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Tobias klingelte an Beatrices Haustür. Als nach penetrantem Dauerklingeln niemand öffnete, legte er sein Ohr an die Tür. Aber die Musik, die leise durch das Treppenhaus drang, stammte nicht aus ihrer Wohnung.
Nervös blickte er auf seine Uhr. Es war gegen acht Uhr abends. Um diese Zeit war Beatrice in der Regel zu Hause. Noch einmal lauschte er angestrengt, aber das Einzige, was er hörte, war Gezeter aus der Wohnung gegenüber. Enttäuscht rutschte er auf den Boden und blieb mit angezogenen Beinen an der Tür gelehnt sitzen.
Wo steckte sie? War Beatrice verschwunden, weil Maria-Stella Angst hatte, entlarvt zu werden? Auf ihrem ungemachten Bett wartete vielleicht ein lieblos geschriebener Abschiedsbrief auf ihn: Es war schön mit Dir, ich liebe Dich immer noch. Verzeih mir!
Das Einzige, was sie ihm zurückgelassen hatte, war der berauschende Duft ihres Körpers in ihrem Nachthemd.
Sein Herz klopfte schwer in seiner Brust. Das ertrüge er nicht, er würde schreiend auf die Straße rennen, bis man ihn einfing und in eine Zwangsjacke steckte. Schreien würde er, damit er nicht platzte, und es ihn in zwei Teile riss.
Er zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Seine Ratio brauchte Luft. Noch war gar nichts passiert, vielleicht hatte Beatrice Elternabend und kannte Maria-Stella nicht. Vielleicht war sie lediglich sauer auf ihn und ihr duftendes Bett war ordentlich gemacht.
Die letzte Gewissheit brächte der Schlüssel, den er, seit sie ein Verhältnis miteinander hatten, wie seinen eigenen am Schlüsselbund trug. Er fühlte ihn in seiner Hosentasche. Besser, er wartete bis morgen. Wenn Beatrice bis dahin nicht aufgetaucht war, konnte er ihren Abschiedsbrief immer noch lesen. Wenigstens eine Nacht wollte er sich der Hoffnung hingeben, dass nicht alles, was er liebte und wie die Luft zum Atmen brauchte, zerstört war. Enttäuscht kehrte er in seine Wohnung zurück.
*
Sascha hatte sich in Tobias’ Wohnzimmer auf dem orangefarbenen Zweisitzer breitgemacht und kaute an einer lauwarmen Pizza vom Bringdienst.
„Wollt ihr nichts?“, fragte er erstaunt.
Jean Louis Baptiste de Boulogne, der interessiert Tobias’ Fotografien an der Wand betrachtete, winkte dankend ab. „Mein lieber Sascha, ich bin überzeugtes Mitglied der Slow-Food-Vereinigung. Da bin ich eisern. Wenn du mir die Pizza selbst gebacken hättest, hätte ich nicht abgelehnt.“
„Haben Sie keinen Hunger?“, fragte Sascha mit vollem Mund.
„Als Arzt sage ich dir, dass es gesünder ist zu verzichten, als sich den Magen mit Essen voll zu stopfen, das gegen den gesunden Menschenverstand verstößt.“
Sascha leckte sich die Finger sauber und nahm sich ein weiteres Stück. „Werd mich schon nicht vergiften“, brummte er verärgert. „He, was ist mit dir, Tarkan? Hast du auch Angst vor der Pizza?“
Tobias schüttelte genervt den Kopf. „Iss und verschon mich!“
„Entspann dich, Mann, ok?“, knurrte Sascha beleidigt.
Der Graf blieb bewundernd vor Tobias’ Bücherregalen stehen. „Nicht schlecht Ihre Sammlung!“
„Im Arbeitszimmer sieht es noch schlimmer aus und einen Fernseher hat er auch nicht“, winkte Sascha ab.
„Sie haben wirklich zu jedem Thema etwas zur Hand, Donnerwetter!“ Der Graf blieb vor der Glasvitrine stehen, in der Tobias seine wertvollsten Mineralien ausgestellt hatte. Aber das interessierte ihn nur kurz. Seine Augen weiteten sich, als er das niedrige Wandregal erblickte. Er griff hinein und nahm einen roten Schnellhefter von einem losen Stapel. Mit den Fingerspitzen fuhr er fasziniert über die handgeschriebenen Seiten. „Mon Dieu, was ist das für eine Sprache?“
„Was Sie da gerade in der Hand halten ist meine Wörtersammlung von einer der zweihundertfünfzig Sprachen, die fünftausend Menschen in Papua Neuguinea sprechen. Wörterbücher gibt es nicht.“
„Sagen Sie bloß, Sie haben sich alles gemerkt, was Sie da aufgeschrieben haben.“
Tobias lächelte. „Das braucht Sie nicht zu erstaunen, Jean. Es sind die wenigen hundert Wörter, die Sie in jeder Sprache weiterbringen. Sie glauben nicht, wie weit Sie schon mit fünfzig Wörter kommen.“
„Doch, doch, das glaube ich Ihnen. Das haben Sie in den letzten zehn Jahren unserer Zusammenarbeit brillant demonstriert. Manchmal denke ich, dass man Sie in Babylon übersehen hat.“ Der Graf glättete sorgfältig den Schnellhefter und legte ihn auf den Stapel zurück.
Sascha stöberte in Tobias’ Küche eine vergessene Flasche Bordeaux auf und entkorkte sie ungefragt. Mit zwei Weingläsern, die er an ihren schlanken Stielen zwischen seinen Fingern geklemmt hatte, kam er ins Wohnzimmer, kniete sich vor den niedrigen Holztisch und stellte sie ab. Er roch an der offenen Flasche und schenkte sich und dem Grafen ein. Schweigend prosteten sie sich zu.
Lustlos nippte Tobias, der Wein nur selten anrührte, an seinem Mineralwasser. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte er in die Stille hinein.
