Langsam öffne ich die Augen, doch sehe nichts. Um mich rum ist alles duster. Ich liege auf dem Rücken, der Schmerz zerreißt mich fast. Meine Zuge fährt über meine Zähne, tastet mein Zahnfleisch ab. Ich schmecke mein eigenes Blut, fahre mit der Zunge über abgebrochene Stummel, die einmal meine Zähne waren, und offene Wunden im Zahnfleisch. Ein Husten schüttelt mich, jede Bewegung löst eine Lawine an Schmerzen aus, die auf mich niedersaust. Langsam versuche ich aufzustehen, festzustellen, was mit mir geschehen ist, doch ich dringe einfach nicht durch den Nebel. Wie lange
war ich bewusstlos? Mühsam schaffe ich es eine sitzende Haltung einzunehmen. „Aua“, entfährt es mir. Welch lapidare Äußerung in Anbetracht meiner Lage. Fassungslos schüttle ich meinen Kopf, der mich fast umbringt. Ich habe riesigen Druck im Kopf, jede kleine Bewegung meiner Augen verstärkt dieses Gefühl. Mein Hirn kreist um die Frage, warum ich noch nicht tot bin, da es sich so anfühlt, als wäre dieser nicht mehr weit entfernt. Vorsichtig betaste ich meine Stirn und Schläfe, versuche das blutverklebte Haar von der Wunde an meiner Schläfe zu entfernen. Ein Stöhnen vor Schmerzen entfährt mir und ich spüre eine Übelkeit noch unbekannten
Ausmaßes in mir aufsteigen. Plötzlich regt sich mein geschundener Verstand, mein Handy, ich kann Hilfe rufen. Für einen kurzen Moment legt sich die Panik und Hoffnung keimt auf, vielleicht gibt es eine Rettung. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich kann erkennen, dass meine ehemals beige Hose, mit den vielen Taschen an den Beine sieht furchtbar aussieht, überall Löcher, Blut und Schmutz. Ich betaste die einzelnen Taschen, hier irgendwo musste das Handy doch sein. So schnell meine Verletzungen es mir erlauben durchwühle ich meine Taschen doch
nichts, das Handy ist weg. Ich bemühe mich aufzustehen, es kostet mich viel Kraft, doch ich ziehe ich an einem Müllcontainer hoch und betrachte zum ersten Mal genauer die Umgebung, in der ich erwacht bin. Mülltonnen- und säcke stehen um mich herum, es ist dunkel, die Lampe über dem Hinterausgang ist zerschlagen, so dass nur das spärliche Licht von der Straßenlaterne der Hauptstraße ihren Schein in die Gasse wirft. Ich sehe Backsteinmauern um mich herum und die Finsternis. Es ist so dunkel, dass ich die Hand vor Augen kaum sehen kann. Ich kann mich nicht erinnern wie ich hier her gekommen bin, geschweige denn, wo ich mich überhaupt
befinde. Mein Gehirn arbeitet nur äußerst träge und die Schmerzen in meinem Kopf und nun auch noch die in meinem rechten Bein, die ich im Liegen überhaupt nicht bemerkt habe, machen mich fast verrückt. Ein Schleifen… Ich habe eben eindeutig ein schleifendes Geräusch wahrgenommen. Doch aus welcher Richtung kam es? An den Müllcontainer geklammert verharre ich stocksteif. Mehr als schemenhafte Umrisse kann ich nicht wahrnehmen. Da ist es wieder, dieses Geräusch und dann Schritte. Ich bin nicht allein. Die Anwesenheit der zweiten Person wird mir deutlich
bewusst. „Hallo? Ist da jemand?“, rufe ich zögerlich. Auf eine Antwort warte ich vergeblich. Und wieder „Wer ist denn da? Bitte, ich brauche Hilfe." Nichts. Die einzige Reaktion ist die Stille. Die Schritte werden lauter, kommen dichter. Eine Panikattacke erfasst mich. Ich kann nicht mehr atmen, meine Glieder fühlen sich wie aus Stein an. Rote Punkte tanzen hektisch vor meinen Augen. Atmen, atmen! Befehle ich mir selbst. Der Schweiß tritt mir aus allen Poren. „Hören Sie, ich weiß, dass Sie da sind. Zeigen Sie sich.“ Kläglich
klingen meine Worte in meinen eigenen Ohren. Jemand, der sich mitten in der Nach in dieser Gasse rumtreibt, kann sich kein edler Samariter sein. Das Sprechen bereitet mir unsagbar viele Schmerzen, ich schlucke mein eigenes Blut herunter. Dann höre ich es wieder, ein Schleifen, ein Schritt, ein Schleifen ein Schritt, immer im Wechsel. Ich versuche mich zu erinnern wo ich das Geräusch schon einmal gehört hatte, doch es fällt mir einfach nicht ein. Das Einzige, das ich wahrnehme ist die Tatsache, dass es immer dichter zu kommen scheint. Langsam versuche ich um den Müllcontainer herumzugehen, während ich mich noch immer an diesen
klammere und sehe einen ganz schwachen Lichtschein. Ein Streichholz? Unmöglich, geht es mir im Kopf umher. Ich lasse den Container los, teste aus, ob ich auch ohne allein stehen oder sogar gehen kann. Mit zusammengebissenen Zähnen gehe ich vorsichtig einen Schritt. Nach weiteren drei Schritten bleibe ich stehen, krümme mich zusammen und atme die stickige Luft ein. Es ist heiß und riecht nach Müll. Mir dreht sich der Magen um. Der Geruch und der Schmerz verursachen mir eine Übelkeit, die sich in einem Schwall Erbrochenem Luft macht. Keuchend atme ich bemüht ruhig ein und aus, richte mich wieder auf und gehe weiter. Langsam bewege ich mich
auf den Schein zu, dichter, langsam, noch ein Stück dichter. Der Lichtschein bewegt sich leicht, dabei ist es komplett windstill. Selbst in meiner jetzigen Situation ist mir klar, dass das Streichholz, wenn es denn eines ist, von jemandem gehalten werden muss. Ich raffe all meinen Mut zusammen und schleiche weiter voran, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Wie viele Meter mag ich wohl noch entfernt sein? Vielleicht zwei bis drei? Es könnten allerdings auch mehr sein, schätzen gehörte noch nie zu meinen Stärken. Ich bin dicht genug, um eine Silhouette erkennen zu können. Mein Gegenüber ist schätzungsweise 1,90 Meter groß und hat
