffung von Nahrung und Kleidung hatte eindeutig Vorrang vor diesem Luxus. So begnügten wir uns mit einfachen selbst gebastelten Angelgeräten und Bällen, ohne den Mangel als Entbehrung zu empfinden.
Im Monat Mai brauchten wir jedoch gar kein Spielzeug, weil wir allein darauf konzentriert waren, möglichst viele Maikäfer in Pappkartons mit kleinen
Luftlöchern und einigen Blättern als Futter für unsere Lieblinge zu sammeln. Wer die meisten Maikäfer besaß, war für kurze Zeit unter den Spielkameraden angesehen.
Es ging uns jedoch nicht nur um die Quantität der Maikäfer. Der wurde mit besonderer Hochachtung bedacht, der die richtigen Maikäfer besaß. Deren Gebrauchswert bestand also darin, ihrem Besitzer Ansehen in der Gruppe zu verschaffen. Wir bemaßen den Wert der Maikäfer nach ihren Kopfschildchen in schwarzer, weißer oder rötlicher Farbe. Die mit der schwarzen Kopfbedeckung wurden als Schornsteinfeger, die mit der weißen als Müller und die mit der
rötlichen als Könige bezeichnet. Von den schwarzbekopften Schornsteinfegern gab es jede Menge, die Müller waren seltener und die Könige eine Rarität. Wem es also nicht gelang, einen König einzufangen, der musste tauschen, also je nach Tageskurs zum Beispiel zehn Schornsteinfeger oder fünf Müller dafür hergeben. Natürlich stieg der Tauschwert der Könige, wenn gerade nur sehr wenige von ihnen vorhanden waren.
Einige Tage differierte der Tauschwert der Maikäfer jedoch nur wenig, solange wie wir versuchten, durch Steinwürfe in die Ahornbäume unserer Straße einige kleine Äste herunter zu holen, auf denen sich manchmal ein Maikäfer befand. In
diesen Tagen waren die unermüdlichsten und geschicktesten Werfer unter uns die Maikäfer-Fürsten.
Doch das änderte sich, als einer von uns eine unglaubliche Menge von Maikäfern in einem riesigen Karton anschleppte und seine Jagdgründe nicht verriet. Im flachen Münsterland gab es einige km von unserer Stadt entfernt eine kalkhaltige Anhöhe, auf der ein üppig beblätterter Eichenwald wuchs, ein Paradies für Maikäfer. Doch der Entdecker dieses Paradieses konnte sein Geheimnis nicht für sich behalten. Nachdem er es ausgeplaudert hatte, verfügten wir alle über solche Mengen von Maikäfern, dass der Tausch fast
reizlos wurde. Nur die Könige mit den roten Köpfchen behielten ihren Tauschwert. Aber wogegen sollte man sie tauschen? Jeder besaß genügend Schornsteinfeger und Müller. So kamen wir auf die Idee, Spielzeug gegen Könige einzutauschen. Das besaß ebenfalls einen hohen Tauschwert, weil es so selten war.
Meine Eltern hatten mir zu Weihnachten eine ansehnliche Laubsägearbeit geschenkt, einen Bauernhof mit unterschiedlichen Tieren, zu denen besonders stattliche Hähne und niedliche Küken gehörten. Deren Marktwert war sehr hoch und ich konnte sie gegen so viele Maikäferkönige
eintauschen, dass ich nun selbst der Maikäferkönig wurde.
Doch als meine Eltern davon erfuhren, die keine Ahnung von dem Gebrauchswert von Maikäfern hatten und meine Freude daran, König zu sein, nicht teilen konnten und wollten, wurde ich empfindlich bestraft, weil ich ihr Geschenk geringer achtete als Maikäfer. Der Schmerz darüber war so groß, dass im folgenden Jahr Maikäfer für mich ihren Gebrauchswert und damit auch ihren Tauschwert verloren hatten.
Ein Bekannter erzählte mir, dass er noch in den 50er Jahren ähnliche Erfahrungen mit Maikäfern gemacht hatte wie ich. Er war auch ein Maikäferfürst wie ich und
beging die Unvorsichtigkeit, seinen großen Karton im Flur vor dem elterlichen Schlafzimmer abzustellen. Seine Mutter wachte nachts von ungewöhnlichen Geräuschen auf, unter denen ein leises Gebrumm überwog. Sie dachte sofort an Einbrecher und durchsuchte ergebnislos die Wohnung, tief erschrocken über das bleibende Geräusch. Als sie die Maikäferkiste entdeckt hatte, stürzte die gutmütige Frau ins Schlafzimmer des Bekannten und da sich ihr Schrecken noch nicht gelegt hatte, verpasste sie diesem eine saftige Ohrfeige. Dieser war über die erlittene Ungerechtigkeit so erbost, dass er am frühen Morgen alle seine Maikäfer
in die Freiheit entließ. Mit einem Schlage waren ihr Gebrauchswert und Tauschwert dahin.
© Ekkehart Mittelberg, Mai 2016
Genre: Anekdote
Thema: Wertschätzung