Der Graf nahm einen tiefen Schluck, bevor er antwortete. „Das hängt davon ab, ob Ihre Beatrice bereit ist, sich den Mondadoris zu zeigen. Wenn ja, wird Mr Brown die Mondadoris nach Freiburg scheuchen. Wenn nein, sitzen wir fest, würde ich sagen.“
Tobias faltete nachdenklich die Hände. „Das ist ein einziger Albtraum, Jean. Haben Sie eine Erklärung für diesen absurden Zufall, wenn es nun einer ist?“
„Wenn nicht mal Sie mit Ihrem scharfen Verstand eine Ahnung haben, wieso fragen Sie dann mich?“
Sascha legte seine Hände in den Nacken und starrte an die Decke. „Vielleicht hat Gordon Recht und Beatrice ist von zu Hause abgehauen. So wie Mondadori sie mit Küsschen bedeckt hat, muss sie sich doch vorkommen wie eine Schmusepuppe. Das war keine Frau, das war Barbie in Lebensgröße. Und hast du die angemalte Tante im Liegestuhl gesehen, Tarkan? Mal im Ernst: Welches Mädchen will heutzutage noch so enden? Beatrice ist nicht der Typ für Stöckelschuhe und Wackelarsch. Wahrscheinlich wollte Mondadori sie an einen reichen Onkel verheiraten. Beatrice hatte die Schnauze voll und ist abgehauen. Kann schon sein, Tarkan, dass neben dir Maria-Stella wohnt.“
„Das ist doch absurd!“, schnaubte Tobias.
„Wenn es um Beatrice geht, bist du nichts weiter als ein liebestoller Hund, der einem nächtelang mit seinem Gejaule auf den Wecker geht. Dagegen hilft ein Eimer kaltes Wasser.“
„Danke!“, fauchte Tobias.
„Man bricht nicht mir nichts dir nichts den Kontakt mit der Familie ab“, warf der Graf stirnrunzelnd ein.
„Ach, nein?“ Saschas Lippen wurden schmal.
Verlegendes Schweigen legte sich über sie.
Tobias starrte in sein Glas. Genau das hätte der Graf besser nicht gesagt.
Der Graf klopfte sich auf die Oberschenkel und stand auf. „Vielleicht ist es besser, wir beenden die lustige Runde, bevor ein neuer Affentanz losbricht. Der in London heute Morgen hat mir gereicht“, sagte er und verschwand in Bad.
Tobias kippte den letzten Rest Rotwein in Saschas Glas. „Da, trink! Und dann hau ab, mir reicht’s für heute!“
„Entspann dich, Mann!“, knurrte Sascha und kippte den Wein hinunter. Er schnappte sich seinen Rucksack und knallte die Tür hinter sich zu.
*
Der Graf zog den Zweisitzer zu einem Bett aus und legte sich mit dem Schlafsack darauf. „Eines noch!“, sagte er auf Französisch, was er immer sprach, wenn er mit Tobias alleine war. „Nach Saschas lebhaften Ausführungen scheint Ihre Beatrice das Gegenteil von Maria-Stella zu sein. Angenommen, es handelt sich um ein- und dieselbe Person, also um Ihre Beatrice, dann wären Saschas Überlegungen durchaus realistisch. Vielleicht haben ihre Eltern Erwartungen an die Tochter, die sich ein ganz anderes Leben vorgestellt hat.“
Tobias wandte den Blick ab.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Tobias“, fuhr der Graf vorsichtig fort. „Aber wie Sie wissen, werden Sie unter den sechs Milliarden Menschen auf der Erde keine zwei finden, die sich bis auf das Haar gleichen, wenn es sich nicht gerade um Zwillinge handelt. Ich denke, dass wir das ausschließen können, denn Signora Mondadori wird wissen, ob sie ein oder zwei Töchter geboren hat. Wenn es also keine Zwillinge gibt, wird es sich höchstwahrscheinlich um dieselbe Person handeln, die ihre Gründe gehabt hat, ihren Namen abzulegen und unterzutauchen.“
Tobias sah ihn aus müden Augen an. „Sie halten mich auch für einen liebestollen Hund, habe ich Recht?“
„Tobias, ich bitte Sie! Sie wirken etwas abgespannt, aber von einem liebestollen Hund sind Sie noch weit entfernt.“
Tobias lächelte und wünschte dem Grafen eine gute Nacht.
*
Gestern Nacht hatte er hier mit Beatrice geschlafen. Im ungemachten Bett hing noch der Geruch ihrer frisch gewaschenen Haare.
Wütend riss er das Kopfkissen von der Matratze und wälzte sich an das Fußende. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich auszuziehen und zu waschen, denn das hätte dem Ganzen eine absurde Normalität verliehen, die es einfach nicht mehr gab. Ohne Beatrice gab es keine Normalität mehr.
Er lauschte dem Rauschen der Klospülung aus der Wohnung über ihm und stellte sich vor, dass Beatrice nur kurz aufgestanden war und gleich wieder zu ihm unter die Decke kriechen würde. Aber sein Bett war kalt, er selbst konnte es mit seinen kalten Füßen nicht wärmen.
Die Scheinwerfer eines einparkenden Autos warfen verschwommene Schatten an die Zimmerdecke, die wie fliehende Geister hinter dem Schrank verschwanden.
Eine tiefe Unruhe erfasste ihn. Er zog sich die Decke über den Kopf, aber das schützte ihn auch nicht vor der Erkenntnis, dass der Graf und Sascha Recht hatten.
Eigentlich hätte er sich beruhigt schlafen legen können. Falls Beatrice wirklich mit ihrer Vergangenheit gebrochen hatte, ging ihn das nichts an. Es hatte nichts mit ihrer Beziehung zu tun. Doch der Gedanke hinterließ einen schalen Nachgeschmack. Eine Frau, die sich so perfekt verstellen konnte, war die perfekte Lügnerin, der es nichts ausmachte, all das, was sie in ihrem früheren Leben gewesen war, zu verdrängen. War das möglich?