eine schlanke Figur. Es muss sich eindeutig um einen Mann handeln. Mir stockt der Atem. Die Panik droht mich erneut zu übermannen. Weiter! Dränge ich mich in Gedanken und so gehe ich weiter, taste mich durch die finstere Nacht. Der Mann verharrt starr in seiner Position, sieht fast so aus, als würde er an der Hauswand lehnen. Ich taste mich weiter vor, bin nun schon so nah, dass ich seinen Hinterkopf erkennen kann. Sein Blick ist nach unten gerichtet, er sieht nicht in meine Richtung. Vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass ich beobachtet werde. Aber ich habe es doch
gefühlt. Das Kribbeln im Nacken, der Schweiß der mir zwischen den Schulterblättern hinabrennt. Ich fühle mich wach und das in meinem Körper freigesetzte Adrenalin weckt zaghaft meine Neugier. Die Mischung aus absoluter Panik und perverser Neugier treiben mich zum weitergehen an. Ich stehe direkt hinter ihm, wenn ich meinen Arm jetzt ausstrecke, kann ich ihn berühren. Er regt sich jedoch nicht, hält den Kopf weiter gesenkt, blick scheinbar zu Boden. „Hallo?“, flüstere ich. Keine Reaktion. Behutsam strecke ich
meinen Arm aus, gehe noch einen Schritt näher. Mein Herz hämmert wie irre, mein Mund ist trocken. Schweiß und Blut laufen mir in die Augen. Stoßweise atmend berühre ich die Gestalt mit meinen Fingerspitzen an der Schulter. Eine Reaktion bleibt aus. Verwirrt ziehe ich meine Hand zurück und runzle die Stirn. Die Anspannung in meinem Körper wächst mit jedem Herzschlag. Ich lege den Kopf leicht schief, betrachte den männlichen Körper unmittelbar vor mir. Jetzt erst registriere ich, dass der Lichtschein nicht von einem Streichholz sondern von einer Kerze, wie man sie aus kleinen Weihnachtsgestecken kennt, ausgeht. Das spärliche Licht reicht nicht
aus um viel der Umgebung zu erkennen. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Mutig berühre ich den Arm des Mannes. Keine Reaktion. Ich stoße ihn leicht an. In dem Moment kippt sein Kopf zur Seite, fällt vom Hals hinunter und landet vor meinen Füßen. Starr vor Schreck bin ich nicht in der Lage mich zu bewegen, geschweige denn zu schreien. Mein Blick ist auf den kopflosen Körper gerichtet, da entdecke ich, dass statt eines Halses ein langer Holzstab aus dem Oberkörper ragt. Ein Besenstiel? So schnell es mein Körper zulässt bücke ich mich, um mir den Kopf anzusehen und blicke direkt in das Gesicht einer Puppe. "Was?" entfährt es
mir. Mein Kopf kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich versuche mich zu beruhigen und spreche mir selbst gut zu: "Ganz ruhig Jane, alles wird gut. Das war nur ein dummer Scherz. Das hat absolut nichts mit dir zu tun." Ich schrecke auf, als im angrenzenden Nachbarhaus das Licht angeschaltet wird. Mit der neuen Lichtquelle fällt es mir leichter die Gestalt anzusehen. Noch immer hocke ich vor dem gruseligen Puppenkopf, die mich fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Ich setze mich auf den Boden, schüttele den Kopf. "Was für eine gottverdammte Scheiße." Ich sitze direkt neben meinem Peiniger, von dem jetzt keine Gefahr mehr ausgeht. Ich
sehe nach oben, betrachte ihn näher. Die Kleidung sieht neu aus, nichts besonders schickes, dunkle Hose und T-Shirt, dunkle Schuhe, wahrscheinlich von der Stange. Von seinen Armen hängen Schnüre herab, wie bei einer Handpuppe. „Was zum Teufel...“ entfährt es mir zwischen zusammengepressten Zähnen. Die Hand der Puppe baumelt direkt neben meinem Kopf. Ich erkenne, dass es nur eine kleine weiße LED-Kerze ist. Doch da ist noch etwas. Angewidert greife ich nach der Hand und drehe sie zu mir um. Dort ist ein Stück gelbes Papier. Ich ziehe es hervor und entfalte es eilig. Erneut bricht der Schweiß aus allen Poren, mit zitternden Händen öffne
ich den Zettel und sehe die Schrift: Meine liebe Jane, dies ist noch lange nicht das Ende. "Nein, nein, nein.", wimmere ich und breche in Tränen aus. Drei Wochen zuvor…
„Hey Jane wir gehen noch was trinken, kommst du mit?“ fragt mich meine Arbeitskollegin und mittlerweile auch gute Freundin Kristina. Ich bin Sekretärin in einer mittelgroßen Anwaltskanzlei. Zugegeben, es war nie mein Traumjob aber ich kann davon ganz gut meine Miete bezahlen und im Laufe der Jahre habe ich mich wohl mit dem Job arrangiert. Mit fast 30 stelle ich mir jetzt allerdings langsam die Frage, ob ich mit einem Arrangement tatsächlich den Rest meines Lebens verbringen
möchte. Ich überlege kurz und stimme zu. "Bin dabei. Wo soll's s denn hingehen?“ Es ist Freitag, also Zeit für unser wöchentliches Ritual, das Wochenende mit einem gemeinsamen Abstecher in die Bar einzuläuten. Eigentlich bin ich nicht der Typ dafür. Smalltalk liegt mir nicht besonders und viele meinen ich habe einen sehr eigenwilligen Humor. Daher halte ich meine Kollegen gern auf Abstand. Hin und wieder gehe ich allerdings Freitags mit. Zum einen damit die anderen Kollegen mich nicht für merkwürdig halten und zum anderen weil
