Die Militärgeschichte an sich und insbesondere ihr Kern, die Operationsgeschichte, werden in Deutschland stets skeptisch betrachtet. Das damit der Geschichtsklitterung und sogar -fälschung Vorschub geleistet wird, bewiesen in den letzten Jahren die Arbeiten des Historikers Karl-Heinz Frieser, der die Panzerschlacht von Prochorowka, jahrzehntelang als größte Panzerschlacht der Welt verklärt, entzauberte und durch seine brillante Studie über die sogenannte Sichelschnittoperation, 65 Jahre nach den Ereignissen, nicht nur einen Meilenstein zur Operationsgeschichte des Zweiten Weltkrieges ablieferte, sondern auch einen nicht wegzudiskutierende Kritik an der Idee des Weltblitzkriegs präsentierte, die das Konzept Blitzkrieg auf nur von wenigen Generalen vertretene Operationsprinzipien schrumpfen ließ.
Nichtsdestotrotz gibt es einen militärhistorischen Begriff, der in Deutschland
fast jedem geläufig ist, unabhängig davon ob oder was für Fakten dem Einzelnen bekannt sind. So wie der Name Auschwitz alle, bis auf einige Ewiggestrige, zusammenfahren lässt, ist fast nur Stalingrad, die Stadt an der Wolga, die im Zuge der Entstalinisierung in Wolgograd umbenannt wurde, ähnlich fest im deutschen Bewusstsein den Zweiten Weltkrieg betreffend verankert. Warum ist das auch heute, über 70 Jahre nach der Schlacht, noch so?
Historischer Abriss:
Nach den immensen Verlusten im ersten Jahr des Überfalls auf die Sowjetunion war die deutsche Wehrmacht im Jahre 1942 unter Ausdünnung des Nord- und Mittelabschnitts nur im Süden der Ostfront in der Lage, eine Sommeroffensive zu starten. Die großen
Landgewinne der Operation Blau, die errungen wurden ohne der sich planmäßig nach Osten zurückziehenden Roten Armee strukturellen Schaden zuzufügen, veranlassten Hitler, gegen den Rat der militärischen Führung, die vorgesehenen Ziele, Sperrung der Wolga und Vorstoß in den Kaukasus, nicht nacheinander, sondern gleichzeitig zu befehlen. Die beteiligten Truppen wurden in zwei Heeresgruppen aufgeteilt. Außerdem war jetzt das erste Mal die Rede von der Besetzung der Stadt Stalingrad selbst.
Der 23. August 1942 markiert den erster Tag der Schlacht um Stalingrad. Indes stockte der Angriff der Divisionen der deutschen 6. Armee unter General Friedrich Paulus bald. Vorankommen ließ sich nur noch in Metern bemessen. Trotz hoher Verluste für beide Seiten konnte sich die sowjetische 62. Armee unter dem Befehl von General Wassili Tschuikow am Westufer der Wolga behaupten.
Die lange geplante Gegenoffensive der Roten Armee (Uranus) begann am 19./20. November 1942 nördlich und südlich der Stadt und durchbrach auf Anhieb die Fronten der schwachen mit dem „3. Reich“ verbündeten Italiener und Rumänen, denen man, wider besserem Wissen, den überlebenswichtigen Flankenschutz übertragen hatte. Am 23. November 1942 war die 6. Armee eingeschlossen. Wie befohlen igelten sich die abgeschnittenen Truppen ein, in der Hoffnung auf Versorgung durch die Luft und einen Entsatzstoß. Beides wurde versucht und durchgeführt, erreichte aber nie die Notwendige Intensität oder Stärke, blieb erfolglos. Ebenso wie der Feind setzte den deutschen und verbündeten Soldaten Hunger, Durst und die bald nicht mehr vorhandenen medizinische Versorgung zu. Im Dezember 1942 meldetet die 6. Armee erste Hungertote. Der am 12. Dezember 1942 mit nur einem verstärktem
Panzerkorps begonnene Entsatzstoß wurde von den Truppen der Roten Armee nach knapp einer Woche gut 54 km vor dem Kessel zum stehen gebracht. Diese Distanz aus eigener Kraft zu überwinden war die 6. Armee längst nicht mehr in der Lage.