Ihm fiel ein, dass sie perfekt Deutsch sprach. Nicht der Hauch eines südländischen Akzentes war herauszuhören. Vielleicht war sie zweisprachig aufgewachsen, das hatte nichts zu sagen. Und wie verhielt es sich mit den beiden Menschen, die regelmäßig anriefen und die Beatrice mit Mama und Papa ansprach? Tobias hatte ihre Eltern noch nie gesehen. Wenn Beatrice von ihnen sprach, hatte sie stets einen liebevoll spöttischen Zug um ihre Lippen.
Das war doch nicht alles gespielt und gelogen?
Wie konnte jemand – ohne Spuren zu hinterlassen – sein Leben einfach durch ein anderes ersetzten wie eine Schlangenhaut? Wie hatte er sich in Beatrice nur so täuschen können?
Nein, das konnte nicht sein, es musste eine andere Erklärung geben.
Aber wie war es dann möglich, dass sich zwei Menschen derart glichen, obwohl sie keine Zwillinge waren?
Tobias stieß ein verzweifeltes Wimmern aus. Er hätte schreien können! Alles war möglich, nichts konnte widerlegt und ad absurdum geführt werden.
Er riss sich die Decke vom Kopf, weil er das Gefühl hatte zu ersticken und schaute auf die Leuchtziffern seines Weckers, der 23 Uhr 35 anzeigte. Sein Herz klopfte und seine Hände wurden klebrig vom kalten Schweiß.
Er wollte sie sehen und anfassen, sofort!
Rasch griff er zu seinem Handy, das auf dem Nachttisch lag und wählte ihre Nummer. Er ließ es eine Ewigkeit klingeln, lauschte ihrer weichen Stimme auf dem Anrufsbeantworter und dem Rauschen, das nach dem Piepston folgte.
Es schnürte ihm die Kehle zu. Sie war immer noch nicht in ihrer Wohnung. Vielleicht war sie im Kino oder bei ihrer furchtbaren Freundin Lena und beschwerte sich über ihn. Er stellte den Wecker auf kurz vor sieben Uhr. Um sieben verließ Beatrice in der Regel die Wohnung, um pünktlich in der Schule zu sein. Er wollte sie abpassen und ihr sagen, dass er sie liebte. Bald fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Das Piepsen des Weckers schreckte ihn auf. Die letzten Traumfetzen verschwanden wie Nebel, und mit klopfendem Herzen sprang er aus dem Bett. Er schlich sich an dem Grafen vorbei, der mit offenem Mund auf dem Rücken lag und leise schnarchte.
Unrasiert und stinkend klingelte er an Beatrices Wohnungstür.
Sie öffnete nicht.
Unbeeindruckt lehnte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Klingelknopf, als könnte er sie dadurch herzaubern.
Die Wohnungstür gegenüber öffnete sich einen kleinen Spalt und ein neugieriges Auge spähte in den Gang. Als er sich wütend umdrehte, klappte die Tür sofort zu.
Frustriert nahm er den Daumen von der Klingel. Beatrice war weg. Warum dauerte es so lange, bis er es endlich kapierte?
Sie hatte die Nacht nicht hier verbracht; ihr Bett war kalt.
Er atmete tief ein, damit ihn seine Gefühle nicht überwältigten. Das hatte er in den zehn Jahren, in denen er mit dem Team zusammenarbeitete, hinreichend gelernt.
Er schleppte sich in die Wohnung zurück, rasierte sich und wusch sich den ganzen Dreck der letzten vierundzwanzig Stunden ab.
*
Mit noch feuchten Haaren setzte er sich an den Küchentisch.
Der Graf hatte beim Bäcker um die Ecke frische Brötchen besorgt. Er goss ihm frischen Kaffee ein und legte ihm ein Croissant auf den Teller. „Ich hoffe, mein Kaffee macht Sie wieder munter. Er wird Ihnen nicht schmecken, ich warne Sie! Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich zu den wenigen unbegabten Menschen gehöre, die keinen Kaffee kochen können. Entweder er sieht aus wie Schwarztee, oder er ist so stark, dass selbst ich ihn nicht trinken kann.“
Tobias lächelte matt und umklammerte die dampfende Tasse. „Machen Sie sich keine Gedanken, Jean. Ich bin immer froh, wenn ich ihn mir selbst nicht machen muss, egal wie er schmeckt.“
Kaum hatte er den ersten Schluck schwarz getrunken, merkte er, dass sein letztes Essen ein schwammiges Fischbrötchen in London gewesen war. Er brach ein Stück von seinem Croissant ab und tunkte es in den Kaffee. „Schauen Sie nicht hin“, sagte er verlegen.
„Tun Sie sich keinen Zwang an.“
Er ließ das Croissant über der Tasse abtropfen und biss großzügig davon ab. „Was mich interessiert, Jean…“, sagte er, als er gekaut und mit einem Schluck Kaffee nachgespült hatte. „Haben Sie Gordon überredet zu unterschreiben?“
Der Graf schüttelte langsam den Kopf. „Wo denken Sie hin? Als Sie außer Sichtweite waren, stand er auf und verlangte von Brown den Vertrag. Er knallte ihn auf den Tisch und verschwand ohne ein Wort. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Vergessen Sie den Londoner Affentanz und nehmen Sie es nicht persönlich!“
Tobias starrte auf die schwimmenden Krümel in seinem Kaffee. „Ich werde mir Mühe geben.“
Von irgendwoher ertönte „Pink Panther“, der Klingelton seines Handys. „Beatrice!“, entfuhr es ihm.
Instinktiv klopfte er seine Taschen ab, obwohl der Ton gedämpft aus einem anderen Raum kam. Er sprang so hektisch auf, dass der Stuhl krachend nach hinten fiel und rannte in sein Schlafzimmer, wo er das Handy unter dem Kopfkissen fand.
„Beatrice!“, rief er erregt.
Er hörte ein Räuspern. „Morning!“, ertönte die tiefe Stimme Gordons.
