Ich habe einen Freund, und dieser Freund hat Angst. Vielen fällt das schwer zu begreifen, schließlich hat jeder von uns ab und zu Angst. Damit meine ich noch nicht einmal die Angst vor dem Tod, denn so überwältigend diese auch seien mag, so ist es doch unmöglich, sie richtig zu fassen, geschweige denn in Worte zu kleiden. Deshalb ignorieren ihn viele einfach. Manche stilisieren ihn zu einem spirituellen Erlebnis hoch. Als ob das etwas an seinem endgültigen Schiedsspruch ändern würde. Allerdings ist noch niemand wiedergekommen, oder die, die es sind, halten vorsorglich den Mund und so muss man glauben.
Zumeist sind es jedoch ganz andere Ängste, die uns plagen. Einfache Ängste mit immenser Wirkung. Der Eine hat Angst im Dunkeln. Die Frau von Nebenan hat vielleicht Angst vor
Spinnen und je kleiner sie sind, desto mehr Angst hat sie. Dann gibt es Menschen mit Höhenangst.
"Da kriegst Du mich nicht hinauf!"
Ein wenig gehöre ich auch dazu, obwohl es keine eigentliche Höhenangst ist, die mich plagt. Ich steige schon auf jeden Turm und habe Spaß an der Aussicht. Aber es bereitet mir eben auch Freude, wenn ich wieder unten angekommen bin, den festen Boden unser geliebten Mutter Erde unter meinen Füßen spüre. Als Kind hatte ich Angst vor unserem Keller.
Ging es dir nicht ähnlich?
Aber an dem war nun nichts, was einen hätte fürchten lassen können. Keine Leiche war dort gefunden worden und erhängt hatte sich auch niemand. Aber der Geruch, dieser Geruch! Nach altem Holz und alten Steinen! Man sollte
meinen, dass die nach nichts riechen, aber so ist es nicht. Der Geruch war so stark, dass er mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Jedes Mal. Und hinzu kam noch, dass es dunkel war.
So oder so ähnlich sehen wohl all unsere Erinnerungen an die Angst oder Erfahrungen mit der Angst aus. Es gibt wohl niemanden, der das verleugnen könnte und denen, die das tun, braucht man nicht zu glauben. Aber bei meinem Freund ist das anders.
Dieser Freund hat Angst vor Menschen. Vor vielen Menschen auf einem Fleck und nicht vor dem Menschen an sich. Wenigstens sagt mein Freund das. Ich bin mir nicht immer so sicher, ob es das alleine ist. Denn obwohl wir Freunde sind, verspüre ich bei meinem Gegenüber manchmal immer noch eine Angst vor mir. Mein Freund würde das leugnen, aber das ist nur Höflichkeit.
Auf jeden Fall ist es keine eingebildete Angst, sondern klinisch nachgewiesen, mit Brief und Krankenschein, was nicht bedeutet, dass andere Menschen es besser verstehen. Das ist aber auch nicht wichtig. Denn mit Leuten die Nichts verstehen, sollte man sich besser nicht abgeben.
Soll ich mich mit dir abgeben?
Diese Angst schränkt meinen Freund sehr ein. Schon das einfache auf-die-Straße-gehen wird so zu einem schwer zu meisternden Abenteuer und damit meine ich kein gutes Abenteuer wie in den Büchern deiner Jugend. Die simpelsten Dinge kann so ein Mensch nur mit äußerster Anstrengung bewältigen. Dinge die für uns normal sind, wie Einkaufen oder sich in ein Restaurant zu setzen. Anfangs war das auch für mich schwer zu begreifen, aber ich habe es, irgendwann, verstanden. Wenigstens glaube ich
das. So ganz sicher bin ich mir da nicht, wie gesagt.
Nun mag ich diesen Freund sehr gerne. Es ist sozusagen einer meiner besten Freunde und manchmal wird dies Gefühl auch erwidert. Deshalb unternehmen wir beide auch einiges zusammen. Ich helfe meinem Freund wo ich kann und eigentlich ist das gar nicht schwer. So kam dann die Weihnachtszeit …
Ich hab geschwindelt. Dieser Freund ist mein bester Freund.
