Venedig im Jahre 1710
"Venedig im Jahre 1710.
Eine Gruppe kleiner Mädchen spielt Fangen.
Luisa Bernadotti versteckt sich in einem Hauseingang.
Die Tür ist nur angelehnt, und sie geht hinein.
Ein langer Gang. Ein Licht, das sich bewegt.
Sie folgt dem Licht... und vergisst die Zeit..."
Die Zeilen dieses Liedes von Juliane Werding legen eine Spur zu einem äußerst spannenden Fall, der das Venedig von 1710 mit der Gegenwart verbindet.
Und noch längst sind nicht alle Fragen beendet.
Venedig im Jahre 2015
Ospedale Civile
Es war früher Nachmittag. Die Sonne meinte es an diesem Spätsommertag wieder einmal besonders gut. Die Vorhänge waren im Überwachungs-zimmer vorgezogen, um die Hitze draußen zu lassen. Schwester Maria schaute, kurz bevor sie Dienstschluss hatte, noch einmal nach ihrer kleinen Patientin. Alle Anzeigen der Lebensüberwachungsmaschine zeigten, dass das Kind immer noch im Koma lag.
Bereits seit zwei Monaten wurde sie im Ospedale Civile gepflegt und noch immer hatte niemand nach dem Mädchen gefragt. Auch die Polizei von Venetien,
die sogar im Fernsehen über den ungewöhnlichen Fall berichtete, war ratlos. Weder wer das kleine Fräulein war, noch woher sie kam, ließen sich ermitteln.
Die Einwanderungsbehörde hatte das Foto in den Auffanglagern veröffentlicht, auch ohne Ergebnis, keiner hatte sie erkannt.
Maria legte dem Kind den weichen Plüschteddy in den Arm, er war heruntergerutscht. Frau Doktor hatte dem Mädel, das hier einsam lag, diesen Plüschkamaraden gekauft. Dann hatte man festgestellt, dass das Mädchen wohl tief im Unterbewusstsein seiner
Träume mit den Fingern über den samtenen Stoff strich. Doktor Lancelli empfahl daraufhin den Teddy als Therapieansatz, um dem geheimnisvollen Findling beim Aufwachen zu helfen.
Im Dienstzimmer der Station klingelte das Telefon. „Ospedale Civile, Venecia, Schwester Maria, Kinderstation“, meldete sie sich. „Ja Moment bitte, ich rufe Doktor Lancelli, bitte etwas Geduld. Ich muss sie erst suchen.“ Maria legte den Hörer neben den Apparat und schaute auf den langen hellgrün gestrichenen Gang, ob sie die Stationsärztin entdeckte oder sie anpiepsen musste.
Da kam die junge Kinderärztin mit einem ihrer kleinen Patienten an der Hand aus dem Behandlungszimmer. Giovanni waren heute die Fäden gezogen wurden. Er strahlte. Morgen würde er nach Hause gehen.
„Frau Doktor, Telefon. Das Antikeninstitut des Archäologischen Museums ist dran, Dr. Polardini. Es geht um die Anziehsachen des Mädchens. Soll ich Giovanni in sein Zimmer bringen?“
„Ja, gerne.“ Die Ärztin nickte, gab dem kleinen Jungen noch einen freundlichen Stups und wandte sich dem Telefon zu.
Maria übernahm den Jungen, der sich
schon losreißen wollte um wieder loszurennen. „Halt, du Wildfang, du willst doch nicht noch eine Naht, oder?“ sie hielt ihn fest an der Hand und brachte ihn in sein Bett.
„Doktor Angela Lancelli hier. Was gibt es, Dr. Polardini?“
Sie lauschte eine Weile, schüttelte mal den Kopf, nickte mal und ihr Gesichtsausdruck wurde immer erstaunter. „Was sagen Sie? Die Bekleidung ist tatsächlich über 300 Jahre alt und die verschiedenen chemischen und physikalischen Analysen haben das zweifelsfrei bewiesen?“
Angela Lancelli überlegte: “Aber warum
sollte das Mädchen 300 Jahre alte Kleidung aus dem Museum tragen?“
„Signora, sie stellen die Frage falsch,“ antwortete ihr Gesprächspartner.
