Kapitel 99 Befreiung
Träumer atmete auf, als die Tür des Turms hinter ihm ins Schloss fiel. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie drückend der Raum mittlerweile auf ihn gewirkt hatte, trotz der überall brennenden Lampen… und trotz der Höhe. Jetzt im Licht der Gärten schien das Gespräch mit seinem Herrn bereits wie eine ferne Erinnerung, ein böser Traum, der jeden Moment verblassen würde. Und doch war es eben kein Traum. Er sog den Duft der Gärten ein und versuchte, seine rasenden Gedanken zu ordnen, irgendwie doch noch einen Weg zu
finden, sich selbst von seinem irrsinnigen Plan abzubringen. Doch die Entscheidung war gefallen, als er die Antworten des roten Heiligen vernahm. Dieser Mann war ein falscher Führer. Oder zumindest, war er es geworden. Träumer wusste nicht zu sagen, wann es ihm das erste Mal aufgefallen war… Nicht bevor er sich ihm voll und ganz verschworen hatte jedenfalls. Nicht bevor das sterben begann. Das konnte nicht der wahre Plan des Herrn der Ordnung sein. Schon gar nicht die kleinliche Rache am Kaiser Cantons. Und doch konnte er ihn auch nicht daran hindern. Sein Herr war bei weitem Mächtiger als er, gesegnet vom Herrn
der Ordnung selbst. Wusste der Gott nicht, wen er sich da als obersten Diener auserwählt hatte? Oder war es ihm schlicht egal, solange sein Werkzeug am Ende seinen Zielen diente? Am Ende war es egal. Er wusste, was er zu tun hatte.
Mit eiligen Schritten verließ er den Innenhof und die Lichtdurchfluteten Gärten und tauchte abermals in das dunkle Gewirr aus Gängen ein, die den äußeren Palast bildeten. Diesmal jedoch entzündete er, wo immer er entlangkam Lichter. Gelöschte Fackeln flammten wieder auf, wenn er an ihnen vorbeilief und blendeten die Geweihten, die sich in den Schatten verbargen. Er wusste nicht einmal zu sagen, warum er es tat… aber
es erfüllte ihn mit einer stummen Genugtuung. Statt sich einen Weg zurück zum Tor des Palastes zu suchen, schlug er einen weg tiefer in die Eingeweide des Bauwerks ein. Eine große Treppe führte abwärts hinab in den Fels auf dem der Palast stand. Träumer folgte den Stufen abwärts, passierte Weinkeller und Lagerräume, die mit Fässern und Kisten überquollen. Es roch nach schimmligem Holz. Hier unten lagerte das Vermächtnis mehrere Generationen von Herrschern und manche der Kammern hier unten gingen mit Sicherheit noch auf die Zeit der freien Königreiche zurück. Früher einmal, in einem anderen leben, hätte er
sich auf die alten Urkunden gestürzt, die in langen Regalen in vergitterten Zellen lagerten. Doch das war vor seiner Weihung gewesen. Vor den Visionen… Und vor der Erkenntnis, dass er sich gegen seine eigenen Herrn stellen musste. Wenn nicht direkt, dann zumindest im Geheimen. Träumer machte sich allerdings keine Illusionen. Wenn er seinen Plan in die Tat umsetzte, würde der rote Heilige davon erfahren… aber er war auch der einzige, der überhaupt in der Lage wäre, den Zorn seines Herrn zu zügeln… und vielleicht wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Zumindest hatte er die Hoffnung darauf noch nicht ganz aufgegeben. Doch dafür musste er
ihm seinen Fehler aufzeigen.
Je tiefe er kam, desto grober wurden die Stufen, bis sie schließlich nur noch krude Absätze waren, die ein lange vergessener Handwerker aus dem bloßen Felsen geschlagen hatte. AM untersten Punkt der Treppe schließlich mündet die Treppe in einem kleinen Raum, der lediglich von einer Handvoll Kerzen erhellt wurde. Wasser lief die Wände hinab und bildete kleine Pfützen auf dem Boden. Es gab weder Möbel noch eine Verkleidung für die groben Steinwände.
