Kapitel 95 Sentines Opfer
Merl war immer noch nicht bei Bewusstsein. Sie hatten ihn am Rand des Lager im Schatten eines großen, mit Flechten bewachsenen Findlings untergebracht. Im Schatten des Felsens war es kühl und windgeschützt und sie hatten den jungen Magier auf einem einfachen Strohlager gebettet. Armell hatte sich bis jetzt nicht dazu überwinden können, seine Seite zu verlassen. Manchmal war sie nicht sicher, ob die Sorge um ihn oder die Erleichterung überwog. Er lebte, dachte sie. Das konnte sie spüren und sehen. Und doch schien er schlicht nicht
aufwachen zu wollen. Oder zu können.
Erik besah sich den jungen Magier skeptisch, tastete seinen Hals und seine Handgelenke ab und lauschte sogar einen Augenblick Merls regelmäßigen, entspannten Atemzügen.
Über ihnen hatte man ein einfaches Zeltdach aufgespannt, das zusätzlich Schatten spendete. Und Merl so hoffentlich davor schützte, schlicht zu verdursten. Er war jetzt seit fast einem Tag in diesem Zustand und auch wenn Erik ihm etwas Flüssigkeit hatte einflößen können… es würde wohl nicht reichen, ihn am Leben zu erhalten. Wenn er nicht aufwachte…
,, So weit ich das sagen kann fehlt ihm
gar nichts.“ , meinte der Arzt nachdenklich, als er sich schließlich auf einem Baumstumpf neben dem Strohlager sinken ließ. ,, Er atmet normal, sein Blut fließt wie es zu erwarten wäre, sein Herz schlägt und er scheint auch keine inneren Blutungen zu haben. Und immerhin hat unser wagemutiger Kaisersohn ihn bei seinem Sturz nicht auf den Kopf fallen lassen. Körperlich ist er völlig gesund. Gesünder als die meisten meiner Patienten in den letzten Stunden möchte ich hinzufügen.“
,, Das heißt, ihr könnt nichts für ihn tun ?“ Armell kannte die Antwort und doch musste sie fragen. Der Atle Mann zupfte
an seinem Backenbart.
,, Das habe ich nicht gesagt. Aber ja. Ich zumindest kann ihm nicht weiterhelfen. Wenn ihr ein paar Knochen richten oder jemanden eine Kugel rausschneiden wollt… bitte sehr. Aber mit Verletzungen der Seele sind mir die Hände gebunden. Wer weiß schon, was dieses lange schweben zwischen Leben und Tod mit ihm angestellt haben mag? Möglicherweise braucht er wirklich nur Ruhe. Aber wenn er nicht bald aufwacht… Was ihr braucht, Armell, wäre ein Magier. Und zwar einer, der sich mit diesen Dingen auskennt.“
,, Ihr meint mit der Seelenwanderung.“ Ihre Hoffnungen schwanden. ,, Erik, der
einzige, der sich außer Merl selbst damit auskennt, ist Zachary de Immerson. Merls Meister. Und der ist in Silberstedt. Das schafft er nicht.“ Wie sollten sie einen bewusstlosen Merl überhaupt dorthin bringen? Davon abgesehen, das er in seinem Zustand sterben würde, ehe sie die Berge erreichten. Und einen Boten zu Zachary zu schicken und abzuwarten… wie lange würde das dauern? Es war bereits Herbst und wenn der Winter kam wurden die Pässe über die Berge unpassierbar. Möglicherweise bis zum Frühjahr. Galren hatten zwei Wochen fast das Leben gekostet. Es war nicht ihre Art so leicht aufzugeben oder zu verzweifeln. Aber im Augenblick…
sah es nicht so aus, als gäbe es irgendeine Hilfe für Merl. Sie setzte sich neben seinen Kopf und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er sah so ruhig aus, so völlig entspannt. Wenn sie es nicht besser wüste, sie hätte wirklich glauben können, es wäre nur normaler schlaf.