Ihm war, als hätte ihm jemand einen nassen Lappen ins Gesicht geklatscht. Er presste eine Hand auf den Mund und knautschte die Lippen. „Morning!“, presste er hervor. Mit düsterem Gesicht ging er zurück in die Küche und gab dem Grafen mit stummen Gesten zu verstehen, mit wem er sprach.
Der Graf ermahnte ihn mit strengem Blick, nicht aufzubrausen.
„Haben unterschrieben, nehme ich an?“, fragte Gordon langsam.
„Wir sind komplett. Der Graf ist bei mir. Maurice kommt morgen nach.“
„Und?“, forderte Gordon.
Tobias Augen wurden schmal. Der scharfe Ton gefiel ihm nicht. Erwartete Gordon, dass er ihm um halb acht Uhr morgens eine bereitwillige Beatrice präsentierte, die nur darauf wartete, den Mondadoris reumütig in die Arme zu fallen? Was war mit dem Mann los? „Der Graf und ich frühstücken gerade, und dann werde ich ihm unser schönes Münster zeigen. Der Frühling ist wie geschaffen dafür.“
Der Graf trat Tobias verärgert gegen das Schienbein.
Tobias schüttelte energisch den Kopf und drehte dem Grafen den Rücken zu.
„Was ist mit der Frau, die Sie Beatrice nennen?“, fragte Gordon ungeduldig. „Haben Sie mit ihr geredet?“
„Nein! Ich habe sie noch nicht angetroffen.“
„Soll heißen?“
„Soll heißen, dass sie nicht in ihrer Wohnung übernachtet hat. Soll heißen, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wo sie ist!“
Gordon schnaubte. „Vogel ist ausgeflogen? Gratuliere, Tobias, haben das mit Ihrem genialen Alleingang prima hingekriegt!“
„Herrgott! Wir sind keine vierundzwanzig Stunden hier. Was erwarten Sie eigentlich?“
„… Dass Sie diese Person auftreiben! Werden das doch wohl hinkriegen. Denke, sie frisst Ihnen aus der Hand!“
Tobias’ Lippen wurden blass.
Der Graf versuchte hastig, Tobias’ Handy zu greifen. „Geben Sie schon her!“, zischte er.
Tobias wehrte wütend ab. „Gordon!“, sagte er mit gepresster Stimme. „Ich werde die Person auftreiben und so lange einer Gehirnwäsche unterziehen, dass sie freiwillig zu ihren Eltern nach Neapel fliegt. Saubere Sache, Fall abgehakt! Darf ich Sie etwas fragen, Gordon?
„Was?
„Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal mit einer Frau geschlafen? Ist das Ihr Problem?“
„Wir sprechen uns noch!“, bellte Gordon und legte auf.
Tobias drückte dem Grafen das Handy auf die Brust. „Jetzt können Sie es haben!“
Wütend steckte der Graf das Handy in den Ausschnitt von Tobias’ T-Shirt. „Wissen Sie was? Ich glaube, Sie leiden unter Entzugserscheinungen!“
Tobias zog das Shirt aus dem Hosenbund und fischte nach seinem Handy. „Haben Sie Angst, dass ich anfange zu jaulen, wenn ich den Namen Beatrice höre?“, fragte er gereizt.
Der Graf verschränkte die Arme. „Ich erzähle Ihnen bestimmt nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, dass bei Frischverliebten der Oxytocin-Spiegel besonders hoch ist. Das ist das Brutpflegehormon, und je mehr davon in unserem Blut schwimmt, desto intensiver sind die Gefühle gegenüber dem geliebten Objekt.“
Tobias ließ sich stöhnend auf seinen Stuhl fallen und biss verdrossen in sein Croissant.
„Wenn jedoch, wie in Ihrem Fall, das geliebte Objekt abhanden gekommen ist, führt das zu Appetitlosigkeit, Unruhe bis hin zur Raserei. Kurz: zu Entzugserscheinungen. Da Sie genauso gut wie ich davon ausgehen, dass der Oxytocin-Spiegel bei unserem Chef im Moment recht niedrig ist, wäre die Antwort auf Ihre unverschämte Frage interessant gewesen. Aber meinen Sie nicht, dass Ihr Verhalten eindeutig unter die Gürtellinie ging?“ Der Graf setzte sich ihm gegenüber. „Ich sagte Ihnen doch: Nehmen Sie es nicht persönlich. Sie haben alles nur noch schlimmer gemacht!“
„Er hat alles schlimmer gemacht, nicht ich!“ Tobias schmiss das angebissene Croissant auf seinen Teller und schob ihn beiseite. „Er gönnt mir Beatrice nicht!“
Der Graf schaute ihn nachdenklich an. Seufzend kramte er aus der Hemdtasche seine Zigaretten und verzog sich auf den Balkon.
*
Gordon beugte seinen Oberkörper nach vorne, um tief durchatmen zu können. Der Schweiß brannte ihn in den Augen. Sein Herz drohte zu zerplatzen.
Es hatte ewig gedauert, bis er seinen durchtrainierten Körper so weit hatte, dass er kurz vor dem Zusammenbrechen war. Das hatte er gebraucht. Wenn nichts mehr ging und er nur noch an Luft denken konnte, war die Wut draußen. Nach dem Gespräch mit Tobias hatte er sich sofort die Sportschuhe angezogen und war losgerannt.
Jetzt war sein Kopf leer, und er schleppte sich die abgewetzte Holztreppe hoch in seine zwei winzigen Zimmer unter dem Dach, die er in Untermiete bewohnte.
Auf der Treppe begegnete er Naomi, der Vermieterin, die ihn mit ihren schwarzen Augen verschreckt anstarrte. Er zog den Bauch ein, drückte sich flach an die Wand und drehte den Kopf weg.
Ihre zierliche Gestalt huschte an ihm vorbei, peinlich darauf bedacht, seinen verschwitzten Körper nicht zu berühren. Sie hatte tief Luft geholt, bevor sie an ihm vorbeilief, um nicht einatmen zu müssen, was er ausatmete.