Kristina ständig der Meinung ist, ich muss raus, Leute kennenlernen und Spaß haben. Seit ihrem Spruch "Du bist so aufregend wie eingeschlafene Füße" bemühe ich mich, lockerer zu wirken. Kristina grinst von einem Ohr zum andren und meint: „Um die Ecke hat so eine neue Musikbar eröffnet, die wollen wir heute testen.“ Ich zucke mit den Schultern, nicke und versuche mein Gesicht unter Kontrolle zu behalten. Okay, also eine Musikbar…Worauf habe ich mich da nur wieder eingelassen? Kristina ist toll, herzlich, immer gut gelaunt, unglaublich hilfsbereit und doch ein wenig weltfremd. Sie sieht in allem
immer nur das Gute, in den Menschen immer nur das Beste. Ich mache mir häufig Sorgen um sie, denn Mädchen wie Kristina sind beliebte Opfer. Ihre Naivität wird durch ihre püppchenhafte Optik noch unterstrichen. Große Kulleraugen, glänzende Korkenzieherlocker bis zur Schulter und der perfekte kleine Schmollmund zu der perfekten kleinen Stupsnase. Ganz ehrlich? Ich hasse sie weil ich sie liebe. Kristina ist alles das was ich nicht bin und zugleich auch genau das, was ich nicht sein wollen würde. Auf dem Weg zum Fahrstuhl sammeln wir systematisch die restlichen
feierwütigen Arbeitskollegen unserer Abteilung ein, Tim, den blonden und super heißen Abteilungsleiter, Meg unsere Sekretärin die mit Abstand die größte Sammlung an Hello Kitty Bleistiften hat, obwohl sie schon Ende Dreißig ist, unsere Langzeitaushilfe Cora die nebenbei selbst Jura studiert und das wo sie mit ihren 90-60-90 Maßen auch locker als Model arbeiten könnte und Ben, unser Mädchen für alles. Eigentlich ist Ben ebenfalls Sekretär, aber als einziger Mann, ohne zwei linke Hände, übernimmt Ben auch hin wieder kleinere Reparaturen. Es ist mittlerweile 18:00 Uhr, gut
gelaunt machen wir uns zusammen auf den Weg, jeder voller Vorfreude und Erwartungen auf das bevorstehende Wochenende. Die Sound-Bar, welch kreativer Name, ist bereits brechend voll. Zu meiner großen Überraschung und Freude dröhnt die Musik zur Abwechslung nicht aus einem Lautsprecher sondern ist live. Das Duo steckt mitten in Meat loaf's "Anything for love" als wir uns einen Weg hinein bahnen. Es ist bereits stickig und verqualmt und in der Luft liegt eine Feuchtigkeit, die nur durch zu viele Menschen auf engem Raum produziert werden kann. An der Tür und den Wänden wird mit Plakaten geworben,
dass diese Bar neue Talente fördert und Newcomern Chancen gibt. Da mein Musikgeschmack ohnehin vom üblichen Kommerzdenken der Radiosender abweicht, ist mir das nur recht. „Dort hinten ist noch ein Tisch frei.“, ruft Meg uns zu. Zielstrebig geht sie in die Richtung und sichert uns damit unsere Plätze. Wir sitzen kaum fünf Minuten, da kommt auch schon die Bedienung, was in dieser Servicewüste bekanntlich nicht selbstverständlich ist. Sie ist eine blonde Schönheit, volle Lippen die vom Lipgloss feucht glänzen, riesige blaue
Kulleraugen, umrahmt von langen schwarzen Wimpern. Ich bin mir sicher, dass sie nachgeholfen hat und nicht alles ganz so echt ist, wie es wahrscheinlich gerne hätte. Tim und Ben können ihre Blicke kaum von ihr wenden, was mich ehrlich gesagt nicht verwundert. "Hi, was wollt ihr trinken?" fragt uns die Heidi-Klum-Bedienung übermotiviert. Der Einfachheit halber bestellt Cora Bier für alle. Lucy, so heißt unsere Kellnerin laut dem kleinen Namensschildchen, das direkt neben ihrem Ausschnitt platziert ist, nickt und wackelt in ihrem kurzen Rock davon. Ich rolle kurz mit den Augen, um meine Begeisterung über
Lucy zum Ausdruck zu bringen. „Und Leute, hat irgendwer was schönes geplant?“, richte ich die Standard-Freitagabend-Frage an die Runde. Tim sieht von einem zum anderen und erzählt, „Meine Schwester kommt mich mit ihrem Mann und dem kleinen Quälgeist besuchen." „Wie süß, deine Schwester hat ein Kind? Junge oder Mädchen?“, fragt Kristina, neugierig wie immer. Sie hat erst vor kurzem bei uns angefangen, sich aber schon sehr gut
eingelebt, so dass sie noch nicht wissen kann, was Tim mit dem „Quälgeist“ meint. Wir anderen müssen uns ein lautes Lachen bei der Frage verkneifen. „Ähm nein, Kinder hat sie nicht. Der Quälgeist den ich meine ist Fifi, ihr Chihuahua. kein Scherz, das Vieh heißt tatsächlich so und wird behandelt wie ein rohes Ei.“ Wir brechen in schallendes Gelächter. Ich bemerke, dass Cora neben mir mit dem Fuß zum Takt wippt und eisernen Blickkontakt zu einem gut aussehenden Kerl in ihrem Alter hält, der lässig an die Bar gelehnt steht. Sie ist seit vier Monaten Single und genießt die neue Freiheit in vollen Zügen. Die anderen unterhalten sich weiter über ihre mehr
oder weniger spektakulären Wochenenden. Mit einem Ohr lausche ich den Erzählungen meiner Kollegen, bin allerdings mehr auf meine Beobachtung von Cora konzentriert. Sie strafft die Schultern, öffnet den obersten Knopf an ihrer Bluse und streicht sich den Rock glatt, bevor sie sagt: „Ich weiß ja nicht wie es euch geht, aber von dem ganzen Sitzen heute tut mir der Rücken weh. Vielleicht sollte ich lieber ein wenig stehen.“ Mit einem zwinkern gibt Cora uns zu verstehen, dass sie Beute gewittert hat. Langsam quetscht sie sich von ihrem
Platz an uns vorbei, richtet ihren Rock, öffnet tatsächlich noch einen Knopf ihrer Bluse und geht mit verführerischen Schritten auf den Tresen zu. Soviel zu einem gemütlichen Bier mit Kollegen. Meg greift meine vorherige Frage wieder auf und antwortet schlicht: „Putzen.“ Damit hat sie es geschafft, unsere volle Aufmerksamkeit zu bekommen, denn Meg ist ein absoluter Putzmuffel. „Hm…gibt es einen besonderen Anlass?“, frage ich sie. Meg errötet leicht und starrt auf die Tischplatte.