„Wie kommt das Mädchen aus dem Jahre 1709 oder 1710 in unsere Zeit?“
„Wie bitte?“ Die Ärztin schnappte nach Luft.
„Wollen sie einen utopischen Roman daraus inszenieren?“
Der Wissenschaftler am anderen Ende der Leitung lachte kurz auf: „Ich habe eine fachübergreifende Arbeitsgruppe zusammengestellt, der Senat von Venedig wird uns finanziell unterstützen. Immerhin wurde die Kleine ja dort im ehemaligen Dogenpalast bewusstlos
aufgefunden. Sind sie dabei, Frau Doktor?“
„Gerne, sie ist ja meine Patientin. Wenn ihre Annahmen mir auch sehr utopisch vorkommen, so kann doch jeder Fakt helfen, ihre Identität zu entschlüsseln. Können sie bitte eine offizielle Anfrage an unseren Ärztlichen Direktor schicken?“
„Ist schon fast bei ihnen, unser Kurier scharrt schon mit den Hufen. Wann könnten sie bei mir sein?“
„Ich habe in einer Stunde Feierabend und nehme dann den Vaporetto. Wo finde ich sie?“
„Ich habe meine Arbeitsräume im Archäologischen Museum. Fahren sie bis
zur Piazza San Marco, Station Valaresso. Ciao.“
„Ciao!“, die Ärztin beendete die Verbindung. Aus dem Computersystem ließ sie eine anonymisierte zusammenfassende Patientenakte ausdrucken, zusätzlich die Werte der Blutgruppe, die Laborwerte und die Ergebnisse des Gentestes.
Das Telefon klingelte, interner Anruf. Sie schaute aufs Display, das Sekretariat des Ärztlichen Direktors. „Lancelli", meldete sie sich.
„Guten Tag Frau Doktor, der Chef verlangt nach Ihnen, ich verbinde.“
Angela Lancelli kam gerade noch dazu, sich zu wundern, was für ein Tempo Dr.
Polardini vorlegte, da tönte schon der breite Bass ihres Chefs, Professor Marcello aus dem Hörer: „Liebe Frau Kollegin, unser Bürgermeister persönlich hat sie angefordert für eine Arbeitsgruppe wegen unseres Findelkindes. Was haben sie denn für Verbindungen. Ich ahnte ja nicht. Nun, da sie das Mädchen ja behandeln, geht das in Ordnung. Ich stelle sie bis auf Weiteres von allen anderen Aufgaben frei, sie schauen nur täglich dreimal nach dem Mädel und verantworten die weitere Behandlung. Ist das klar? Ich weise alles andere an. Von ihnen erwarte ich täglich einen Bericht. Denken sie daran, es geht um den Ruf unseres
Hauses. Und um meinen. Wir verstehen uns doch, oder?“
„Si, Professore Marcello“, war alles was Angela noch sagen konnte, dann war die Verbindung beendet. Das war aber eine Abkürzung der üblichen Einladungsbürokratie. Fast ein Wurmloch. Sie musste lächeln ob des merkwürdigen Vergleiches. Dann setzte sie ihre Kollegin ins Bild, schaute noch einmal nach ihrem Schützling und beeilte sich, um den nächsten Wasserbus zum Museum zu bekommen.
Archeologisches Museum
Als sie ans Arbeitszimmer von Dr. Polardini klopfte, hörte sie hinter der Tür schon lebhaftes Gespräch mehrerer Männerstimmen.
„Buongiorno den Herren!“ begrüßte sie alle zusammen. Dr. Polardino löste sich aus der Gruppe, die um einen Tisch herum stand und ging auf sie zu. "Ich bin Doktor Polardino", stellte er sich ihr vor und wandte sich dann an die Anwesenden. "Meine Herren, darf ich ihnen die behandelnde Ärztin unseres Findelkindes vorstellen, Doktor Angela
Lancelli.“
Angela nickte den Teilnehmern der Beratung zu und schaute sich um. Polardi ergriff die Initiative: "Meine Dame, meine Herren, diese Gruppe und ihre Teilnehmer muss bis auf Weiteres geheim bleiben, da wir es mit äußerst ungewöhnlichen Phänomenen zu tun haben.
