Kapitel 93 Entkommen
Um sie herum tobte heilloses Chaos. Janis hatte es längst aufgegeben die Übersicht behalten zu wollen. Waren seine verbliebenen Männer ihm am Anfang noch in dicht geschlossenen, ordentlichen Reihen gefolgt, wandelte sich ihr Ausbruchsversuch jetzt in heillose Flucht. Jeder versuchte irgendwie auf den Pass hinauf zu gelangen, drängte den schmalen steinernen Pfad hinauf, direkt in die Reihen der wartenden Kultisten. Doch manchmal konnte wohl auch Verzweiflung Wunder vollbringen, dachte er. Grausame Wunder . Die
Männer kämpften mit der Gewissheit, dass alles andere nur den Tod bedeuten würde. Und bisher hatten sie es immerhin nur mit gewöhnlichen Sterblichen zu tun, die unter den Schwertern und den Gewehrsalven rasch selbst zurückfallen mussten. Schüsse hallten von den Felsen wieder, während sich die Gardisten langsam den Weg hinauf kämpften.
Die Steine waren innerhalb weniger Minuten bereits rutschig von Blut. Schreie und Rufe übertönten alsbald selbst das Feuer der Gewehre. Pulverdmapf trieb in Schwaden durch die Luft und machte es teilweise schwierig für Janis auch nur zu
erkennen, wohin er ritt. Weiter nach oben, das wusste er. Doch wo der Abgrund war und ob die vereinzelten Schemen im Nebel noch zu seinen Männern oder bereits zu den Kultisten gehörten konnte er unmöglich sagen. Eine Kugel jagte dicht an seinen Kopf vorbei und traf einen Schatten der zu nah am Abgrund stand. Ohne einen Laut verschwand die Gestalt plötzlich in der Tiefe. Sie hatten etwa die Hälfte des Aufstiegs geschafft, schätzte er… doch genau konnte er es nicht sagen. Janis hatte längst jedes Zeitgefühl verloren, während seine Arme langsam taub wurden. Ihm blieb nur, sich darauf zu verlassen, das sein Pferd den Weg schon
finden würde. Merl drohte immer wieder vor ihm aus dem Sattle zu rutschen und so brauchte er beide Hände um den Jungen Magier festzuhalten. Er war noch am Leben, das war klar… aber Götter, was würde Janis jetzt dafür geben, wenn er wenigstens aufwachen würde. Zu zweit auf einem Pferd waren sie bereits langsamer als der Rest der Garde, der versuchte, sich den steilen Pfad hinauf zu kämpfen und so konnte er sich nicht einmal verteidigen, sollte es nötig werden. Wenn er losließ, das war ihm klar, wäre Merl verloren…
Vor ihm tauchten langsam die ersten berittenen Schemen aus dem Nebel auf, die sich einen Weg durch die Reihen der
Kultisten schlugen. Normalerweise während die meisten Menschen, ob in der Überzahl oder nicht, kaum so dumm sich einem Kavallerieangriff derartig in den Weg zu stellen. Doch diese Männer schienen geradezu darauf zu brennen, sich unter die Hufe der Tiere zu werfen und sie dadurch auszubremsen. Fanatisch war alles, was Janis dazu einfallen wollte. Und dann war er selbst bereits unter ihnen und konnte nur darauf vertrauen, dass das Tier unter ihm nicht scheute…. Und sich die Lücke, die Syle und die andere geschlagen hatten nicht um ihn schloss.
Erneut drohte Merl abzurutschen, als das Pferd über eine Reihe gefallener setzte.
Welcher Seite sie angehörten konnte Janis nicht mehr erkennen. Ohnehin war er zu bemüht darum, den Jungen festzuhalten, als vor ihnen ein mit einem primitiven Speer bewaffneter Kultist aufsprang. Mit einem Schwert hätte Janis die Waffe beiseite schlagen und den Mann erledigen können. So jedoch blieb ihm nur, den Körper so weit zu drehen wie er konnte um Merl außer Reichweite der Waffe zu bringen… oder ihn zurückzulassen. Der Gedanke kam ihm nur eine Sekunde, bevor er ihn verwarf. Er weigerte sich schlicht, so etwas erneut zuzulassen. Nein. Er würde kein weiteres Leben unter seinem Schutz verlieren. Auch wenn er so nicht einmal
hoffen konnten, Quinns Schildring zu benutzen…
Er schloss schlicht die Augen und hoffte das Beste, als die Lanze heran war. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen… aber immerhin erwischte die gehärtete Holzspitze ihn und nicht Merl. Die Waffe glitt mit einem hörbaren Klingen an dem Kürass ab, das er unter seiner Kleidung trug. Auch wenn sie offenbar eine ordentliche Beule in den Stahl geschlagen hatte… er blieb irgendwie im Sattel und konnte weiterreiten. Auch wenn jede Bewegung des Pferds und jede Unebenheit schmerzen in seiner Seite aufflammen
ließ.