„Also ehrlich gesagt, ich hab da diesen Typen kennen gelernt. Ryan ist sein Name. Wir haben uns vor ein paar Monaten im Chat kennen gelernt.“ Ben sieht sie an und reißt die Augen auf, bevor er mit seiner Moralpredigt beginnt: „Spinnst du Meg? Du kannst dich noch nicht allen Ernstes mit irgendeinem Typen aus dem Chat treffen. Das könnte doch wer weiß was für ein Kerl sein. Liest du keine Zeitung, siehst kein fern?“ Mit rollenden Augen und flehendem
Blick sieht Meg zu mir rüber. Diese Predigt kannten wir bereits von Ben. Er ist nicht nur das Mädchen für alles sondern auch unser selbst ernannter Bodyguard. „Hey beruhige dich. Er ist zweiundvierzig, Bankangestellter, nicht verheiratet oder geschieden, keine Kinder. Ryan geht gern spazieren, interessiert sich für Musik, liest gern und was der absolute Hammer ist, er steht auf Hello Kitty.“ Meg grinst selig von einem Ohr zum anderen. Sie wirkt glücklich. Allerdings müssen wir alle lachen, welcher kriminelle Mann würde schon auf Hello Kitty stehen?
„Das freut mich für dich Meg. Ehrlich.“, sage ich aus vollem Herzen und meine es auch so. Ben und Tim nicken ebenfalls zustimmend. „Lust zu tanzen?“ fragt Tim und sieht dabei ganz eindeutig in Kristinas Richtung. Sie erzählte mir schon vom ersten Tag an, wie toll sie unseren Abteilungsleiter doch findet. Noch fällt es mir schwer einzuschätzen ob Tim das gleiche über sie denkt. Nicht wirklich überraschend antwortet sie: „Ja sehr gern.“ und schenkt Tim ihr strahlendstes Lächeln.
In dem Moment kommt auch schon Lucy, die Heidi-Klum-Kellnerin, mit unseren Getränken. Ben, ganz der Kavalier lädt uns alle ein, mit dem Wissen, dass beim nächsten Mal ein anderer die Rechnung übernimmt. Meg nippt an ihrem Bier und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen, ist in Gedanken wohl schon beim morgigen Tag, an dem Ryan sie besuchen wird. Ben fängt ein Gespräch mit mir an über die Band die gerade spielt, doch ich kann mich nicht wirklich darauf einlassen. In Bens Nähe fühle ich mich häufig befangen und komme mir unzulänglich vor. Ich weiß nicht genau
was es ist aber irgendetwas erweckt meine Aufmerksamkeit. Ich drehe den Kopf und schaue mich im Raum um. Die Bar ist klein, voll aber gut überschaubar und trotzdem habe ich das Gefühl beobachtet zu werden. Meine Augen suchen weiter den Raum ab, doch bis auf das knutschende Pärchen in der Ecke, ein paar tanzende Leute auf der Tanzfläche und eilig umherlaufende Kellnerinnen kann ich nichts entdecken. Es scheint alles ganz normal zu sein. Doch das komische Gefühl verursacht mir einen schalen Geschmack im Mund, feuchte Hände und ein Kribbeln im Nacken. „ Hey hörst du mir überhaupt zu?“ Ben
sieht mich besorgt an. „Was? Zuhören, ja klar, ich hör dir zu. Erzähl ruhig weiter.“, antworte ich ihm und versuche das Unbehagen zu überspielen. Ben ist nicht auf den Kopf gefallen, und nimmt seine Umwelt erstaunlich sensibel, für einen Mann, wahr. "Alles in Ordnung Jane? Du bist ziemlich blass.“ Ich schüttle den Kopf, versuche zu lächeln. „Nein nein, alles bestens. Ich denke ich werde mal kurz für kleine Mädchen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten stehe ich
auf und gehe in Richtung der Toiletten. Zu meinem Glück muss ich nicht anstehen und kann mich gleich in die sichere Kabine einschließen. Was ist nur mit mir los? Ich bin sonst kein ängstlicher Typ aber irgendetwas fühlt sich in der Bar bedrohlich an. Ich sehe auf meine Uhr, die leuchtenden Zeiger verkünden das es halb neun ist. Wow, wir sind schon seit zwei Stunden in der Bar, die Zeit ist regelrecht verflogen. Ich denke gerade darüber nach als ich Geräusche höre. Die Tür zu den Toiletten ist, soweit ich es mitbekommen habe, nicht geöffnet worden. Ich bin noch immer allein. Schritte, nein, ein Schritt und ein Schleifen. Das kann gar nicht
sein, ich bilde mir nur Schritte ein weil ich noch nervös bin. Aber es kommt näher und das Schleifen wird deutlicher. Ich wage es nicht mich zu bewegen, ziehe die Beine an, so dass meine Füße von außen nicht zu sehen sind, während das Schrittgeräusch und auch das Schleifen immer deutlicher werden. Ich hocke zusammengekauert auf dem Toilettensitz, mir bricht der Schweiß aus. Mein Nacken ist feucht, meine Hände kleben und meine Zunge fühlt sich in meinem trockenen Mund wie Smirgelpapier an. Mit angehaltenem Atem lausche ich weiter, doch es ist wieder still, nur die Musik aus dem Barbereich dringt leise durch die Wände.