Eine einzige Tür führte von hier aus weiter. Ein Holzrahmen, der mit eisernen Streben durchzogen war und einen
simplen Schacht versperrte. Die Verließe Erindals… oder zumindest jene, die einer der vergangenen freien Könige hatte anlegen lassen. Offiziell waren hier unten schon lange keine Gefangenen mehr festgehalten worden. Zumindest nicht seit Erindal unter kaiserlichem Recht stand und alle Straftäter damit dem Urteil des Kaisers unterlagen. Inoffiziell allerdings… wer wusste schon ob nicht einige arme Seelen für immer in diesen dunklen Katakomben verschwunden waren. Im Augenblick jedoch gab es hier unten nur einen einzigen Gefangenen…
Ein einzelner Geweihter hielt vor der Tür Wache und zuckte zusammen, als
Träumer erneut Kerzen und Fackeln heller aufleuchten ließ. Das Wesen das einstmals ein Mensch gewesen war, hob dieArme um sich vor der Helligkeit zu schützen und funkelte ihn dabei böse an. Die rötlichen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Der dazugehörige Schädel war nur noch zur Hälfte menschlich zu nennen. Dunkle Schuppen zogen sich den Hals hinauf und verschlagen einen Teil des Kiefers, aus dem spitze Zähne sprossen. Zwei verkümmerte Flügel die mit dunklen Federn besetzt waren ragten aus seinem Rücken. Eine schaurige Wache.
,, Was wollt ihr ?“ Das Wesen zischte wütend und schlug mit den Schwingen,
wie um die Kerzen zu löschen. Nicht, das Träumer das zugelassen hätte… Er gab keine Antwort, sondern wartete regungslos und mit gefalteten Händen, bis der Geweihte sich wieder beruhigte.
,, Ich möchte die Kerker besuchen.“ , erklärte er kühl, während sein Gegenüber die schwingen um sich faltete. Ein dunkler Umhang, der zumindest einen Teil seines verzerrten Wesens verbarg. Die Strafe seines Herrn für die Unwürdigen, die trotzdem nach einer Macht griffen, war hart. Immerhin schien der Mann sich einen Teil seiner selbst bewahrt zu haben.
,, Der Herr hat verfügt, das nur er alleine den Gefangenen besuchen darf.
Warum ist er nicht mit euch gekommen?“
,, Ich bin seine Stimme.“, erwiderte Träumer und gab sich nicht einmal Mühe, den warnenden Unterton in seiner Stimme zu verbergen. ,, Und ich bin euch auch keine Rechenschaft schuldig. Tretet bei Seite.“
Einen Moment war er fest davon überzeugt, dass der Geweihte sich wiedersetzen würde. Egal, wie töricht das wäre. Ein einfacher Geweihter war so weit von seiner Macht entfernt, wie er davon, auf einer Stufe mit dem roten Heiligen zu stehen. Träumer wusste später nicht zu sagen, wie lange sie sich später Auge in Auge gegenüberstanden.
Schatten sammelten sich um seine Gestalt schlichen um seine Füße wie streunende Katzen und wanderten die Wände der kleinen Höhle hinauf. Er könnte spüren, wie das Blut durch das dunkle Mal an seiner Hand pulsierte. Dann endlich wich der Dämon vor ihm zurück und senkte respektvoll den Kopf.
,, Wie ihr wünscht.“ , mit diesen Worten trat die Kreatur bei Seite und gab damit den Weg in die Verließe frei. Träumer schenkte ihr keine Beachtung mehr. Es hätte keinen Sinn, den anderen erklären zu wollen, dass ihr Meister sich vom Weg ihres Gottes entfernt hatte, das wusste er. Vielleicht würden ihm einige wenige zuhören. Doch nicht jene, die
ihre Menschlichkeit geopfert hatten um die Macht zu erhalten, nach der sie strebten. Ihnen ging es nicht darum, der Welt eine neue und prosperierende Ordnung zu bringen. Nur um die Macht ihren eigenen Willen durchzusetzen. Am Ende waren sie damit nicht anders, als der rote Heilige. Und vielleicht war das der einzige Grund, aus dem er sie akzeptierte, anstatt diese Erbarmungswürdigen Kreaturen zu vernichten. Und wenn das der Wahrheit entsprach, dachte Träumer, dann hatte er keine Chance, keine Verbündeten… Er stand alleine mit dem Wissen, das sie ihren Weg verloren hatten. Und er war damit auch der einzige, der sie vielleicht
wieder dorthin zurückführen konnte. Es war eine bittere Erkenntnis.