Die sowjetische Kapitulationsaufforderung vom 10. Januar 1943 wurde abgelehnt. Die folgende Großoffensive spaltete die 6. Armee in einen Süd- und einen Nordkessel, die am 31 Januar bzw. am 2. Februar 1943 den Kampf einstellten. General Paulus weigerte sich bis zuletzt, die offizielle Kapitulation seiner Armee zu unterzeichnen. Dies überließ er untergeordneten Kommandeuren.
Zahlen:
Zahlen sind in Kriegen stets mit Vorsicht zu betrachten, auch weil die überlebenden
Beteiligten auf allen Seiten selten eine Interesse an der Korrektheit dieser Daten hatten. Sie geben sehr oft eher Tendenzen wieder. So wurde jahrzehntelang die Stärke der in Stalingrad untergegangenen 6. Armee auf 250.000 Mann beziffert. Heute weiß man, dass diese Zahl eindeutig zu hoch gegriffen ist und veranschlagt nur noch die Hälfte, also 125.000 Mann, für die Einheiten der 6. Armee, die Teile der 4. Panzerarmee und die verbündeten Truppen. In Gefangenschaft gingen im Januar/Februar 1943 um die 90.000 Mann von denen 5 - 6.000 wieder nach Deutschland zurückkehrten.
Die sowjetischen Verluste sind noch schwerer zu ermitteln, da hier eine gezielte Verschleierung betrieben wurde. Setzt man die in der Forschung oft genannte Anzahl von 1 Millionen Opfer der Schlacht um Stalingrad an eine Zahl, die sehr viel Schätzung beinhaltet -, so muss man die sowjetischen Verluste mit über 850.000 Menschen beziffern, wovon gut die
Hälfte zivile Opfer seien mögen. Diese Zahl ist jedoch mit noch größerer Vorsicht zu betrachten als die deutschen Verluste.
Warum Stalingrad?:
Stalingrad ist nicht die Wende des Zweiten Weltkriegs, auch wenn das zuweilen noch heute behauptet wird. Diese muss man mit dem Scheitern des deutschen Operationsplans gegen die Sowjetunion und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in das letzten Quartal des Jahres 1941 verorten. Stalingrad ist nicht die größte Niederlage der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Als diese gilt der weithin unbekannte Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront im Sommer 1944, auch wenn die Verlustzahlen hier zuletzt von 500.000 auf 250.000 Mann herunterkorrigiert wurden. Ebenso wenig ist die
Schlacht in der Normandie im öffentlichen Bewusstsein präsent, die zumeist auf den Tag der Landung (06. Juni.1944) reduziert wird, jedoch bis in den August tobte und auf deutscher Seite 380.000-440.000 und auf Seiten der Alliierten ungefähr 220.000 Opfer forderte, ohne die zivilen französischen Verluste! Nachdem gut drei Monate lang hier die wohl härtesten Kämpfe des Zweiten Weltkriegs tobten, war buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Alte Städte wie Caen oder Bayeux waren nun solche Trümmerwüsten, wie wir sie eigentlich nur mit einem Namen verbinden: Stalingrad.
Das dieser Name, einem Trauma gleich, so fest im deutschen Bewusstsein verankert ist, hat seinen Ursprung bereits im Krieg selbst. Auf nichts starrten die Volksgenossen derart gebannt, zunächst mit großer Freude ob des vermeintlichen Sieges, wie die Ostfront. Gerade im Bezug auf die Debatte der letzten Jahre über
die strategische Lustoffensive der Westalliierten ist es wichtig, den richtigen Schwerpunkt zu setzen. 70% der deutschen Verluste entstanden an der Ostfront. Die Ereignisse an der (damals noch) fernen Ostfront betrafen alle deutschen Familien. Allein in der Zeit vom Juni 1941 bis zum März 1942 betrugen die deutschen Verluste über 1,1 Millionen Mann, mehr als 1/3 der Aufmarschstärke der Wehrmacht für das Unternehmen Barbarossa! Auch wenn die Propaganda die einzelnen Entwicklungen schönen bzw. kaschieren konnte, so konnte sie doch nicht die Heftigkeit der Kämpfe an sich verheimlichen, ließ sich diese doch an den Todesanzeigen für die Gefallenen ablesen. So wurde den Menschen recht bald klar, dass der Feldzug im Osten eine ganz andere Dimension hatte als jene in Polen oder Frankreich. Da half es auch nicht, dass den Familien von Gefallenen häufig mitgeteilt wurde, ihr Angehöriger sei
durch einen Herz- oder Kopfschuss getötet worden, in der Hoffnung, dass der vorgebliche schnelle Tod die Trauer milderte.