Weitere Schemen schälten sich aus dem Nebel, der grade von einer Windböe zerrissen wurde und enthüllten ein Dutzend weiterer Männer mit dem Symbol der roten Hand, jeder einzelne mit einer Muskete bewaffnet. Sie hatten sich auf einem Felsvorsprung verschanzt und eine kleine Barrikade aus Steinen um sich errichtet, so das es den fliehenden Reitern unmöglich war, sie zu erreichen. Die Kutlisten hingegen hatten freies Schussfeld. Eine Salve fällte einen von Janis Gardisten, der nicht schnell genug vorbei kam. Das Pferd unter ihm taumelte, bevor es über die Felsen stürzte und seinen Reiter mit sich riss.
Sofort traten die Männer zurück um nachzuladen und die nächste Gruppe vorzulassen, welche die Gewehre bereits im Anschlag hatte. Und dann war Janis auf ihrer Höhe. Er konnte später nicht mehr genau sagen, was passiert war. Er sah das Mündungsfeuer aufblitzen und roch verbranntes Schießpulver. Doch weder das Pferd noch er oder der Magier wurden getroffen. Stattdessen war da plötzlich etwas Weißes mitten in der Flugbahn der Kugeln. Eine Taube ? Hatte diese Armell, nicht immer einen Vogel dabei gehabt? Statt ihn in Stücke zu reißen, tanzten die Kugeln plötzlich um das Wesen herum und veränderten ihre Flugbahn in unmögliche
Richtungen. Sentine vollführte einen Salto zwischen den Projektilen hindurch… bis eines davon sie doch noch am Flügel erwischte. Statt Blut brach Licht aus der Wunde hervor und troff fast wie eine Flüssigkeit auf die Felsen herab... dann war der Vogel auch schon wieder im Pulverdampf verschwunden. Hoffentlich hatte er das überlebt, dachte Janis. Was immer das grade war, es hatte ihm das Leben gerettet. Unverletzt preschte er an den verdutzten Schützen vorbei, die noch nicht einmal begonnen hatten nachzuladen.. und dann endete der Pfad plötzlich und er schoss auf die sonnenverbrannte Ebene heraus, die das
rote Tal umgab. Die Sonne und der warme, blaue Himmel waren ihm selten so willkommen gewesen, wie jetzt, als sie aus dem Pulverdampf hervorbrachen. Einen Moment erlaubte er sich, die Wärme zu genießen, die den kalten Angstschweiß auf seiner Stirn trocknete. Das schlimmste hatten sie hinter sich dachte er, während er das Pferd weiter auf die Ebene hinaus trieb. Dort hatten sich bereits weitere Reiter gesammelt und sahen zurück in Richtung Tal, die Gewehre im Anschlag. Die meisten sahen ziemlich mitgenommen aus, ihre Uniformen zerrissen und Blutverschmiert. Und irgendein Irre rhatte es sich ganz offenbar zur Aufgabe
gemacht, eine der Standarten mit dem Doppelwappen den Weg die Felsen hinauf zu retten. Götter, für diese Dummheit würde er ein ernstes Wort mit dem Mann reden müssen. Und ihm vermutlich trotzdem einen Orden verliehen. Irgendwie hatten sie es geschafft… Hinter ihm blieb der Pass zurück, aus dem immer noch vereinzelt einige Reiter kamen, aber die Kultisten schienen ihnen bisher noch nicht gefolgt zu sein. Und die meisten seiner Männer hatten es ganz offenbar geschafft. Kurz sah er Galren und Elin, wobei ersterer offenbar Mühe hatte sich im Sattel zu halten… aber immerhin noch lebte. Syle war unterdessen bereits damit
beschäftigt, neue Anweisungen zu geben. ,, Wir dürfen uns hier nicht ausruhen. Sie werden sich nicht damit zufrieden geben, uns am Pass etwas aufgehalten zu haben. Wenn wir noch länger warten, kommen auch diese Kerle irgendwann auf die Idee, das Tal zu verlassen. Und dann sind wir besser weit weg.“
Janis nickte und so begann der zweite Teil ihrer Flucht. Auf dem Weg über die sonnenverbrannten Ebenen bekamen sie den Verlust fast aller ihrer Vorräte bald bitter zu spüren. Nicht nur hatten sie alles an Lebensmitteln zurück lassen müssen, sondern auch fast alle Wasserschläuche. Die meisten der Reiter
trugen vielleicht einen Beutel bei sich, der sich in der Hitze jedoch erstaunlich schnell zu leeren begann. Syle versuchte das wenige was sie hatten, so gut wie möglich unter den Leuten aufzuteilen. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis sie begannen den Preis dafür zu bezahlen. Und nach wie vor war für sie an eine Rast nicht zu denken. Dafür waren sie noch zu nahe am roten Tal und auch wenn Syle es nicht wagte, einige Späher zurück zu schicken… sie konnten immer noch den Rauch sehen, der von den brennenden Zelten im Expeditionslager aufstieg. Gegen Abend brachen schließlich die ersten Pferde zusammen und mussten zurückgelassen werden. Es
