Nils
Elfi kennt den Ausweg nicht. Ich schon. Die Lösung ist so einfach wie die BÜGELFALTE in Elfis Anzughose gerade ist: Nils kann bei mir schlafen. Ich sehe da kein Problem. Meinen Sohn habe ich ganz lässig großgekriegt. Einfach so, zwischen Erdbeeren EINKOCHEN und KEILRIEMEN wechseln. Mein Junge ist inzwischen erwachsen und auch nicht völlig plemplem. Also kein Risiko.
Sie sieht mich überrascht an.
„Das würdest du machen?“
„Ja, ist er denn so ein Wildfang, dass du Bedenken hast?“
Sie wiegt abwägend ihren Kopf hin und her. „Er ist eher ängstlich.“
Ich winke ab. Es wird schon schiefgehen.
Gesagt, getan.
Es ist Samstag Spätnachmittag und Elfi steht mit schwerem Gepäck vor meiner Eingangstür.
Sie sieht mich missmutig an.
„Es ist nur eine Ausnahme, versprochen! Nur weil sich heute wirklich niemand findet – du weißt schon.“
Nein, eigentlich weiß ich nicht so genau.
Ich sehe auf die herausstechend große Tasche und versuche einen Witz.
„Ist Nils da drin?“ Eben weil ich den kleinen Fratz nirgendwo sehen kann.
Tatsächlich schafft sie ein Schmunzeln.
„Nein! Er sitzt noch im Auto. Ich wollte erstmal die Taschen reinbringen.“
Ich greife mir zwei Tüten und marschiere vor. Die Treppe hinauf in ein kleines und auch sehr feines Zimmer, das ich für meine Gäste nutze, wenn sich denn mal jemand zu mir verläuft. In den meisten Fällen ist es für den Sohn reserviert.
„Oh“, sagt sie knapp und „kann er nicht auch unten schlafen?“
„Unten ist nur die Couch, hier hat er viel mehr Ruhe. Das Zimmer geht nach hinten raus und außer etwas Vogelgezwitscher ist hier kein Laut zu hören.“
Sie nickt beklommen.
„Bist du dir sicher, dass ich ihn hier lassen
kann?“
Fast geht sie mir auf die Nerven!
„Wenn ich das nicht wollte, hätte ich dir das Angebot nicht gemacht. Und nun hol den Bengel rein und mach dir einen wundervollen Abend. Nils und ich, wir werden uns schon zusammenraufen. Mach dir nicht zu viele Sorgen.“
„Das sagst du so leicht.“
Nur schwer kann ich mein Stöhnen verbergen. Mit einer Handbewegung zeige ich ihr an, dass sie voran machen soll.
„Für wann bist du verabredet?“
„Wir treffen uns um 19:00 Uhr beim Italiener.“
Ein Blick auf die Uhr.
„Dann mach mal …“
Sie nimmt mich in den Arm.
Drückt mich an sich und streicht mir über den Rücken.
„Danke für alles. Ich mache es wieder gut – ganz bestimmt – bei GELEGENHEIT.“
„Mensch! Nu bring mir den Kleinen rein und mach dich vom Hof.“ Mir ist bewusst, dass ich manchmal etwas schroff bin, aber irgendwann muss auch Schluss sein!
Sie atmet tief durch und geht zum Auto. Langsam gehe ich ihr nach, oder eben dem kleinen Nils entgegen.
Der Knirps steigt aus. An Elfis Hand läuft er, mit konzentriert verkniffenem Mund. Es erinnert an einen Eiertanz. Wild schwankt der Oberkörper bei jedem Schritt. Die NEONGELBE Windel in seiner Hand schwingt wie zum Gruß ungelenk durch die
Luft. Bei mir angekommen sehe ich den Sabberfaden. Und als Nils bemerkt, dass ich die triefende Spucke sehe, wischt er sie ruckartig mit seiner Windel fort und stößt dabei einen unkoordinierten Laut aus.
Das wäre ERWÄHNENSWERT gewesen, schießt mir durch den Kopf.
Doch noch während sich in meinem Hirn die grauen Wolken bilden, scheucht Nils sie mit einem breiten, schiefzahnigen Lächeln weg.
Ich reiche ihm die Hand und nicke Elfi zu, dass alles in Ordnung ist und sie jetzt gefälligst verschwinden soll.