Die Presse und die Öffentlichkeit werden erst informiert, wenn der Minister den Fall freigibt. Deshalb übernehmen auch das Institut für nukleare und theoretische Physik der Universität Pavia sowie das nationalen Institut für Nuklearphysik Italiens
(INFN) die wissenschaftliche Leitung.
Wir werden zudem vom italienischen Ministerium für Bildung und Forschung (MIUR)unterstützt."
Die Kinderärztin hob die Augenbrauen: „Was ist an einem im Koma liegenden Mädchen denn so außergewöhnlich? Ich habe die Krankenakte dabei.“
Polardino lud alle ein, sich um den großen Konferenztisch zu setzen, wo an jedem Platz eine Mappe mit Material lag. „Wie sie wissen, wurde ihre Kleidung untersucht. Sehr aufwändig verarbeitet, Brüsseler Spitze, Samt, schwere Leinwand und Batist. Sie hatte nur einen
Schuh an Saffianleder. An ihrer Hand waren Hautabschürfungen und die haben eine Blutverkrustung am Oberteil hinterlassen. Ich habe das Material zum kriminaltechnischen Institut geschickt. Und jetzt halten sie sich fest. Ihre Hautabschürfung und auch die Bekleidung, vor allem der Saum des Rockes enthielten Spuren des Bakteriums der Rinderseuche, die 1709-1710 in Italien und eben auch in Venetien herrschte.“ Dr. Lancelli erschrak: „Aber die Bakterien waren doch nicht mehr aktiv?“
„Merkwürdigerweise doch, so als ob sie nur eine kurze Zeit in dem Rocksaum gewesen wären. Ebenso ein Insekt, das
heute als ausgestorben gilt. Und noch einige andere Ungeheuerlichkeiten haben wir entdeckt. Die Kleidung haben wir isoliert.“
Die Ärztin fuhr sich durch die Haare und versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. „Ein Glück, dass sie dem merkwürdig gekleideten und frisierten Findling ein Breitbandantibiotikum gegeben hatten. Hoffentlich wachte sie bald aus dem Koma auf, es gab viele Fragen zu beantworten“, dachte sie.
Ein älterer Herr stellte sich vor: „Kriminalkommissar Balbino. Wir haben die Silbermünze untersucht, die das Mädel bei sich trug. Keine verwertbaren
Fingerabdrücke, nur ihre. Und die Silbermünze ist exakt dem Jahre 1709 als Erstausgabe zuzuordnen.
Sie ist kaum abgenutzt. Und kein Museum verzeichnet einen Verlust. Uns liegt keine Anzeigen vor, auch international nicht.“
„Hat sie denn einen bedeutenden Wert?“ fragte ein Herr, der ein Schild vom INFN
vor sich stehen hatte und sich mit Doktor Spok vorstellte. „Es gibt kaum so gut erhaltene Münzen, der wissenschaftliche und der materielle Wert sind erheblich, wenn nicht gar unschätzbar,“ betonte Polardino.
Doktor Spok ergriff das Wort: „Nach allen vorliegenden Fakten gehen wir davon aus, dass das Mädchen auf irgend eine Art und Weise direkt aus dem Jahre 1710 zu uns gekommen ist. Sie stammt aber aus Venedig, hat zumindest damals in Venedig gelebt. Das ist eine Arbeitshypothese des INFN gemeinsam mit der Polizeidirektion von Venedig.“ Es war still geworden im Raum nur die
Tauben vom Markusplatz waren durchs geöffnete Fenster zu hören.
„Das ist doch absurd, wie wollen sie das denn beweisen?“, fragte die Ärztin.