gab keine Rast für sie, nicht jetzt und so blieb ihnen nur, den Weg im Licht einiger Fackeln fortzusetzen, als die Sonne unterging. Immerhin verschwand damit auch die schlimmste Hitze. Es änderte jedoch nichts daran, das viele von ihnen mittlerweile seit drei oder mehr Tagen auf den Beinen waren. Sie waren bereits die Nächte durchmarschiert um es vor den Kultisten ins Tal zu schaffen. Und jetzt wendete sich das gegen sie. Als der erste graue Silberstreif sich wieder am Horizont zeigte, stürzten auch die ersten Männer. Zwar hatten sie mittlerweile die Eben verlassen und einen kleinen Wald erreicht, dennoch ließ Syle sie nicht
anhalten. Diejenigen, die nicht mehr aus eigener Kraft laufen konnten, mussten von jenen geschultert werden, die es noch konnten, oder bekamen die Pferde der kräftigeren Gardisten, die damit zu Fuß weiter mussten. Immerhin schafften sie es im Vorübergehen etwas Wasser an einem Bach zu schöpfen und ihre Vorräte wieder aufzufüllen. Jemand reichte Janis einen vollen Schlauch. Statt zu trinken spritzte er sich die kalte Flüssigkeit ins Gesicht. Ein paar Tropfen blieben in seinem Haar hängen und durchnässten die Kleider des nach wie vor bewusstlosen Magiers. Sie hatten das schlimmste geschafft, sagte er sich erneut und betete, das es stimmen
mochte. Wenn er sich nur einen Moment hinlegen könnte… Einige der Gardisten hatten tatsächlich gelernt im Sattel zu schlafen und bekamen so zumindest etwas Rast. Er jedoch war nach wie vor damit bemüht, Merl sicher zu halten. Und vielleicht halluzinierte er mittlerweile auch, dachte er, während er sich das überschüssige Wasser aus dem Gesicht wischte und einen Schluck trank. Bei Sonnenaufgang war Nebel aufgezogen, der zwischen den Bäumen umhertrieb. Sie warne mittlerweile in höhere Gefilde gelangt, wo auch in den verbrannten südöstlichen Ebenen noch grün wuchs. Morgenlicht schimmerte durch die Zweige und Blätter der Bäume
und sprenkelte das Unterholz in einen Teppich aus Schatten und Licht. Moose und Farne flüsterten im Wind, der die Nebelfetzten verformte. Mehrmals war Janis fest davon überzeugt, darin eine Gestalt auszumachen. Und tatsächlich wirkten die Schatten vertraut menschlich… Nein… das waren Menschen… Erst einer, dann zwei, dann hunderte, die durch den Nebel auf sie zukamen. Aber seltsamerweise waren sie alle unterschiedlich groß, dachte er verwirrt. Eine Gruppe Männer mit Kindern. Wenn ja, dann waren es ziemlich stämmig gebaute Kinder, dachte Janis müde. Und eines davon hatte einen Bart, der ihm fast bis zur Hüfte fiel, als
es schließlich aus dem Nebel heraustrat. Zwerge ? Und zwischen ihnen blitzte immer wieder blau auf. Blau und Gold. Die Farben der kaiserlichen Garde ? Bevor er noch dazu kam, sich zusammenzureimen, was sie hier suchen mochten, waren sie plötzlich auch schon unter ihnen. Männer kamen herbei um die Verwundeten und die Übermüdeten in Empfang zu nehmen und ihnen von den Pferden zu helfen. Andere begannen bereits damit Wasser und Essen zu verteilen. Janis war zu müde um zu fragen, was vor sich ging. Er seufzte lediglich dankbar, als jemand sein Pferd anhielt und ein Dutzend weitere herbeikamen um ihm mit seiner Last zu
helfen. Vorsichtig ließ er Merl aus dem Sattel gleiten. Erst als das Gewicht vor ihm verschwand, schien ihn die volle Wucht der Erschöpfung zu treffen.
,, Herr ?“ , hörte er noch jemanden fragen, sah in das verwirrte Gesicht eines Gardisten… dann kippte er einfach vorüber aus dem Sattel und schlug auf dem harten Waldboden auf. Erst da fiel ihm auf, das er Blutete. Die Seite wo ihn die Lanze erwischt hatte war während des Ritts seltsam Taub geworden. Und erst jetzt, mit dem Geschmack von Erde im Mund, wurde ihm klar, dass sein Kürass mehr als nur eingedellt war. Irgendwie, durch einen Wink des Schicksals, war die Holzspitze unter die
Rüstung gekommen… und abgebrochen. Die Flucht hatte wohl dazu beigetragen, dass sich der große Splitter mittlerweile aus der Wunde gelöst hatte… Das Blut hatte bereits sein gesamtes Hosenbein durchtränkt und versickerte langsam im Boden.