,, Ich weiß es hilft vielleicht nichts, aber… wisst ihr Zachary hat ihn einmal in einem Brief erwähnt. Und…“ Eden, die den Arzt zusammen mit Cyrus begleitet hatte saß im Schneidersitz auf der anderen Seite des Strohlagers. ,, Er ist etwas Besonderes, oder ? Für euch ?“
Armell schluckte schwer. Sie wagte nicht in Worte zu fassen, wie sehr. Und nicht
nur für sie. Sie liebte ihn und wenn es nicht darum wäre, blieb Merl ein beeindruckender Magier. Sie kannte ihn jetzt seit ihrer Kindheit. Erst als den schüchternen Jungen, der sich immer hinter Zachary versteckte, dann als Freund und schließlich… mehr, so lange es gedauert hatte, bis sie sich das auch ehrlich sagen konnten. So unsicher er zu Zeiten sein konnte, sein Verstand war wach und schien immer auf jede Frage eine Antwort ersinnen zu können. Und dann war da noch sein Erbe… Entweder seine Mutter oder sein Vater waren ein überlebendes Mitglied des legendären alten Volkes gewesen und die gesamte Macht ihrer Magie floss auch durch
seine Adern. Vielleicht der Hauptgrund aus dem Zachary sich seiner angenommen hatte…
Und jetzt sollte sie ihn erneut verlieren? Armell weigerte sich einfach das zu akzeptieren.
,, Wenn er morgen nicht aufwacht muss ich ihn irgendwie nach Silberstedt bringen. Oder dafür sorgen, dass man Zachary hierher ruft.“ Sie musste es zumindest versuchen. Die Mittel dazu hatte sie. Freybreak war in den letzten Monaten aufgeblüht und jetzt wo ihr Onkel sich ebenfalls etwa zurückhielt… zum ersten Mal seit langem musste sie sich nicht mehr Fragen, wie die Stadt den nächsten Monat überstehen sollte.
Stattdessen könnten sie sich wirklich einmal damit beschäftigen, sie wieder aufzubauen… Nur was nützte ihr das alles jetzt?
,, Ich kann euch nicht davon abhalten, wie ?“ Erik kaute auf dem Stil seiner Pfeife herum. Er war noch nicht dazu gekommen, sie zu entzünden, auch wenn er sie schon den ganzen Morgen mit sich herum trug. Dafür gab es nach dem Desaster im Tal einfach zu viele Verletzte und zu wenige Heiler in der Armee die der Kaiser und die Zwerge zusammengeführt hatten.
Armell schüttelte den Kopf. ,, Ich weiß das es vermutlich nichts bringt. Aber…ich muss es zumindest versucht haben,
Erik. Egal was passiert, ob ich Erfolg habe oder nicht, ich würde es mir ewig vorhalten, wenn nicht. Und…“ Sie versuchte sich an einem zaghaften Lächeln. ,, Man hat mir auch mal gesagt, die Nebelküste erreichen zu wollen, sei Wahnsinn.“
,, In dem Fall… und wenn nicht zu viele Verwundete hier zurück bleiben, die meine Hilfe brauchen, würde ich euch zumindest anbieten, mit euch zu kommen. Ich kann Melr nicht wecken, aber ich kann ihn versorgen. Er hat uns allen in diesem verfluchten Tal geholfen.“
,, Nun ich hatte ohnehin vor, Zachary wieder einmal zu besuchen.“ , mischte
sich Eden ein. ,, Wenn ihr das wirklich wagen wollt… ich bin dabei. Und Cyrus wird dann wohl oder übel auch mitkommen müssen.“
,, Könnte schlimmer sein.“ , kommentierte der dunkle Wolf nur ihm war allerdings deutlich anzuhören, was er von der Idee hielt, im Herbst durch den Bergschnee zu stapfen. ,, Aber wenn du daran denkst, Elin mitzunehmen wird Galren sie auch begleiten wollen , das wird dem Kaiser nach allem was passiert ist nicht gefallen und wenn wir schon dabei sind, könnte auch deine alte Mannschaft aus Lasanta zu uns stoßen. Wir sollten uns Gedanken machen ob wir nicht gleich die ganze Armee mitnehmen
wollen.“
Eden lachte. Armell sah die ältere Gejarn nur ungläubig an.