„Das Kind ist sieben oder acht Jahre alt. Die Kleidung entspricht einem gut bürgerlichen wenn nicht adeligen Haushalt, wir haben als zeitlichen Anhaltspunkt die Jahre 1709 bis 1710. Und zwar auf Grund der Rinderseuche, der Münze und der Bekleidung. Und diese hat das wissenschaftliche Labor des Museo d’Arte e Scienzaals aus den Jahren um 1700 bestimmt bezüglich Farbe, Material, Schnitt und der Art des Nähens. Das ist keine Fälschung.“, antwortete Kommissar Balbino. „Und es
gibt noch einen Hinweis. In einer verborgenen Tasche des Rockes fand unser Techniker 2 m blaues Samtband. Die Färbung weist auf Technologien des 18. Jahrhunderts hin. Also war das Fräulein einkaufen.“
„Unser nächster Schritt wird sein, auf Grund des Alters des Mädchens einen Bewegungsradius um den Fundort herum zu ziehen. „Also wie weit wird sich ein solches Mädchen alleine in Venedig vom Elternhaus weg bewegen, mit einem Silberdukaten in der Tasche. Welcher Markt bot solches Schleifenband feil?“
„Wenn wir den Fundort - den Palazzo des Dogen – als Mittelpunkt nehmen, würde ich etwa 500 m Radius
unterstellen“, meinte Polardino. „Das Finanzministerium wird uns eine Liste der damaligen Geschäfte und Handwerker zur Verfügung stellen, das habe ich schon angefragt. Und ich würde die Grenze da sehen, wo sie weit weg von Brücken wäre. Lassen sie uns den Stadtplan ansehen.“
Angela überlegte laut: „Menschen aus Venedig ziehen nicht ständig um. Und
wenn sie aus einem der Häuser stammt, sollten doch alte Polizeiakten helfen. Das Kind wäre doch gesucht worden oder nicht? Was meinen sie, Commissario?“
„Eine hervorragende Idee!", antwortete dieser.
„Und wir werden in unseren Akten nach ungewöhnlichen Vorfällen suchen oder ob auf geheimnisvolle Weise Menschen verschwunden oder aufgetaucht sind“, ergänzte Dr. Spok. „Gut, treffen wir uns dann in zwei Tagen um dieselbe Zeit“, schlug Polardino vor.
Spurensuche in Venedig
Doktor Lancelli nutzte das schöne Wetter und ging zu Fuß nach Hause, entlang an den alten Kanälen und versuchte sich in das Kind zu versetzen, das mit einem Silberdukaten vor 300 Jahren verschollen und wie die Wissenschaftler annahmen, in seiner Zeit verschwunden und im Jetzt wieder aufgetaucht war.
Der Dogenpalast am Markusplatz, heute Museum, war der Fundort des Mädchens. Sie lag an einer Wand des großen Saales. Wie war sie dahin gekommen?
Angela schlenderte durch den Innenhof, folgte schmalen Gassen und wandte sich Richtung Rialtobrücke, wo einer der ältesten Märkte der Stadt sich ausbreitete. Kein allzu weiter Fußweg für ein Kind.
Ihr Spaziergang half ihr, sich das Mädchen in der alten Stadt
vorzustellen.
Doch was war dazwischen geschehen?
Ihr Handy klingelte.
Die Stationsschwester meldete sich: „Frau Doktor, die Anzeigewerte ändern sich, die Schlafkurve wird schwächer. Ich glaube, das Kind erwacht.“
„Bin schon unterwegs. Bitte lassen sie jemanden jetzt direkt neben dem Bett sein, bis ich komme. In 30 Minuten bin ich da.“ Eilenden Schrittes wandte sich Angela dem großen Areal des Ospedale zu, das gegenüber von der Friedhofsinsel am Wasser lag.
Ich bin Luisa
Zimmer 201, Ospedale Civile,
Luisa hörte ein merkwürdiges Summen. Es war als käme sie von weither zurück in ihr Jetzt aber sie hatte die Orientierung verloren. Und die Silberdukaten, ein Schreck erfasste sie. Ihre Hand war leer.