Ich atme tief durch und stelle meine Füße zurück auf den Boden. Auf Zehenspitzen gehe ich auf die Kabinentür zu und drehe langsam an dem Schlüssel. Ich bin mir unsicher ob ich die Tür öffnen soll, entscheide mich dann aber dafür. Schließlich kann ich mich nicht ewig auf der Toilette einer Bar verstecken weil mir mein gereiztes Hirn einen Streich spielt. Vorsichtig drücke ich die Tür auf und spähe langsam um die Ecke. Nichts. Dort ist niemand. Ich komme aus der Kabine heraus und schüttele den Kopf. Ein Kichern entfährt mir. „Jane, Jane, Jane, du solltest wirklich über Urlaub nachdenken“ murmele ich vor mich hin. In Gedanken
versunken gehe ich zu den Waschbecken, drehe das Wasser auf, benutze die Seife und wasche mir gründlich die Hände. Da ich nicht viel Wert auf Make up lege, mache ich mir auch keine großen Gedanken als ich mir das angenehm kühle Wasser ins Gesicht spritze. Bisher habe ich nicht auf die Spiegel geachtet, erst jetzt als ich nach dem höher liegenden Handtuchhalter greife sehe ich in den Spiegel und erstarre. Ich habe erwartet mein Spiegelbild zu sehen doch das was ich sehe erschüttert mich. An der Ecke des Spiegels ist eine Handpuppe aufgehängt, doch was mich wirklich aus der Fassung bringt ist die Botschaft auf dem Spiegel, die unmissverständlich an
mich gerichtet ist.
Meine liebe Jane,
das Spiel hat begonnen. Wir sind erst ganz am Anfang.
Ich muss mich übergeben. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es in die Kabine und fange direkt an, meinen gesamten Mageninhalt zu entleeren. Keuchend hänge ich vor der Toilette, die Arme auf die Toilettenbrille gestützt. Meine Augen tränen und mein Hals brennt. „Das kann nicht wahr sein, das kann doch einfach nicht wahr sein.“ Immer wieder stammele ich diesen Satz vor mich hin bevor ich weinend zusammenbreche. Ich kann nicht sagen, wie lange ich so da saß als Kristina in den Waschraum kommt.
„Jane? Jane, bist du hier?“ Kristina sucht nach mir. „Hier.“, kann ich nur flüstern. „Ich bin hier.“ Ihre Schritte werden schneller, stoßen jede der fünf Toilettentüren auf bis sie mich in der letzten Kabine zusammengekauert auf dem Fußboden findet. „Mein Gott was ist passiert?“ Die Angst ist Kristina ins Gesicht geschrieben. Sie hilft mir mich aufzusetzen und blickt mich weiterhin panisch an.
„Jane, nun erzähl schon. Ich bin außer mir vor Sorge. Du bist schon eine Ewigkeit verschwunden.“ Und so sitze ich zitternd auf dem Toilettendeckel und zeige schweigend mit dem Zeigefinger auf den Spiegel. Kristina steht auf, dreht sich um und geht langsam auf die Wachbecken zu. Sie bleibt schweigend davor stehen und ich sehe nur, wie sie sich die Hand an den Mund presst. „Was ist das?“, fragt sie, während unsere Blicke sich im Spiegel treffen.
Vorsichtig bewegt sie sich noch ein Stück dichter auf die Spiegel zu, streckt die Hand aus und zieht sie im letzten Moment wieder zurück ehe sie sich umdreht und mich mit ernster Miene ansieht. „Wir müssen die Polizei verständigen.“ Mühsam erhebe ich mich vom Toilettendeckel und gehe wankenden Schrittes auf Kristina zu. Ich reagiere nicht auf ihren Vorschlag, zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf, vor allem eine Frage: Wer? Wer will mich erschrecken? Wer hat das getan? Mir gehen die Schritte und Schleifgeräusche durch den Kopf, ich versuche mich
krampfhaft zu erinnern, ob sie mir bekannt vorkommen, finde aber keine Antwort. Kristina reißt mich aus meinen Gedanken als sie plötzlich vor mir steht und mir den Arm um die Schulter legt. „Jane, hast du eine Idee wer das gewesen sein könnte und vor allem warum? Offensichtlich will dich hier jemand ganz übel erschrecken.“ Ich schüttele den Kopf. „Nein, ich weiß es nicht aber vielleicht ist das auch nur ein riesiger Zufall und ich war überhaupt nicht gemeint. Lass uns abwarten mit der Polizei.“
Kristina reißt ihre Augen auf und starrt mich ungläubig an. „Hast du sie noch alle? Wer sollte denn sonst gemeint sein? Jane Fonda? Dein Name ist Jane, du bist hier komplett allein und es steht eine Botschaft, wenn man das so nennen kann, für Jane auf dem Spiegel. Wir sollten definitiv die Polizei holen.“ Ich glaube selbst nicht an meine Theorie, dass es sich nur um einen merkwürdigen Zufall handelt bin im Moment aber einfach zu überreizt um klar zu denken. „Wo sind die anderen?“, frage ich
Kristina. Vielleicht fand einer von Ihnen es lustig mich zu verängstigen. Verwirrt sieht Kristina auf die Nachricht auf dem Spiegel und reagiert überhaupt nicht auf meine Frage. Endlose Sekunden verstreichen ohne eine Reaktion. „Was?“, fragt sie schließlich. „Kristina, wo sind die anderen?“ Jetzt sieht sie mich endlich wieder an bevor sie antwortet „Die sind kurz nachdem du hier rein bist, los. Ben hat vorgeschlagen noch in den „Moon Club“ zu gehen. Meg ist nach Hause gefahren und die anderen sind schon vorgegangen zum Club. Deswegen bin ich ja hier, ich wollte dich
suchen.“ Also konnte es keiner von ihnen gewesen sein. „Lass uns gehen.“, flüstere ich. Kristina hat ja Recht, wir sollten die Polizei rufen aber was sollen wir Ihnen sagen? Hallo, ich bin Jane und die Botschaft auf dem Spiegel ist ganz offensichtlich für mich? Dann bringen die Cops direkt Verstärkung in Form von Pflegern der psychiatrischen Anstalt mit. Alles was ich im Moment will ist raus hier. Ich muss denken und solange ich die Botschaft auf dem Spiegel anstarre, kann ich das nicht. Wir hören ein Klopfen an der Tür.