Seine Lungen waren noch zu sehr damit beschäftigt, Sauerstoff in den Körper zu pumpen, als dass es ihn emotional erreichte. Es war ihm egal. Für ein paar Stunden war ihm alles egal. Er wartete, bis Naomi verschwunden war, nahm die letzten Stufen und öffnete mit zitternden Händen die Tür.
Verschwitzt wie er war, schmiss er sich bäuchlings auf sein Bett. Brennender Durst quälte ihn, aber er rührte sich nicht. Stände er jetzt auf, ginge die Grübelei wieder von vorne los.
Als seine Kleider klamm am Körper klebten, rappelte er sich auf und riss sie sich vom Leib. Er legte sich in die Wanne und ließ sich mit warmem Wasser berieseln. Die Wut war weg; dafür machte sich drückender Frust breit.
Eigentlich hätte er Tobias und dem Grafen etwas Wichtiges mitzuteilen gehabt. Brown hatte ihn um sechs Uhr früh aus dem Schlaf gerissen und ihm am Telefon die Ohren heiß geredet, dass mit diesen Italienern etwas nicht stimmte. Aber er hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als Tobias zur Weißglut zu reizen.
Den Doktor hatte er auf dem Kieker. Er hätte ihm nie dieses bescheuerte Foto mit Maria-Stella unter seiner Bettdecke zeigen dürfen. Glühende Eisen auf der Haut hätten nicht schlimmer sein können als der Neid, der ihn fast zerrissen hätte. In dem Moment hatte er den Doktor gehasst. Er wollte ihn verletzten, damit er endlich den Selbsthass nicht mehr spürte. Das war unfair.
Wenn vor zwei Tagen nicht die Sache zwischen ihm und Naomi passiert wäre, hätte er lediglich einen anerkennenden Pfiff zwischen den Zähnen ausgestoßen, dass dem Doktor die Backen rot angelaufen wären. Er wäre vielleicht neidisch gewesen, hätte Tobias aber diese Frau gegönnt und ihn niemals vor den anderen bloßgestellt. Sascha hätte ihm eine scheuern sollen, vielleicht hätte ihn das zur Vernunft gebracht.
Vor zwei Tagen hatte es Naomi geschafft, das Übelste in ihm zu wecken, das in ihm schlief. Er hatte nicht geahnt, dass es diese dunkle Seite in ihm gab. Er war nichts anderes als ein Haufen Bullshit.
Tobias hatte diese dunkle Seite nicht. Stattdessen hatte er Grips.
Es war immer ein Fehler, Tobias zu reizen. Der Schuss, ging immer nach hinten los. Das hätte er wissen müssen. Der Mann kochte schnell über, haute einem aber mit seiner Schlagfertigkeit vor den Latz, dass die vergifteten Pfeile, die man auf ihn abgeschossen hatte, geradewegs zu einem zurückflogen.
Bei ihm hatten sie ins Schwarze getroffen. Und sie taten weh. Er wusste nicht, wohin mit seinen Gefühlen. Er hatte Angst vor ihnen, weil ein Haufen Bullshit nicht mit ihnen umgehen konnte. Das war ihm zu hoch.
Er drehte die Dusche gnadenlos auf kalt. Es gab keine Möglichkeit, alles wieder einzurenken, das war nicht sein Ding. Naomi würde nie mehr mit ihm sprechen, sie ertrug weder seinen Körper, noch seinen Geruch, nicht einmal mehr seinen Atem in ihrer Nähe.
Ihm fehlten das Mundwerk und der Grips. Alles das, was Tobias hatte und er nicht. Was ihm passiert war, wäre Tobias nie passiert.
Jemand klopfte drängend an seine Tür. „Steven!“, rief Kim, Naomis Sohn. „Wir bleiben doch Freunde, oder nicht?“, fragte er mit krächzender Milchbartstimme. „Mach auf, Steven!“, flehte er.
Gordon erstarrte. Schuldbewusst drehte er die Dusche aus. Wasser perlte über seine gefühllos gewordene Haut. Langsam griff er sich ein Handtuch und wickelte sich darin ein. Dann ging er mit nassen Füßen zur Tür.
Unschlüssig blieb er stehen. „Verschwinde! Wir sprechen später darüber, verstanden?“
Der Junge verharrte noch eine Weile vor der Tür, dann zog er ab.
Er konnte nicht mal dem Jungen in die Augen sehen. Nicht mal das schaffte er.
*
Beatrice stieg in die letzte Straßenbahn, die heute Nacht fuhr. Sie hatte ein paar Tage bei Lena übernachtet, weil ihr Mann Thomas wieder einmal auf Dienstreise gewesen war. Heute Abend war er mit einiger Verspätung sicher gelandet. Lena war schier am Durchdrehen gewesen und hatte im Videotext die Ankünfte der Flüge in Frankfurt verfolgt.
Seit Lena ihr erstes Kind erwartete, ertrug sie es nicht, alleine zu sein. Sie stand Höllenängste aus, wenn Thomas aus geschäftlichen Gründen für zwei Wochen nach Südafrika fliegen musste. Das war, wenn man ein Kind im Bauch hatte, unvorstellbar weit weg.
Beatrice verstand das und hatte ihr vorgeschlagen, ein paar Tage bei ihr zu übernachten.
Lena war im sechsten Monat schwanger. Beatrice hatte ihre Hand auf den harten Bauch gelegt und geduldig gewartet, bis sie die zaghaften Bewegungen des Ungeborenen gespürt hatte. Tobias würde wohl nie ein Kind mit ihr haben wollen. Dafür war in seinem Leben kein Platz.
Sie drückte ihre Nase an die Scheibe und starrte in die Dunkelheit; eine Lampe an der Straßenbahndecke flackerte. Ein paar Autos rasten wie Geister die leeren Straßen entlang.