Es gilt festzuhalten, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg hauptsächlich auf die Ostfront fokussiert waren, ja, es ist nicht zu weit gegriffen, zu behauptet, dass für viele der Krieg im Osten der Zweite Weltkrieg war.
Mit dem Scheitern des deutschen Blitzkriegskonzepts im Herbst 1941, d.h. mit der Unfähigkeit der Wehrmacht die Rote Armee in 6-8 Wochen entscheidend zu schlagen, hatte sich das Blatt zu Ungunsten des Deutschen Reichs gewendet. So ist es auch kein Zufall, dass der endgültige Befehl zur systematischen Ermordung der europäischen Juden aus dieser Zeit stammt. All das blieb in seinen Einzelheiten der deutschen Bevölkerung verborgen, auch wenn jeder bemerken musste, dass die Zeit der schnellen Siege vorüber war. Im Sommer 1942 schien sich das Kriegsglück
jedoch wieder der deutschen Seite zuzuwenden, sahen die Gewinne im Süden der Ostfront auf der Landkarte doch enorm aus. Hinzu kamen noch die Erfolge Rommels auf dem - in der Wahrnehmung Hitlers und von OKW und OKH - Nebenkriegsschauplatz Nordafrika, die für die deutsche Öffentlichkeit allerdings besonders herausgestellt wurden. Als die Stadt an der Wolga nun in den Fokus der militärischen Planer geriet, folgten ihnen die Propagandisten. Stalingrad war allgegenwärtig. Hitler persönlich legte sich mehrfach öffentlich fest. Am bekanntesten ist seine Rede im Löwenbräukeller vom 8. November 1942, in der er behauptete, die Stadt sei bereits, bis auf wenige Plätze, in deutscher Hand.
An dieser Stelle noch einmal auf einige entscheidende militärische Faktoren hingewiesen:
-) Die 6. Armee war bereits im September 1942 unterversorgt.
-) Auch das Einfliegen von 5 Sturmpionierbataillonen (deutsche Eliteinfanterie) hatte nicht zur Einnahme der Stadt geführt.
-) Das strategische Ziel die Sperrung der Wolga für den Schiffverkehr war längst erreicht, aber dennoch bestand Hitler auf der Einnahme der Stadt selbst.
-) Die verbündeten Armeen Italiener und Rumänen waren nach deutscher Einschätzung(sic!) nicht dazu in der Lage, die langen Flanken zu sichern, bzw. einem konzentrierten Stoß der Roten Armee zu widerstehen.
Doch all das spielte keine Rolle. Stalingrad war zu einem Prestigekampf der Diktatoren geworden und die deutsche Propaganda teilte das den Volksgenossen auch jeden Tag mit, ganz gleich wie groß die Diskrepanz zwischen der militärischen Wirklichkeit und dem Behaupteten war.
Als die Niederlage dann eintrat, die nicht zu verheimlichen war, weil man sich deutscherseits so weit aus dem Fenster gelehnt hatte, waren Enttäuschung und Bestürzung riesengroß. Ein enormer Vertrauensverlust der Bevölkerung in die politische Führung war die Folge, den vor allem die grundsätzlich unbeliebte NSdAP zu spüren bekam, während Hitler selbst von der Kritik (noch) ausgenommen wurde („Wenn das der Führer wüsste!“). Hinzu kam noch, dass nicht nur die militärische Führung, sondern auch die Bevölkerung die Rote Armee völlig unterschätzt hatten. Eine solche Operation erfolgreich zu Ende zu führen, hätte man dem Russen niemals zugetraut. Dieser Schock saß tief. Wenn die Sowjetunion jetzt in Planung und Ausführung von militärischen Operationen ein ernstzunehmender Gegner war, musste jedem klar sein, dass ein möglicher Sieg am seidenen Faden hing bestenfalls!