,, Ich danke euch für eure Dienste.“ , murmelte er, während er an dem Wächter vorbeitrat und die Hand hob. ,, Sie werden nicht mehr gebraucht.“ Der Geweihte kam nicht einmal mehr dazu, zu schreien, als der Zauber den Segen von ihm nahm. Asche rieselte dort herab, wo er eben noch gestanden hatte. Das war alles, was von der Gestalt des Dämons geblieben war. Das… und der leblose menschliche Körper, der langsam inmitten der Aschewolke zu Boden sank. Träumer bezweifelte, dass er noch am Leben war. Der Schock der Weihung war schon schrecklich… den Segen jedoch
wieder zurück zu ziehen kam bei jemand, der sich bereits soweit verändert hatte einem Todesurteil gleich.
Die Tür zu den Verließen ließ sich nur schwer öffnen. Das Metall der Scharniere war verrostet und kleine Brocken davon regneten zu Boden, als sie schließlich Stück für Stück aufschwang. Dahinter lag der Weg im Dunkeln. Doch Träumer hatte nicht vor, weit in die Dunkelheit hinein zu gehen.
Ein dutzend rostige Zellentüren waren entlang eines niedrigen Gangs in den Fels eingelassen. Nur eine davon war geschlossen, öffnete sich jedoch unter Träumers Berührung und einem schwachen Zauber sofort. Das Gitter
schwang in einen genauso dunklen Raum hinein auf. Hatte es draußen auf dem Gang zumindest noch das Licht gegeben, das von den Kerzen aus dem Vorraum hereinfiel, so war es hier endgültig stockfinster. Es gab nicht einmal Kerzen oder Fackeln, die man hätte entzünden können. Träumer erschuf eine kleine Flamme in seiner Hand, die kaum Licht abgab. Nicht, weil ihm die Dunkelheit unbedingt behagte. Aber der Gefangene, der so lange Zeit im Dunkeln verbracht hatte, würde ihm wohl dafür danken, nicht geblendet zu werden. Bis auf das Stroh, das unter seinen Füßen knisterte, war die Zelle genauso karg, wie der Gang und der
Vorraum.
Eine einzelne Gestalt erhob sich langsam an der Rückwand der Zelle und blinzelte ins schwache Licht.
Zyle Carmine wirkte erschöpft und Träumer war sich einen Moment nicht einmal sicher, wie der Mann sich überhaupt noch auf den Beinen hielt, so mager wie er war. Dann wiederum… der Gejarn vor ihm war auch kein gewöhnlicher Sterblicher, nicht? Frische und alte Wunden hatten ihre Spuren hinterlassen und blitzten als rote Flecken im Licht der Flammen auf. Nach wie vor heilten die Verletzungen schneller, als er das je für möglich gehalten hätte… doch nach Tagen der
Folter schien selbst die uralte Magie, die Zyle am Leben erhielt langsam an ihre Grenzen zu stoßen. Vielleicht hätte er noch ein paar Tage überstanden… Was erhoffte sich sein Herr davon, den Mann weiter gefangen zu halten? Vielleicht wollte er die Antwort gar nicht wissen. Nur das es hier ein Ende haben würde.