Sie betrachtete ihr Spiegelbild, starrte in die dunklen Augenhöhlen, und ein dumpfer Gedanke, der sie schon den ganzen Tag verfolgte, seit sie Lenas Bauch mit dem vorgewölbten Nabel berührt hatte, drängte sich wieder auf. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal ihre Periode gehabt? Sie schrieb sich so etwas nie auf, es kam und ging, wie es Lust und Laune hatte. Aber diesmal kam ihr der Abstand doch etwas lang vor. Schon seit heute Mittag grübelte sie darüber nach, fast hätte sie gegenüber Lena eine Bemerkung gemacht. Doch auf Lenas Mitleid hatte sie keine Lust.
Tobias war Lena suspekt. Ein Türke mit einem deutschen Namen, ein Weltenbummler, der ein warmes Bett für gewisse Stunden suchte. Lena stand nicht auf Kerle mit ungepflegten Haaren und Klamotten, die an allen erdenklichen Stellen praktische Taschen hatten, in denen sich tückischer Kleinkram versteckte. Seit Lena einmal Tobias’ Wäsche gewaschen hatte, weil seine Waschmaschine kaputt war und ein vergessener Draht in einer der vielen Taschen die Trommel geschrottet hatte, konnte Lena ihn nicht mehr ausstehen.
Beatrice schwor sich, das nächste Mal ein unauffälliges Kreuzchen in ihren Kalender zu malen (falls es ein nächstes Mal gab).
Es durchfuhr sie kalt, wenn sie daran dachte, dass an dem Abend, an dem er nach sechs Wochen aus der tiefsten Mongolei heimgekehrt war, sie ihm nicht mal Zeit gelassen hatte, sich in der Wanne einzuweichen. Sie hatte ihn wie eine Spinne in ihr Netz gezogen und aufgefressen. Er konnte nicht einmal mehr zappeln. Das Ganze erinnerte sie an Großmutters Geschichten von heimgekehrten Soldaten oder Matrosen, die in einer Nacht ein Kind zeugten. Angeblich löste die unerwartete Heimkehr durch die freigesetzten Glückshormone einen spontanen Eisprung aus.
Wieso sollte immer alles gleich knüppeldick kommen? Spontane Eisprünge gab es nicht. Sie rieb sich die erröteten Backen, auf einmal wurde ihr heiß. Wie reagierte Tobias, wenn sie tatsächlich schwanger wäre?
Eine extrem helle Leuchtreklame an einer Straßenkreuzung blendete sie. Es wird der Stress sein, dachte sie.
An der nächsten Haltestelle stieg sie aus. Undurchdringliche Ligusterhecken säumten den Weg wie eine dunkle Wand. Trotz der hellen Beleuchtung machten ihr die gähnend leeren Straßen Angst. Sie hatte es nicht mehr weit, trotzdem rannte sie das letzte Stück.
Lena hatte es gut. Sie war jetzt nicht allein. Was waren schon zwei Wochen Dienstreise? Schon nach einer Woche fing Lena an, sich zu fragen, ob es eine richtige Entscheidung gewesen war, Thomas zu heiraten. Spätestens dann ging ihr Lena auf die Nerven. Tobias war ständig weg. Doch davon wollte Lena nichts wissen. Schließlich habe Beatrice nicht vor, dieses türkische Windei zu heiraten, und bei ihrem tollen Beruf gebe es wohl nichts Dämlicheres, als Kinder in die Welt zu setzten.
Sie traute sich nicht zuzugeben, dass sie Lena beneidete. Lena war nicht einsam, das merkte sie nur nicht. Auf Beatrice wartete eine dunkle Wohnung. Abgestandene Luft würde ihr entgegenschlagen. Und in Tobias’ Wohnung gegenüber wäre es mucksmäuschenstill. Wenigstens war er jetzt nicht an irgendwelchen Stellen der Erde, von denen sie gar nicht wusste, dass es sie auf diesem Planeten gab. Er war in Neapel, praktisch um die Ecke.
Er hatte ihr diese entsetzlichen Fotos gezeigt, die ihn genauso verwirrt hatten wie sie. Das war eine poplige Fotomontage, was sonst? Bestimmt hatte ihm jemand aus seinem Team einen üblen Streich gespielt. In den nächsten paar Tagen würde er sie lachend anrufen und ihr erzählen, dass die gesuchte Person in Wirklichkeit ganz anders aussah.
Irgendwann würde sie bestimmt die Gelegenheit haben, Tobias‘ Team kennen zu lernen, dann nähme sie kein Blatt vor den Mund!
Andererseits gehörte Tobias nicht zu den Menschen, die sich leicht hinters Licht führen lassen. Was, wenn die gesucht Person genauso aussah wie sie? Wenn es keine Fälschung war, lebte in Neapel ein Double. Manchmal fragte sie sich, ob sie das nicht alles nur geträumt hatte.
Und Tobias? Sie hatte das ungute Gefühl, dass er ihr nicht glaubte.
Sie schleppte sich müde die Treppe hoch und schloss die Tür auf. Seit ein paar Tagen war sie ständig müde. Das lag daran, dass Lena unter Schlafstörungen litt, weshalb sie Beatrice halbe Nächte hindurch mit ihren Ängsten geplagt hatte.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, zerrte sie sich die Kleider vom Leib und warf sie achtlos über einen Stuhl. Sie zog ihr Schlafshirt unter dem Kopfkissen hervor, und kaum hatte sie es sich übergezogen, schmiss sie sich ins Bett.
Sie wollte das Licht ausknipsen, als ihr die korrigierten Chemie-Klausuren ihrer Schützlinge einfielen, die schon seit Tagen auf Tobias’ Schreibtisch vor sich hinstaubten. Sie hatte schon letzte Woche versprochen, sie mitzubringen.