Sie öffnete die Augen und sah sich umgeben von surrenden blitzenden Dingen, sie lag in einem weiß bezogenen fremden Bett und sie hatte einen leichten Schmerz am Arm. Ihr Blick wanderte dorthin, da war ein Schlauch befestigt. Sie wollte sich schon aufrichten und sich von all dem
Teufelszeug befreien, als ein weibliches Gesicht mit einem Nonnenschleier sich über sie beugte und ganz sanft „Buongiorno“ sagte.
„Ich bin Schwester Stefania, Frau Doktor ist gleich hier und alles wird gut.“ Luisa hörte die Worte aber sie verstand nichts, gar nichts.
„Wo bin ich?“, fragte sie ängstlich flüsternd.
In dem Moment kam Doktor Lancelli in den Raum, erfasste mit einem Blick, dass die Werte ihrer Patientin sehr gut waren und man sie ohne Gefahr von den Schläuchen befreien konnte.
„Guten Tag, ich bin deine Ärztin. Du hast sehr lange geschlafen und ich
habe auf dich aufgepasst. Wie fühlst Du dich? Mein Name ist Angela Lancelli. Und wer bist Du?“
Das Mädchen schaute die in so ungewöhnliche Kleider verpackte Frau prüfend an. Doch ihre Stimme und ihr freundliches Gesicht verhießen keine Gefahr. Deshalb antwortete sie ohne zu stocken:
„Ich bin Luisa Bernadotti. Meine Mutter ist die Haushälterin beim Dogen. Warum bin ich hier?“
„Wir fanden dich bewusstlos im großen Saaldes Museums im Dogenpalastes. Und du hattest sehr merkwürdige Kleider an.“
„Das glaube ich nicht. Sie haben merkwürdige Kleider an und hier ist alles anders als zu Hause, fast wie im Laboratorium von Professore Minietti. Ich wohne im Dogenpalast. Der Professore ist der Lehrer und Ratgeber des Dogen. Aber wie ich in den großen Saal gekommen bin, weiß ich nicht. Da darf ich nicht hin. Nur in die Bibliothek des Herrn. Er sagte immer, das ich viel lernen soll. Ich war auf dem Markt. Der Herr hatte mir zwei Dukaten geschenkt, weil ich ihm so gut vorgelesen habe. Und von einem Dukaten habe ich mir Samtband gekauft. Wo ist mein Geld und mein Schleifenband?"
„Alle deine Sachen sind gut verwahrt. Und wenn du gesund bist, bekommst du alles zurück. Hast du Hunger, magst du etwas essen?“
„Ja bitte, Minestrone und Brot hätte ich gerne.“
„Schwester Stefania, können sie das bitte besorgen, ich denke die Trattoria wird sich über die Bestellung freuen.“ Dann löste die Ärztin vorsichtig die Versorgungsschläuche und klebte Pflaster auf die Stelle, wo die Kanüle unter die Haut der Patientin gedrungen war. Mit etwas warmem Wasser wusch sie Luisas Gesicht und Hände.
„Luisa, bleib bitte noch etwas im Bett,
ich schicke eine Schwester, die dir hilft, in dein neues Zimmer zu gehen. Ich bin gleich zurück.
Angela wies das Notwendige an und lies ein Einzelzimmer herrichten. Dann griff sie zum Telefon und rief zunächst Doktor Polardino und dann Kriminaldirektor Balbino an und versorgte beide mit den Neuigkeiten. Balbino rief kurz danach zurück: „Es gibt eine Familie Bernadotti, die in der Nachbarschaft des Palazzo wohnt.
Ja und tatsächlich haben wir einen Vorgang, der aus den Akten des Dogen stammt, dass ein Mädchen namens Luisa Bernadotti als vermisst angibt. Der Mann war übrigens sehr
gewissenhaft, er hat tatsächlich im Mai 1710 vermerkt, dass er Luisa für gutes Vorlesen mit zwei Silberdukaten belohn habe.“
"Danke Commissario“, sagte Angela. Dann ging sie zur Kleiderkammer, wo es Ersatzkleidung für Menschen allen Alters gab, die aus irgend einem Grund ohne Bekleidung eingeliefert wurden und auch keine Verwandtschaft hatten. Die Sachen stammten von Spendern. Sie fand in den Größen des Mädchens ein Kleid, eine Jacke und auch Sandaletten und ließ sich noch eine neue Garnitur Unterwäsche aushändigen, die original verpackt war.