,, Das würdet ihr wirklich tun ?“
,, Wie gesagt, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Und ich schulde Leuten ungern länger etwas. Aber vielleicht wacht er auch noch auf? Ihr solltet die Hoffnung nicht so schnell aufgeben.“ Mit diesen Worten erhob die Luchsin sich und auch Erik packte seine Sachen zusammen und stand auf.
,, Wenn sich sein Zustand irgendwie ändert, zögert nicht und ruft mich.“ , meinte er, bevor er auch schon verschwand. Es gab nach wie vor genug Verwundete um die er sich zu kümmern
hatte.
Armell blieb derweil alleine mit Merl zurück. Oder… nicht ganz alleine, dachte sie. Sie war selten völlig allein gewesen. Sentien hatte es sich auf ihrem angestammten Platz auf ihrer Schulter bequem gemacht und putzte ihr Gefieder. Nach wie vor hatte das Wesen die Gestalteiner Taube. Nur stand einer ihrer Flügel mittlerweile in einem seltsamen Winkel ab, wo er von einer Kugel gestreift worden war. Statt Blut schimmerte jedoch nur reines, weißes Licht unter dem Federkleid heraus. Erik hatte sogar dem Vogel einen schlichten Verband angelegt, doch das flüssige Licht schien einfach durch den Stoff
hindurch zu dringen, als wäre er gar nicht da.
Armell strich dem Wesen vorsichtig über den Kopf. Nein, sie war wirklich selten alleine gewesen. Nicht seit jenem Tag, an dem Zachary sie beide zusammengeführt hatte. Seltsam, welchen Einfluss dieser Mann letztlich auf ihr Leben gehabt hatte. Die Angst, die sie bei ihrer ersten Begegnung vor all diesen Jahren verspürt hatte, war mittlerweile Respekt gewichen. Auch Zachary lebte mit einem dunklen Erbe. Als Sohn des Mannes, der einst einen offenen Krieg gegen Kellvian geführt hatte. Und doch war es ihm irgendwie gelungen, sich vollkommen davon zu
lösen und zu einem der angesehensten Fürsten des Landes zu werden.
Sentine flatterte unruhig auf ihrer Schulter und riss sie damit aus den Gedanken. Bevor sie noch dazu kam, nachzusehen, was los war, segelte das Wesen bereits ungelenk zu dem nach wie vor bewusstlosen Magier hinab. Mit dem verletzten Flügel kam sie nicht weit, aber da war offenbar auch nicht Sinn der Sache…
,, Sentine ?“ Armell sah zu, wie das Vogel Wesen neben Merls Kopf landete und sie einen Moment traurig und wissend zugleich ansah. Zacharys Worte vor all diesen Jahren gingen ihr wieder durch den Kopf. Was hatte er gesagt?
Sentine wäre hier um ihr den Weg zu zeigen… sie zu führen. Und sie hatte Merl gefunden. War es das? Reichte das? Und konnte sie es auch verlangen? Armell wusste es nicht. Doch Sentine schien die Antwort dafür umso klarer. Verständnis spiegelte sich in den dunklen Augen wieder. Sie war viel mehr als ein simples Tier. Ein Geist heraufbeschworen mit einer Magie die dem alten Volk entstammte und was noch… das wusste wohl nur Zachary selbst. Und eines war Armell genau so klar wie ihr. Sie sahen sich grade zum letzten Mal…
,, Danke für alles.“ , murmelte sie leise. Licht strömte aus Sentines Wunde, bis
ihr ganzer Körper darin verschwand. Armell musste den Kopf abwenden, als das Strahlen schließlich auch Merls Kopf einhüllte. Einen Moment wurde es im Schatten des Felsens Taghell . Selbst mit abgewendetem Kopf blieb Armell schließlich nur, die Augen zu schließen um nicht geblendet zu werden. Und dann war auch schon alles vorbei. Lediglich einige schneeweiße Federn segelten dort zu Boden, wo eben noch Sentine gewesen war, fielen Merls Schultern und bedeckten diese. Armell wagte es einen Moment nicht sich zu rühren. Merls Zustand schien sich nicht verändert zu haben. Nach wie vor atmete er völlig normal, doch blieben seine Augen fest
geschlossen. Hatte, was immer Sentien getan hatte, am Ende nicht ausgereicht?