Wir haben uns immer wieder über die Geschenke, die wir geben wollten, unterhalten. Mein Freund erwähnte eine bestimmte Sache und schaute mich dann ein wenig schräg an.
„Kein Problem, Chef“, sagte ich, „so etwas gibt es auf dem Weihnachtsmarkt.“ Ich grinste. Das war blöde und ziemlich unpassend.
„Na, grandios, was für eine Erkenntnis“,
begann mein Freund. „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wo ich es her bekomme. Verdammt, bist Du nur gekommen um wieder Rum-zu-Klugscheißern, oder was?“
Ich tat so, als würde ich ein dummes Lied pfeifen und versuchte so die Lage zu retten.
„Sieht so aus, was? Hach, ich bin ja so klug!“
„Na, ist ja ganz dolle! Wenn Du wieder gelandet bist, dann wollte ich Dich fragen, ob Du mit mir auf den Weihnachtsmarkt gehst?“
Ich schaute meinen Freund ganz groß an. Worte brachte ich nicht heraus.
„Na, was denkst Du? Soll ich etwa alleine gehen?“
„Nein, nein“, begann ich, immer noch einigermaßen verwirrt, „ich würde Dich schon begleiten wenn du möchtest!“
Das vereinbarte Datum kam. Wir hatten lange überlegt, welcher Tag wohl der mit den wenigsten Besuchern wäre. Wir einigten uns auf
Dienstag. Eine wirkliche Begründung hatten wir dafür nicht. Ich holte meinen Freund ab, dann gingen wir zur Haltestelle und fuhren mit der Straßenbahn in die Stadt. Wir stiegen ziemlich früh aus, um nicht sofort in den größten Trubel zu kommen.
Menschen!
Noch war mein Freund ziemlich entspannt, wenigstens so weit, wie ich es angesichts der Situation erwarten konnte. Nun führt der Weihnachtsmarkt in unserer Stadt durch Straßen und Gassen, die so schon ziemlich schmal sind, auch ohne Weihnachtsmarktgedöns. Wenn sich dort dann noch Holzhütten und sonstige Stände breit machen, so wird der wenige Platz noch weniger. Es können nicht viele Personen nebeneinander gehen. Mein Freund wich aber nicht von meiner Seite. Ich versuchte die Situation durch schwatzen zu überspielen, aber bei dem Blödsinn, den ich da geredet habe, kann ich die Sache nicht besser gemacht haben.
Ab einem bestimmten Punkt merkte ich, wie mein Freund sich versteifte. Der ganze Körper war erstarrt und ich kann von mir behaupten, einmal einen Menschen mit absolut geraden Wirbelsäule gesehen zu haben. Uns wurde so manch böser Blick zugeworfen, weil wir mehr als die halbe Straße einnahmen. Aber das kümmerte uns nicht. Denn erstens kannten die da das Problem nicht und selbst wenn, hätte es wohl kaum jemand verstehen wollen.
Die Angst erreichte dann ihren Höhepunkt. Mein Freund ergriff meinen Arm und hielt ihn ganz fest. Ich gab mich der Illusion hin, dass das nicht allein das Gefühl der Angst bewirkt hätte. Wir erreichten den Stand, den wir zuvor als Ziel ausgemacht hatten. Dort gab es, was wir suchten. Mein Freund zeigte es mir.
„Na, was denkst du?“
Ich musste schmunzeln.
„Wenn ich an die Person denke, die das bekommen soll...“
„Gut, was?“
„Na ja, tja, auf jeden Fall ist das schon was ganz Besonderes. So etwas kriegt man nicht alle Tage.“
Nach dem Kauf gingen wir auf demselben Weg zurück zur Haltestelle. Erst dort ließ mein Freund meinen Arm los. Wir verabschiedeten uns, denn meine Straßenbahn fuhr in eine andere Richtung