„Wer klopft denn bitte an die Tür einer öffentlichen Toilette?“, fragt Kristina, wohl eher sich selbst als mich. Raschen Schrittes geht sie auf die Tür zu und ist ebenso überrascht wie ich als sie sieht, wer da geklopft hat. Es ist Ben. „Kristina, ist alles klar bei euch? Ich habe vor dem „Moon Club“ auf euch gewartet und als ihr nicht kamt wollte ich nach euch suchen. Warum seid ihr denn immer noch auf der Toilette?“ Kristina sieht mich über die Schulter hinweg an, bittet mich lautlos um Erlaubnis, Ben davon zu erzählen. Ich
verwehre ihr die Erlaubnis in dem ich fast unsichtbar mit dem Kopf schüttle. Nicht noch mehr Leute sollen in diesen kranken Scheiß hereingezogen werden, egal ob es tatsächlich um mich geht oder nicht. Schließlich antwortet Kristina mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen: „Mädchenkram, du weißt schon.“ und zwinkert Ben verschwörerisch zu. Dieser guckt nur verwirrt an ihr vorbei, auf der Suche nach mir. Ich habe mich von außen gegen die Kabine gelehnt, da ich meinen Beinen noch nicht ganz traue. Ich atme tief ein und aus und gehe schließlich auf die Tür zu.
„Hi Ben. Hast du dich nicht in der Tür geirrt?“, versuche ich zu scherzen. Ben bemerkt mein chaotisches Aussehen, mustert mich mit zusammengezogenen Augenbrauen aber schweigt, zu meiner großen Freude. Sekunden der Stille treten ein bis Ben fragt: „Ähm, kommt ihr mit rüber zum „Moon Club“?“ Zögerlich sieht er von Kristina zu mir, woraufhin Kristina mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck ansieht. In den Club zu gehen ist das Letzte wonach
mir jetzt der Sinn steht. Ich will nach Hause, in mein Bett und den Abend hinter mir lassen. „Also ich bin raus. Ich denke ich werde schlafen gehen.“ Antworte ich. Kristinas Gesichtsausdruck zeigt mir, dass sie hin und her gerissen ist, nicht weiß, ob sie mit mir oder in den Club gehen soll. „Geh ruhig.“, beende ich ihr Chaos im Kopf. „Es macht mir wirklich nichts aus.“ Da Ben nichts von den Geschehnissen weiß und das auch gern so bleiben kann, habe ich ihr fast jeglichen Wind aus den
Segeln genommen. Kristina sieht mich besorgt an. „Ich weiß nicht Jane, was ist wenn es, ich meine deine Bauchkrämpfe wieder kommen?“ Bei dem Wort Bauchkrämpfe wird Ben augenblicklich ein wenig rot im Gesicht. Typisch Mann. „Ich lass euch mal kurz allein.“ Und schon hat Ben reiß aus genommen. Kristina seufzt. „Jane, was hast du jetzt vor? Denkst du nicht, dass es besser wäre, wenn dich jemand nach Hause bringt? Das macht mir wirklich nichts aus.“ Ich schüttle den Kopf. Auf keinen Fall soll Kristina in diese merkwürdige Sache mit reingezogen werden und falls mich jemand beobachtet, soll er keine
Inspiration für weitere Opfer seiner Stalking- Attacken bekommen. „Alles ist gut, ich gehe nach Hause, lege mich in mein Bett und der ganze Spuk ist vorbei. Geh ruhig mit Ben zu den anderen.“ „Oh Gott Jane, du machst es einem auch schwer. Gut, ich gehe zu den anderen in den Club aber ich frage Ben ob er dich nach Hause bringen kann. Allein lasse ich dich hier nicht weg.“ An ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass es sich nicht lohnt weiter zu protestieren. Also stimme ich zu, mich von Ben, sofern er es denn möchte, nach
Hause begleiten zu lassen. Kristina sieht mir tief in die Augen und meine Angst spiegelt sich auch in ihrem Gesicht wieder. Ich nehme sie in die Arme und murmele nur „Ich weiß“. Damit ist alles gesagt und ich spüre dass sie ihren Druck bei der Umarmung verstärkt, als Zeichen, dass sie mich versteht. Ich löse mich aus ihrer Umarmung. „Lass uns gehen.“ Ben wartet wie unser Bodyguard vor der Tür, froh von den "Frauenproblemen" verschont geblieben zu sein. „Also, wie sieht’s aus?“ Fragt er, während er uns abwechselnd ansieht. Ohne mir die Möglichkeit einer Antwort zu lassen plappert Kristina sofort los. „Jane geht
es nicht gut, du weißt schon, ihre Periode und so. Wärst du so lieb sie nach Hause zu begleiten?“ Bei dem Wort Periode zieht ein regelrecht erschrockener Ausdruck über Bens Gesicht. Auf keinen Fall möchte er nähere Infos haben, willigt aber sofort ein mich nach Hause zu bringen. Wie ein entmündigtes Schulmädchen trotte ich hinter den beiden her zum Ausgang. Draußen vor der Tür sieht Kristina mich streng an, bevor sie mich zum Abschied in den Arm nimmt und mir zuflüstert: „Falls dir irgendetwas heute Nacht komisch vorkommt, ruf bitte sofort die die Polizei, versprichst du mir das?“ Ich
nicke nur, doch das scheint ihr bereits zu reichen. „Pass gut auf sie auf Ben.“ Ermahnt sie ihn bevor sie sich umdreht und in Richtung „Moon Club“ geht. Die 20 minütige Taxifahrt mit Ben ist angenehm. Wir reden ein bisschen über die Arbeit, Kollegen und den heutigen Abend. Ben erzählt mir, dass er es toll findet in einem so gut harmonierenden Team zu arbeiten. Ich stimme ihm ohne Kompromiss zu, denn ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, sich mit seinen Kollegen zu verstehen und sogar gern zur Arbeit zu gehen. Die Zeit vergeht sehr schnell und ich bemerke erst, dass wir am Ziel sind, als der
Taxifahrer sich zu mir umdreht. „Wir sind da. Macht dann 30,50.“ Da hat jemand Spaß an seinem Job geht mir zynisch durch den Kopf. Ben hat mich offensichtlich so gut abgelenkt, dass ich für einen kurzen Augenblick die Ereignisse des heutigen Abends verdrängen kann. Ich reiche dem Fahrer sein Geld und verabschiede mich von Ben. „Vielen Dank, dass du mich begleitet hast. Du weißt ja wie Kristina ist.“ Ben grinst mich an „Was denn, keine Einladung auf einen Kaffee?“ Für einen kurzen Moment entgleisen meine Gesichtszüge. "Äh, Kaffee?" Stammele
ich völlig verlegen. Ben's Grinsen wird daraufhin nur noch breiter. Er beugt sich zu mir rüber und berührt flüchtig meine Wange mit seinen Lippen. "Schlaf gut Jane." Ich steige aus, drehe mich um und antworte ihm, mit dem süßesten Lächeln das ich zustande bringe „Wir sehen uns Montag.“ Ich werfe die Autotür hinter mir zu und gehe schnellen festen Schrittes auf meine Haustür zu. Dort angekommen stecke ich den Schlüssel in das Schloss und drehe mich noch einmal um. Ben winkt mir zu, und gibt dem Fahrer das Zeichen zu starten. Jetzt bin ich wieder allein. Denke ich. Ich gehe zu meiner Wohnung in den 2.