,, Was wollt ihr ?“ Der Gejarn schien ihn nicht zu erkennen, während er schützend die Hände hob und gegen das Feuer blinzelte. ,, Seit ihr gekommen um mich weiter zu foltern ? Ich habe euch bereits gesagt, dass ihr von mir keine Antworten bekommen werdet, selbst wenn ich welche hätte. Oder wollt ihr nur herausfinden, wie lange es dauert, bis
dieser Körper versagt?“ Seine Stimme zitterte, doch mehr vor Schwäche denn vor Angst. Zyle Carmine schien trotz seines Zustands kühl und beherrscht oder vielleicht wollte er zumindest so wirken. Dem roten Heiligen gegenüber noch schwäche zu zeigen war am Ende ohnehin so sinnlos, wie Gnade von einem Steinschlag zu erwarten…
,, Nichts davon.“ Träumer ließ die Flamme von selbst zur Decke der kleinen Zelle steigen, so dass sie den Gefangenen nicht länger direkt blendete. ,, Ich bin nicht hier um Leute zu foltern. Das ist weder meine Aufgabe, noch mein Wunsch. Die Wache ist Tod und der Palast weitläufig genug, das ihr eine
Chance haben solltet. Ich will das ihr geht…“
Er trat bei Seite und nickte in Richtung der offen stehenden Zellentür. Einen Moment lang schien Zyle unsicher, ob er sich auf ihn stürzen oder tatsächlich gehen sollte. Erneut blinzelte er und schien ihn erst jetzt wirklich zu erkennen.
,, Ihr seid nicht… Ihr seid Träumer, oder? Naria hat von euch erzählt…“
Noch jemand, den er enttäuscht hatte. ,, Lebt sie noch ?“ , fragte er trotzdem.
,, Ich weiß es nicht.“ , erwiderte Zyle und sha zu Boden.. ,, Als ich sie das letzte Mal gesehen habe zumindest schon. Aber was nach meiner… Wys ist
tot, oder? Niemand hat mir irgendetwas gesagt.“
Diesmal war es an Träumer wegzusehen. ,, Ich fürchte ja. Aber wenn ihr sein Schicksal nicht teilen wollt, müsst ihr jetzt gehen. Verschwindet, bevor jemand merkt, was ich getan habe…“
Immer noch schien Zyle unsicher, ob er ihm trauen sollte. ,, Ich schätze, wenn ihr mich bloß hinterrücks töten wolltet, wäre das schon geschehen. Und auch wenn ich nicht verstehe, warum ihr das tut… warum kommt ihr nicht mit?“
Träumer schüttelte den Kopf. Er verstand es nicht, dachte er. Nach allem, was er hier durchgemacht hatte verstand er es immer noch nicht. Am Ende
konnten sie nicht gewinnen. Und Träumer hatte geschworen, dem Herrn der Ordnung zu dienen. Mochte ihr Anführer korrumpiert sein, es änderte nichts an ihrem Auftrag. Selbst wenn er bereit wäre, diesen Eid zu brechen, was sollte es bringen? Man konnte seinen Herrn nicht bezwingen.
,, Nein…“ Erneut schüttelte er den Kopf. ,, Mein Platz ist hier. Man wird mich für meine Taten vermutlich töten, aber ich glaube nach wie vor an unsere Sache. Aber nicht, das wir dafür wehrlose Gefangene Foltern müssen. Und ihr solltet a darüber nachdenken aufzugeben. Der rote Heilige wird gewinnen, versteht ihr das nicht? Aber
solange ich hier bin kann ich zumindest noch versuchen, seinen Zorn zu zügeln. Ihr solltet das Gleiche tun, wenn ihr klug seid… Kehrt zu euren Leuten zurück. Und überzeugt sie sich zu ergeben. “
,, Und sei es nur, weil ich euch mein Leben schulde… ich will ihnen zumindest eure Worte überbringen. Und… Danke…“ Zyle trat in den niedrigen Eingang der Zelle und sah noch einmal zu ihm zurück.
,, Dankt mir nicht. Betet lieber, das eure Freunde die Wahrheit erkennen und sich unterordnen. Das ist der einzige Weg, weiteres Leid zu verhindern. Der rote Heilige wird keine Gnade zeigen… das
weiß ich jetzt.“
Einen letztes Mal nickte Zyle ihm zu… dann verschwand er endlich auf den Gang und ließ Träumer alleine zurück im Halbdunkeln. Mit einem Gedanken löschte er die Flamme über sich und setzte sich auf den Boden. Es würde nicht lange dauern, bis sein Verrat erkannt wurde. Und dann… dann würde er sterben.