„Du hast ja meine Handynummer – falls irgendwas ist.“
„Die brauchen wir nicht, stimmt’s Nils? Muss ich irgendwas beachten?“
„Neim“, sagt er laut und kehlig und kichert dabei, „ich bin gansch normaaala Junge.“ Er verdreht die Augen und gluckst und kichert. Kurz denke ich, er erstickt daran, doch dann beruhigt er sich wieder.
Auch Elfi beteuert, dass er wie ein ganz normaler Junge ist. Nur eben auf seine Art.
Sie gibt ihrem Sohn noch ein Küsschen auf die Stirn und hält einen Moment seinen Kopf in ihren Händen.
„Versprich mir ganz artig zu sein.“
„Versprochn“, antwortet der Kleine und fängt wieder an zu kichern.
Ich streiche Nils sanft übers Haar. Gemeinsam winken wir dem abfahrenden Wagen nach. Die Windel flattert zackig hin und her. Ein neongelber Leuchtstreifen.
Ich nehme seine Hand und führe ihn ins Haus. Staunend sieht er sich um. Und ich wiederum staune nicht schlecht, wie weit er seinen Hals verdrehen kann. Kurz deute ich auf seinen Mundwinkel. Er versteht das sofort und wischt sich zackig das Fädchen weg.
Das macht er gut und ich nehme mir vor, Nils nicht zu unterschätzen.
„Liest du gern Geschichten?“
„Bin noch tschu klein.“ Er sieht mich mit runden Augen an. „Bin erscht fümpf. Mit sechs Jaaahren gehen Kinda zua Schuuule.“
„Du bist groß für dein Alter, stimmts?“
Nils zuckt mit den Achseln und schaukelt seinen Kopf. „Weisch nich.“
„Ich lese dir später vor. Ein paar schöne Bücher habe ich herausgesucht. Aber vorher
wollen wir gemeinsam zu Abend essen.“
„Au ja! Frittn!“
„Ich dachte eher an Brot mit Käse und Tomaten. Und Gurken habe ich auch da.“
„Frittn sin auch läcka.“
Ich schau ihn von der Seite an. Er hält sich am Küchenstuhl fest und grinst schief.
„Und Knäckebrot!“
„Frittn?“, fragt er noch einmal doch sehr vorsichtig.
„Wir decken jetzt den Tisch. Es wird sich schon was finden, was dir schmeckt. Möchtest du mir helfen?“
Ein kehliges und gut gelauntes „Ja“ kommt ganz spontan und schon steht er bei mir.
Ich öffne den Kühlschrank. Und dieser kleine Luchs freut sich sofort, „Pudding!“ Und schon
versenken sich seine Hände mitsamt der Windel im Kühlschrank. Mit Nachdruck ziehe ich ihn zurück.
Innerlich muss ich lachen, doch ich versuche ihn ernst anzusehen.
„Zuerst essen wir Brot und danach kommt der Nachtisch.“
Nils rollt mit den Augen, sagt aber keinen Mucks.
Nach und nach landet dann doch alles, was wir brauchen auf dem Küchentisch. Noch die Brettchen und zwei Gläser.
EHRFURCHTSVOLL schielt Nils auf sein Glas.
„Mama hat mia meine Schabetasche eingepackt.“
„Wie bitte?“
„Schaabetasche! Ich darf kein Glas.“
„Schnabeltasche?“
Nils verdreht die Augen und packt sich an den Kopf, „jaaa!“
„Gut, ich werde nachsehen. Möchtest du hier warten?“
Energisch schüttelt er seinen Kopf und greift fest nach meiner Hand.
„Dann komm halt mit.“
Langsam spüre ich die Ungeduld meinen Nacken hinaufkriechen. Ohne Nils wäre ich in einer Minute wieder in der Küche. Alles dauert so unendlich lange. Stattdessen hangelt er sich die Treppe hoch. Mit schwankendem Oberkörper. Die Windel zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt, damit er sich am Geländer festhalten kann.
Scheinbar wird von ihm jedes einzelne Stufenholz begutachtet und tatsächlich und mit einem mal hält er inne.
Mit seinem Finger zeigt er immer wieder auf eine Stelle.
„WURMSTICHIG!“ ruft er laut, aber auch sehr deutlich heraus.
„Das ist ein altes Haus, da kommt sowas schon mal vor“, bemerke ich und möchte ihn weiterziehen.