Murrend quälte sie sich aus dem warmen Bett. Wenn sie vermeiden wollte, dass ihre Schüler sie unschuldig fragten, ob bei ihr zu Hause alles in Ordnung sei, blieb ihr nichts anderes übrig, als jetzt aufzustehen und die Klausuren jetzt sofort in ihre Tasche zu stecken. Seufzend schnappte sie sich Tobias’ Hausschlüssel und dachte noch im letzten Moment daran, ihren eigenen mitzunehmen. Das wär’s gewesen!
Im Treppenhaus zog es kühl um ihre Beine. Gott, sie stand ohne Hausschuhe und Morgenmantel hier draußen. Schnell drückte sie sich an Tobias’ Wohnungstür und öffnete sie so leise wie möglich. Hoffentlich gaffte die alte Schachtel nicht durch den Spion, sonst lag am nächsten Morgen wieder ein freundlicher Brief mit dem dezenten Hinweis vor ihrer Tür, intime Geräusche bitte nur in Zimmerlautstärke von sich zu geben.
Sie verzichtete auf Licht, das Mondlicht genügte ihr, den Weg zu Tobias’ Arbeitszimmer kannte sie im Schlaf. Drinnen roch es nach Gebratenem und Kaffee, das hätte sie stutzig machen sollen, aber in ihrem Zustand registrierte sie es nicht. Sie huschte in Richtung Arbeitszimmer und ahnte nicht, dass der Zweisitzer ausgezogen war.
Sie hatte nicht mehr die Zeit sich zu wundern, als sie stolperte und mit voller Wucht auf einen warmen Körper prallte. Doch der Körper gehörte nicht Tobias.
Entsetzt schrie sie auf.
Dem Grafen blieb schlagartig sie Luft weg. Ein stechender Schmerz drohte ihn zu zerreißen. Instinktiv rollte er sich zur Seite und versuchte die schreiende Frau, die ihn geschlagen hatte, festzuhalten. Er bekam die Handgelenke zu packen und schaffte es, die hysterische Person auf den Bauch zu zwingen und ihre Arme auf den Rücken zu drehen. Er kniete sich auf sie, damit sie ihn nicht trat.
Beatrice schrie gellend in das Kissen. Der Kerl hatte sie eingekeilt und konnte sie jetzt vergewaltigen.
Das Licht ging an. Entsetzt stellte sie fest, dass plötzlich ein weiterer Mann in Unterhosen im Wohnzimmer stand und dem anderen Kerl auf Französisch etwas zurief. Beatrice glaubte den Verstand zu verlieren, als sie in die dunkle Mündung einer Waffe blickte, die der Kerl in Unterhosen auf sie gerichtet hielt.
Erst als Tobias mit blassem Gesicht die Waffe sicherte, erkannte sie ihn.
„C’est toi, Beatrice?“, fragte er mit spitzer Stimme.
Er legte die Waffe beiseite und überschüttete sie mit einem vorwurfsvollen Schwall auf Französisch. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie verstand kein Wort.
Der Mann neben ihr ließ sie sofort los und legte ihr beruhigend einem Arm um die Schultern. „Wir haben ein Kommunikationsproblem, Tobias!“, sagte er auf Deutsch. „Zur Abwechslung dürfen sie sich mal wieder in Ihrer Muttersprache mit uns unterhalten.“
Tobias hielt einen Moment inne. Er hatte offensichtlich gar nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit Französisch gesprochen hatte.
„Wieso machst du kein Licht?“, fragte er wesentlich gefasster. „Herrgott, ich dachte du wärst ein Einbrecher!“
Beatrice lugte verlegen auf ihre nackten Beine, ihr Shirt war hoch gerutscht. Gott sei Dank hatte sie einen einigermaßen vernünftigen Slip an.
Der Mann neben ihr sah sie freundlich an. „Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte er mit einem charmanten, französischen Akzent. „Sie sehen, wir alle sind nicht gerade stadtfein angezogen. Damit würde man selbst beim Gassigehen großes Aufsehen erregen“.
Tobias zog Beatrice hoch und drückte sie fest an sich. „Beschissenes Gefühl, eine Waffe auf dich zu richten, das kannst du mir glauben“, raunte er.
Der Mann lächelte sie aufmunternd an. „Darf ich mich vorstellen? Jean Louis Baptiste de Boulogne.“
Beatrice nahm die dargebotene Hand und schaute in das feingeschnittene Gesicht, das von einem zerzausten Lockenkopf umrahmt wurde. Sympathische Lachfältchen bildeten sich um seine braunen Augen, die an dunkle Bernsteine erinnerten. Absurd, dass sie vor einer Minute angenommen hatte, dass sie dieser Mann vergewaltigen wollte.
„Es tut mir leid, wenn ich Ihnen wehgetan habe“, sagte sie verlegen. „Normalerweise stolpere ich nachts nicht über Schlafende.
Er strich ihr über die geröteten Handgelenke, auf denen deutliche Druckspuren zu sehen waren. „Ich denke, wir sind quitt, Mademoiselle.“
Tobias schaute auf ihre nackten Füße. „Wieso schleichst du halbnackt um diese Uhrzeit in meiner Wohnung rum? Wo bist du die letzten zwei Tage gewesen?“
„Lena hat meinen Beistand gebraucht. Ich dachte du wärst in Neapel.“
Tobias lächelte erleichtert. Er rückte seine Brille zurecht und küsste Beatrice noch einmal auf die Wange. „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.“
Beatrices Gesicht hellte sich auf. „Habt ihr eueren Auftrag in Neapel etwa schon erledigt?“
Er blickte sie lange mit seinen warmen Augen an. „Morgen, Beatrice. Jetzt ist nicht die Zeit dazu.“
Sie wollte etwas erwidern, aber er schaute sie so eindringlich an, dass ihr fröstelte.
Niemand aus dem Team hatte Tobias einen Streich gespielt. Es gab keine Fotomontage. Irgendwo in Neapel existierte eine andere Beatrice, die untergetaucht war und die von Tobias gesucht wurde.
Wortlos klemmte sie sich die Chemie-Klausuren unter den Arm und verschwand aus Tobias’ Wohnung.