Als Doktor Lancelli das Krankenzimmer von Luisa betrat, war diese fast mit ihrem Essen fertig. „Seniora Dottore, haben sie meiner Mutter schon Bescheid gesagt, die wird sich Sorgen machen. Oh und sie wird mich schelten. Ich sollte doch schnell zurückkommen vom Markt. Hätte ich doch nur nicht mit meinen Freundinnen zum Schluss noch verstecken gespielt.“
Die Ärztin überlegte, ob sie den Erzähldrang des Mädchens unterbrechen sollte, bis die Wissenschaftler da waren, entschied sich dann aber, sie erzählen zu
lassen.
„Dann erzähl mir doch einmal, wie war das? Du hast dich ja auch verletzt. Dein Kleid hat einen Blutfleck.
Wo ist das passiert?"
„Als ich vom Markt kam, musste ich eilen, es wurde dunkel und ein Gewitter zog auf. Ich beschloss die Abkürzung durch die Geheimgänge des Palastes zu nehmen. Die hat mir der Professore gezeigt. Dann blitzte und donnerte es sehr schnell aufeinander, ich flüchtete in eine Tür. Ich hoffte dass sie zu einem Gang Richtung Hauptküche führte. Ich hatte solche Angst und wußte nicht mehr genau, welche Tür.
Da schlug plötzlich im Hof ein Blitz ein. Es war laut und ich stürzte zu Boden. Dann war da eine Lichtkugel. Sie war sehr groß. Der Professore hat mir einmal davon erzählt, dass es solche Kugelblitze geben würde. Ich bin vor ihr davon gerannt, dann bin ich wieder gestürzt. Dann habe ich noch eine Tür aufgemacht. Und dann sind in meinem Kopf ganz viele Bilder gewesen. Wie Träumen. Es war wie schlafen, aber ich habe sehr merkwürdige Dinge gehört und gesehen." Luisa schaute sich neugierig im Zimmer um.Sie schien aufgeweckt und wirkte nicht ängstlich. "Und nun bin ich hier. Wo bin ich?“,
fragte sie.
Andrea beschloss, diese Frage erstmal außen vor zu lassen. Ruhe war jetzt das Wichtigste, um dem gestreßten Körper wieder Stabilität zu geben.
"Da hast du ja eine Menge erlebt. Nun schlaf erst mal, Luisa. Du mußt gesund werden. Hast Du gesehen, damit du nicht so alleine bist, haben wir dir einen Plüschteddy gekauft. An den kannst du dich jetzt kuscheln.“
Luisa lächelte und zog den Spielzeugbären näher. Darf ich den behalten?“, fragte sie. "So ein Spielzeug habe ich noch nie besessen. Nur eine Puppe." Luisa fuhr mit der Hand durch das flauschige Fell und
drückte den Bären dann an ihr Gesicht. "Er riecht nach Vanille, wie in der Küche, wenn gebacken wurde", sagte sie. „Ja, Luisa, das ist jetzt deiner.“ Die Kinderärztin freute sich, dass die Entscheidung für den Teddy so hilfreich war. Sie kontrollierte noch den Puls des Mädchens, zog die Vorhänge zu und ließ ihre Patientin dann allein.
Sie würde jetzt Doktor Spok anrufen müssen. Die Wissenschaftler würden wissen, wie mit der Gewittergeschichte umzugehen wäre. Und morgen musste man schauen, ob diese Bernadottis vielleicht sogar mit Luisa verwandt
waren. Das Mädchen brauchte ja ein Zuhause.
Sie würde eine Psychologin zum Gespräch hinzu ziehen, wenn man ihr erklärte, dass sie in eine völlig neuen Welt angekommen war.
„Luisa Bernadotti, die Zeitreisende“, dachte Angela. „Das klingt wie ein Buchtitel.“