„Wurmstichig!“
„Ja, Nils, das ist nicht weiter schlimm. Wir wollen doch deine Schnabeltasse suchen.“
Einen Moment lang muss er sich das winzige Löchlein im Holz noch ansehen, dann können wir endlich weiter.
„Du?“
„Ja, Nils.“
Er schlägt sich mit der Windelhand an den Kopf.
„Was machst du denn da?“, rufe ich erschreckt.
„Ich scholl artig schein!“, schreit er.
„Aber du bist doch artig!“ Langsam haben wir das Ende der Treppe erreicht.
„Ich bin neun“, sagt er gedrückt.
„Ist nicht schlimm, ich lese dir trotzdem später eine Geschichte vor.“ Innerlich schüttele ich meinen Kopf.
Er drückt meine Hand an seine Wange.
„Du bisch lieb.“
„Dankeschön. Du bist auch ein artiger Junge.“
Ich sehe die Erleichterung in seinen Augen. Wir grinsen uns an. Schiefzahnig. Glucksend
und kichernd erreichen wir das Gästezimmer.
Eilig durchkramt Nils die Taschen. In der Großen ist seine Decke drin. Die hätte ich auch gehabt, denke ich mir.
In der nächsten Tasche findet er sein NOTIZBUCH. Ganz aufgeregt schaut er sich um. Dann tanzt er schwankend auf den Sekretär zu und …
… findet einen Stift.
Nachdem er aufwändig die richtige Seite in seinem Büchlein aufgeblättert hat, trägt er etwas ein. W u r m s t i c h i g steht dort nun in einer äußerst sauberen Handschrift.
„Wurmstichig“, sagt er stolz und zeigt mir seine Aufzeichnung. Daneben malt er einen runden Klecks. Das Wurmloch.
„Soso, hier hältst du also alles fest, hm?“
Nils lacht.
Und endlich finden wir die Schnabeltasse. Also den Weg wieder zurück, vorbei an dem Wurmloch.
Doch noch ist es nicht soweit. Zuerst werden alle Taschen durchsucht. Je länger es dauert, desto hektischer werden seine Finger.
„Wonach suchst du, Nils?“
„Eddy!“ Die Sachen fliegen quer durch das Zimmer. „Eddy!“
„Eddy?“
„Nein, Eddy!“ ganz außer sich wird er immer lauter. Dann blättert er in seinem Notizbuch. Wie wild, besessen, SÜCHTIG! Seine Finger fuchteln aufgeregt.
Da steht: T e d d y und daneben ist ein Teddybär aufgemalt. Und jetzt verstehe ich.
Gemeinsam schauen wir alles noch einmal durch und bringen dabei wieder etwas Ordnung hinein.
„Du schläfst immer mit deinem Teddy, stimmt’s?“
Nils zieht ein Gesicht und starrt ins Leere.
„Vielleicht habe ich eine Idee“, sage ich, während ich ihm beruhigend über den Rücken streiche. Ich gehe rüber zur Kommode und ziehe ein paar Handtücher hervor.
„Sieh mal her, welches gefällt dir am besten?“
„Dasch ischt kein Eddy.“ Enttäuscht sieht er weg.
„Nun komm mal her und such dir dein Lieblingshandtuch aus. Ich zeige dir etwas.“
Träge schwankt er zu mir rüber. Er entscheidet
sich für das Pinkfarbene.
„Du stehst auf knallige Farben, hm?“
Ich nehme das Handtuch und verzwirbel einige Gummis darin. Und dann …
Beginnen die Augen von Nils wieder zu leuchten. Sein Mund öffnet sich erstaunt. Voller Freude fängt er an zu kichern.
„Und? Hast du einen Namen parat?“
Kurz überlegt er.
Doch dann kommt ganz deutlich „MONCHIMONCHI“ über seine Lippen. Aufgeregt schreibt er es direkt hinter „Teddy“ und malt gekonnt eine Skizze dazu.
Nun lehnt Nils sich an mich. Langsam scheint sich seine Herzfrequenz zu normalisieren.
Die Nacht scheint gerettet!
Liebevoll wuschel ich ihm durch sein
flachsblondes Haar.
„Aber jetzt wird gegessen“, zwinkere ich ihm zu. Und so eiern wir die Treppe wieder hinunter. Mit neongelber Windel, der Schnabeltasse und natürlich Monchimonchi.