*
Tobias lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen neben dem Grafen und starrte an die hell erleuchtete Zimmerdecke. „Sie hat die Fotos verdrängt, Jean“, sagte er.
„Ich habe Kreuzschmerzen! Ich bitte Sie, gehen Sie schlafen. Sie sagten doch selbst, es wäre nicht die richtige Zeit.“ Der Graf hatte sich mühsam in seinem Schlafsack eingerollt und ächzend zu Seite gedreht.
Tobias blieb liegen. „Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir sollten den Auftrag ablehnen.“
Der Graf drehte sich so gut er konnte zu ihm um. „Wir haben unterschrieben, mein Lieber! Mr Brown wird Sie fressen.“
„Der hält nicht seinen Kopf hin.“
„Die Nacht ist die Mutter der Gedanken, Tobias. Wir sollten schlafen!“
Tobias stand auf. „Beatrice ist nicht die Person in dem Video!“, sagte er fest.
Der Graf gähnte. „Warum sind Sie sich so sicher?“
Tobias antwortete nicht gleich. Eine Unruhe überfiel ihn. Nervös ging er auf und ab.
„Beatrice ist spontan und kann Gefühle nicht gut verstecken. Ich kann in ihrem Gesicht lesen, was sie fühlt. Sie ist es nicht!“
„Bitte setzen Sie sich! In diesem Zustand haben Sie mich schon immer nervös gemacht.“
„Gordon verlangt, dass Beatrice die Mondadoris trifft, weil er in seiner Naivität glaubt, alle würden sich in die Arme fallen.“
„Sie haben Angst um sie, habe ich Recht?“
Tobias hielt im Laufen inne und schaute den Grafen erstaunt an. „Haben Sie schon einmal überlegt, wer für ihre Sicherheit garantiert? Was sind die Mondadoris für Leute? Beatrice wird unterstellt, dass sie lügt, aber wer sagt uns, was es mit unseren Auftragsgeber auf sich hat?“
Der Graf zupfte sich am Kinn. „Reden Sie morgen mit Beatrice. Sie muss entscheiden, ob sie diese Leute sehen will.“
„Ich will nicht, dass die Mondadoris sie sehen. Da ist was faul. Wenn es keine Zwillinge sein können und Beatrice die Wahrheit spricht, muss was faul sein. Was wollen diese Leute von ihr?“
„Ich kenne Beatrice nicht, Tobias. Wenn Sie sich absolut sicher sind, dass sie nicht die Person in dem Video ist, müssen Sie mit dem Chef reden.“
Tobias zuckte hilflos mit den Schultern. „Das müssen Sie machen, Graf. Was ich sage wird ihn nicht interessieren.“
Der Graf richtete sich mit schmerverzerrtem Gesicht auf. Er schleppte sich gebeugt zu seinem Rucksack und kramte ein Röhrchen Tabletten heraus. „Ihre Beatrice hat mich arg zugerichtet. Diese Prellung wird mir ein paar Tage zu schaffen machen.“
Tobias half ihm auf das ausgezogene Sofa zurück. Er löste eine Schmerztablette im Wasser auf und reichte ihm das Glas. „Wir sollten den Auftrag widerrufen, Jean, überlegen Sie es sich.“
„Ich überlege mir jetzt vor allem eins: zu schlafen! Noch ein Wort und Sie werden mich von einer anderen Seite kennen lernen, mein Lieber. Bitte: Machen Sie endlich das Licht aus!“
Tobias hob abwehrend die Hände und zog sich in sein Schlafzimmer zurück.
Er wusste nicht, welcher Teufel ihn ritt, als er um drei Uhr morgens Gordons Nummer wählte. Härtnäckig ließ er es tuten, bis er nach einigen Minuten ein wütendes Knacken hörte und sich die Mailbox mit der global sympathischen Frauenstimme meldete. Tobias schaltete sein Handy aus und legte es unter sein Kopfkissen.
*
Beatrice kauerte mit eng umschlungenen Knien auf ihrem Sofa im Wohnzimmer. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ihr war, als hätte sie ein eisiger Atem schockgefroren. Bei der geringsten Bewegung würde sie zersplittern.
In der ganzen Wohnung brannte Licht. Selbst im Bad und in der Küche. Sogar in der verschlossen Abstellkammer. Das tat sie immer, wenn die Welt mit ihr in ein tiefes Loch fiel. Dann fürchtete sie sich wie ein kleines Kind vor der Dunkelheit. Im Dunkeln lauerte etwas, was sie nicht sehen konnte und seine Hand nach ihr ausstreckte.
Wie damals, als ihre Eltern ihr an ihrem 18. Geburtstag mit blassen Gesichtern ein Geheimnis erzählten. Seitdem gab es ein schwarzes Loch, das die Welt zerstörte.
Sie war mit Fäusten auf Heide und Jakob losgegangen. Jakob hatte halbherzig ihre Schläge abgewehrt, sich geduckt wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz. Als sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich nach Stunden immer noch nicht gerührt hatte, setzte er sich vor die Tür und begann zu reden. Er erzählte ihr, dass sie ein Recht darauf gehabt habe, es von ihnen zu erfahren, weil Heide und Jakob sie liebten.
Ihre Füße waren kalt, aber das störte sie nicht. Ihr Herz hämmerte wild, sie spürte es in jeder Faser ihres Körpers. Wenn Heide und Jakob jetzt bei ihr wären, hätten sie sie liebevoll in den Arm genommen. Die Vergangenheit, die ihr genommen worden war, holte sie jetzt ein. Ausgerechnet Tobias, der nichts ahnte, hatte die schlafenden Geister geweckt.
Beatrice ahnte, wer diese Leute waren und sie musste sie unbedingt sehen. Sie wollte wissen, was sie dann spürte. Doch davon würde sie niemandem etwas sagen, nicht einmal Tobias. Die Gefahr, dass ihre heile Welt wie ein Kartenhaus zusammenbrach, war zu groß.