Wenn die Schlacht um Stalingrad auch nicht der tatsächliche Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs ist, so war es doch für die deutsche Öffentlichkeit der bemerkbare Wendepunkt. Nicht umsonst wurden z.B. die Mitglieder der „Weißen Rose“ auch durch die Ereignisse an der Wolga aufgerüttelt. Von da an ging es für jeden bemerkbar nur noch bergab. Tod und Leiden schlugen nun auf das Land zurück, dass im September 1939 den Krieg ausgelöst hatte. Stalingrad stand für viele am Anfang des persönlichen Erduldens. Bis dahin hatte man in relativer Ruhe gelebt. Nur West- und Norddeutschland waren bereits von heftigen Bombenangriffen getroffen worden.
Auch der gesellschaftliche Druck erhöhte sich. Die Verkündung des „totalen Kriegs“ durch Joseph Goebbels (Februar 1943), eine direkte Folge der Niederlage bei Stalingrad im Sinne einer geistigen Wehrhaftmachung, war nur
der erste Schritt. Nicht selten bekamen jetzt auch jenen die Repressalien des repressiven Systems zu spüren, die bisher von ihnen verschont geblieben waren. Infolgedessen erfolgte bei nicht wenigen eine Umdeutung des eigenen Lebensweges in der Zeit von 19331945, die weit bis in die Nachkriegszeit reichte. Viele Deutsche begannen sich selbst als Opfer zu begreifen, ganz gleich welche Rolle sie im „3. Reich“ tatsächlich gespielt hatten. Die Partei und die SS waren es gewesen und Hitler wurde zu einem unwiderstehlichen Ungetüm stilisiert, kein Wort mehr von „wenn das der Führer wüsste“. Aber auch kritische Stimme und ausgesprochene Gegner des nationalsozialistischen Regimes sahen sich bestätigt, verstärkten die Dämonisierung. Die Geschichtswissenschaft benötigte Jahrzehnte, um dies schiefe Bild zu korrigieren. Am Anfang dieses Wandels, ganz gleich ob er kollektiv oder individuell, offen und ehrlich, verlogen,
selbstkritisch, schönfärberisch oder nur vorgeblich („Unterm Adolf war nicht alles schlecht!“) vollzogen wurde, stand und steht die Schlacht um die Stadt an der Wolga. Stalingrad wurde damit in der öffentlichen Wahrnehmung der Umkehrpunkt des auf 12 Jahre begrenzten „1.000jährigen Reichs“, das bis heute mit den Schlagworten Machtergreifung, Kristallnacht, Kriegsbeginn, Auschwitz und Selbstmord im Bunker zusammengefasst wird. Und eben Stalingrad.
Anmerkungen:
Verlustzahlen sind (als Faustregel) so zu deuten, dass 1/3 auf Gefallene und Tote und 2/3 auf Verwundete und Vermisste entfallen.
OKH: Oberkommando des Heers
OKW: Oberkommando der Wehrmacht
Literatur:
Die Literatur zum Zweiten Weltkrieg an sich und insbesondere zur Schlacht von Stalingrad ist nahezu unüberschaubar, angefangen bei bei der zumeist apologetischen Erinnerungsliteratur. Ich möchte darum hier nur drei Titel nennen:
FÖRSTER,Jürgen; Zähe Legenden, Stalingrad, 23. August 1942 bis 2. Februar 1943; In: FÖRSTER, Stig; PÖHLMANN, Markus; WALTER, Dierk; Schlachten der Weltgeschichte, Von Salamis bis Sinai; München 2001, ND 2005; 325 337
- kurz und knapp
PIEKALKIEWICZ, Janus; Stalingrad, Anatomie einer Schlacht; München 1977, ND Etville am Rhein 1989
- obwohl bereits älter und darum nicht mehr auf dem neusten Stand der Forschung, immer noch eine der besten und exaktesten populärwissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema mit Quellentexten
BOOG, Horst; RAHN, Werner; STUMPF, Reinhard; WEGNER, Bernd; Die Welt im Krieg, Bd. II, Von El Alamein bis Stalingrad; Stuttgart 1990, ND Frankfurt am Main 1992; 997 1212
- TB-Ausgabe von „Das Deutsche Reich und der 2. Weltkrieg, Bd. 6“; die unverzichtbare Arbeit des militärhistorischen Forschungsamts zu diesem Thema