Stock. Der Hausflur ist absolut still. Meine Uhr zeigt an, dass es erst 22:30 Uhr ist. Ich suche an meinem Schlüsselbund den passenden Schlüssel um die Wohnungstür zu öffnen und finde ihn tatsächlich in Rekordgeschwindigkeit. Schnell schließe ich die Tür auf, denn mein einziger Wunsch ist es, eine heiße Dusche zu nehmen und so schnell wie möglich ins Bett zu kommen. Sobald ich im Flur stehe drücke ich auf den Lichtschalter, der den Flur sowie den Wohn- Essbereich in ein gemütliches Licht taucht. Eine riesige Wohnung war mir nie wichtig aber gemütlich sollte sie sein, mein ganz persönlicher Rückzugsort. Den Flur habe
ich in einem hellen gelb gestrichen, was auf mich immer sehr einladend und sommerlich wirkt. Meine Wohnküche ist rot, feurig. Ich liebe es abends auf der Couch zu sitzen, bei Kerzenlicht, und den Schatten bei ihrem Tanz auf den roten Wänden zuzusehen. Doch heute beunruhigt mich irgendetwas als ich in die Wohnung komme. Die Schatten dich mich sonst beruhigen ängstigen mich. Ich stehe noch immer an der Wohnungstür und blicke panisch von einer zur anderen Seite. Mir fällt ein, dass ich in der Kommode noch Pfefferspray liegen habe. Es ist zwar total schwachsinnig aber ich fühle mich besser als ich es in der Hand halte. Langsam taste ich mich vor, gehe
in Richtung Wohnzimmer. Der Anrufbeantworter blinkt. Will ich wirklich wissen wer darauf gesprochen hat? Eigentlich nicht, dennoch höre ich die Botschaft ab. „Du kannst mir nicht entkommen Jane. Ich werde immer bei dir sein.“
Ich kann einfach nicht mehr, breche zusammen und weine hemmungslos. Was im Moment geschieht ist so unreal, überhaupt nicht greifbar oder logisch erklärbar. Meine ganze Welt bricht ohne Vorwarnung in sich zusammen und begräbt mich unter den Trümmern. Fragen rasen durch meinen Kopf, reizen mein Hirn. Warum ich? Was habe ich nur getan? Wer tut mir das an? Die Antworten stellen sich nicht ein. Bis heute war meine Welt in Ordnung. Doch jetzt ist alles anders. Ich darf niemandem mehr trauen und muss trotzdem versuchen da wieder raus zu kommen.
Problem ist nur, dass ich „DAS“ noch gar nicht einordnen kann. Worauf läuft es hinaus? Erpressung, Mord, Rache? Ich weiß es einfach nicht. Die Tränen wollen einfach nicht aufhören. Ich sitze auf dem Fußboden, habe die Arme um meine angewinkelten Beine geschlungen und wiege langsam vor und zurück während die Tränen den Stoff meiner Hose durchweichen. Etliche Minuten vergehen, fühlen sich an wie Stunden. Zäh wie Kaugummi. Meine Augen brennen und sind geschwollen, meine Nase ist wund. Ich starre nur vor mich hin und fühle mich unendlich schwer und leer zugleich. Ohne Vorankündigung kommt mein Kampfgeist zurück, ebenso schnell wie
der vorherige Zusammenbruch. „Reiß dich bloß zusammen Jane!“ Befehle ich mir selbst. Nur langsam stehe ich auf. Ich habe nicht bemerkt, dass ich mich völlig steif gesessen habe. Mühselig schleppe ich mich mit tauben Beinen ins Badezimmer. Angst spüre ich im Moment nicht. Wäre der Eindringlich noch hier, hätte er sich die Gelegenheit sicher nicht nehmen lassen um sich zu zeigen. Was mich im Spiegel anstarrt ist fast noch erschreckender als die Botschaft auf meinem Anrufbeantworter. Ich sehe aus, als wäre ich in den letzten Stunden um Jahre gealtert. Rote verquollene Augen starren mich glanzlos
an. Meine Nase sieht nicht viel besser aus. Das Haar steht wirr vom Kopf ab. Ich drehe die Dusche auf, um das kalte Wasser ablaufen zu lassen. Währenddessen ziehe ich mich aus und werfe die getragenen Sachen in den Wäschekorb. Mit der Hand teste ich die Wassertemperatur und steige in die Dusche. Mit geschlossenen Augen prasselt das Wasser auf mich herab und spült alles von mir. Nach meiner Dusche und nur in meinen Bademantel gehüllt gehe ich mit ruhigen Schritten zurück ins Wohnzimmer und suche in meinem unordentlichen Schreibtisch nach einem Schreibblock
und einem Stift. Ganz unten in der Schublade werde ich fündig. Ich setze mich mit meinen Utensilien auf die Couch und beginne erneut zu suchen. Diesmal in der Schublade des Couchtisches, in der ich immer noch eine „Notfall“- Schachtel Zigaretten verstecke. Eigentlich habe ich das Rauchen schon vor ein paar Jahren aufgegeben aber im Moment erscheint es mir wie Folter, meinem Körper das Nikotin vorzuenthalten. Ich finde die Schachtel endlich und stelle fest, dass sie noch halbvoll ist. Mit zitternden Händen stecke ich mir eine der Zigaretten an und inhaliere genüsslich. Das leichte Zittern meiner Hände geht
zurück. Ich fühle mich innerlich und äußerlich ruhig. Beängstigend ruhig. Der Block liegt auf meinem Schoß und ich teile das Blatt gedanklich in drei Spalten ein. Wer, Motiv, Indizien. Unter „Wer“ schreibe ich alle Personen die mir einfallen, mit denen ich in den letzten Monaten etwas zu tun hatte. Viele sind es nicht. Nur meine Kollegen, mein Chef, der Briefträger. Ich stelle fest, dass mein Privatleben offensichtlich sehr abgekühlt und fast gar nicht mehr vorhanden ist. Ich habe eine zehnjährige Beziehung hinter mir. Es war die ganz große Liebe. Direkt nach der Schule sind wir zusammengezogen. Wir haben oft über Kinder und Heirat gesprochen, daraus