,,Nein.“ , flüsterte sie leise. Das durfte nicht sein. Das… Sie konnte nicht noch jemanden so sinnlos verlieren. Und dann regte der junge Magier sich. Murmelnd blinzelte er einen Moment ins Licht, dann schlug er endgültig die Augen auf… und sah sie direkt an.
,, Merl ?“ Erneut erlebte Armell einen furchtbaren Moment der Unsicherheit. In seinem Blick lag keinerlei wiederkennen, nur grenzenlose Verwirrung, während er sich langsam umsah. Er versuchte sich aufzusetzen, doch seine Arme wollte ihn nicht tragen und sie blieb er nach einem weiteren
Versuch schlicht völlig ausgelaugt liegen.
Die junge Adelige wendete sich ab um nach Erik zu rufen. Die Angst, das er sie schlicht vergessen haben könnte, das er alles vergessen haben mochte… dann jedoch spürte sie plötzlich seine Hand an ihrem Arm
,, Ich kenne dich ?“ Es war eine Frage. Armell zwang sich, sich erneut zu ihm umzudrehen, konnte sich jedoch nicht zu einer Antwort überwinden. Was sollte sie ihm sagen?
,, Ich kenne dich.“ Diesmal klangen die Worte sicherer. Merl versuchte sich erneut aufzurichten. ,, Armell… wie komme ich hierher ? Mein Kopf fühlt
sich an, als hätte mich jemand zu mehreren Krügen Zwergenbier überredet.“
Er wusste es noch, dachte sie und fragte sich gleichzeitig ob sie in ihrem Leben schon einmal so erleichtert gewesen war. Statt ihm zu antworten, zog sie den jungen Magier nur zu einem Kuss heran. Die Hände hatte sie dabei in seinen Kleidern vergraben als hätte sie Angst, ihn je wieder los zu lassen.
,, Ich erzähle dir alles.“ , sagte sie, als sie es schließlich schaffte, sich lange genug wieder von ihm zu lösen. ,, Keine Sorge… Aber wir sind in Sicherheit. Zumindest fürs erste…“
,, Das ist gut…“ Er sank bereits wieder
auf das Lager zurück und hatte offenbar Mühe, die Auge offen zu halten. ,, Ich träume nicht, oder ? Du bist noch da, wenn ich aufwache?
Armell lachte leise. Das war der Merl den sie kannte. Und gleichzeitig sprach aus diesen müde Augen so viel Schmerz, so viel neues, Düsteres… Erinnerte er sich noch alles, was nach seinem Tod geschehen war? Das Gefangen sein im Nirgendwo? Seine verzweifelten Versuche sie zu erreichen ?
,, Ich gehe nicht weg.“ , versprach sie. Auch wenn sie seine Seite zumindest kurz verlassen würd um Erik zu rufen.. ,, Bleib einfach liegen…“
Die letzten Worte hörte er vermutlich
schon nicht mehr, als er bereits wieder in den Schlaf hinüber dämmerte. Aber diesmal, dachte Armell, würde er auch wieder aufwachen. Das wusste sie einfach. Sie hatte ihn wirklich zurück. Trauer und Freude vermischten sich in ihr. Trauer um Sentine… In diesem Moment jedoch überwog das schlichte Wissen, das sie Merl wieder hatte. Doch eines musste sie noch tun, bevor sie Erik rief und danach endgültig hierbleiben konnte um über ihn zu wachen. Es war nicht nur Sentine zu verdanken, dass sie ihn wieder in die Arme schließen konnte. Entgegen ihres Versprechens stand sie leise auf und ging davon…