geworden ist nie etwas. Er wollte mehr als ich ihm geben konnte und ich war das Warten auf den Antrag leid. Am Ende hat jeder von uns eingesehen dass es so nicht mehr weiter gehen kann und eine Trennung der beste Weg wäre. Während ich darüber nachdenke stelle ich traurig fest, dass mich die Trennung von Christian nicht berührt hat. Für einen Moment war ich perplex, da ich nicht begreifen konnte, das jetzt niemand mehr abends auf mich wartet aber nur kurze Zeit später war es völlig okay für mich. Erschreckend einfach. Christian... Würde er aus verletztem Stolz so etwas tun? Nein, ich denke
nicht. Christian ist immer lieb und freundlich, zuvorkommend und aufmerksam gewesen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er sich zu solch schlechten Scherzen herablassen würde. Kaum habe ich den Gedanken beendet schäme ich mich auch schon dafür. Meine Nerven gehen doch mit mir durch. Ich starre wieder auf meine Liste mit Namen, Namen von Menschen denen ich immer vertraut habe. Ist es möglich, dass einer von ihnen mir das alles antut? Die Sonnenstrahlen wecken mich und lösen einen bohrenden Kopfschmerz aus. Ich bin eingeschlafen, in einer ziemlich ungemütlichen Position. Sitzend auf der
Couch. Langsam strecke ich meine Arme und Beine und drehe den Kopf von links nach rechts. Sämtliche Glieder schmerzen und sind steif. Nur langsam kann ich von der Couch aufstehen, um in die Küche zu gehen und Kaffee zu kochen. Die Erinnerungen an den Vorabend prasseln auf mich ein und nehmen mich unverzüglich wieder gefangen. Die entscheidende Lösung oder eine Idee habe ich noch immer nicht. Das einzige das ganz klar ist, ist die Tatsache, dass ich vorsichtig sein muss mit wem ich spreche. Allein ist es für mich nicht möglich dem Spuk ein Ende zu machen aber wen könnte ich fragen? Kristina würde ausrasten wenn ich ihr
erzähle, dass ich auch auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hatte. Die Nachricht... Ich gehe ins Wohnzimmer und höre mir die Mitteilung erneut an „Du kannst mir nicht entkommen Jane. Ich werde immer bei dir sein.“ Wieder und wieder spiele ich sie ab aber die Stimme kommt mir nicht bekannt vor. Die Worte sind mit Bedacht gewählt lösen aber keine Erinnerungen in mir aus. Frustriert gehe ich in die Küche und schenke mir eine Tasse Kaffee in meinen Hello Kitty Becher (ein Geschenk von Meg) und gehe zurück ins Wohnzimmer. Ich lasse mich auf die Couch fallen und
sehe aus dem Fenster. Diese Unwissenheit macht mich wahnsinnig. Ich greife mir den Block vom vorigen Abend und gehe erneut die Namen durch. Kristina: ausgeschlossen. Ben: glaube ich nicht. Meg: hätte die Nachricht auf einem Hello Kitty Klebezettel hinterlassen. Der Briefträger: hat mich bis jetzt erst ein paar Mal gesehen. Ich grübele, ob mir noch mehr Personen einfallen, insbesondere Arbeitskollegen aber niemand ist darunter, der ein ernsthaftes Problem mit mir zu haben scheint. So hängen meine Augen wieder
an dem einen Namen: Christian.
Eine Weile nach unserer Trennung erhielt ich noch immer Post für Christian, daher kenne ich seine neue Anschrift. Schnell wasche ich mir das Gesicht, putze meine Zähne und ziehe mich an. Es ist Samstag, also kann ich eine bequeme schwarze Leggins und ein knielanges rotgemustertes Kleid auswählen. Ich schlüpfe in meine roten Ballerinas und zupfe mein kurzes braunes Haar in Form. Beim rausgehen schnappe ich mir meine Handtasche und den Fahrradschlüssel. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und laufe eilig zu meinem Fahrrad. Je eher ich dieser Sache ein
Ende bereite, desto besser. Ich machte mich auf den Weg zu Christian's Wohnung, die nur knappe 3 Kilometer entfernt war. Während ich parkende Autos, Mütter mit ihren Kindern und Jogger hinter mir lasse frage ich mich, ob mein Plan nicht vielleicht doch irre ist. Gedankenversunken fahre ich weiter und werde durch ein lautes Hupen aus meinen Gedanken gerissen. "Hey, pass doch auf!" Schreit mich ein Autofahrer aus dem runtergelassenen Fenster an. Ich bremse so abrupt, dass ich über den Lenker fliege. Ich schlage hart mit den Ellenbogen auf den Asphalt auf. Der Autofahrer springt aus seinem Wagen und kommt auf mich zu gerannt "Alles in
Ordnung Kindchen, hast du dir wehgetan?" Fragt er, mit einem Mal besorgt. Ich rappel' mich auf und sehe an mir runter. Ein Riss in der Leggins und abgeschürfte Ellenbogen, sonst scheint aber alles in Ordnung zu sein. "Tut mir Leid." Murmele ich ohne den Autofahrer anzusehen, hebe mein Rad auf und schiebe so schnell es geht davon. Ein Bremshebel ist abgebrochen, ansonsten ist das Rad, bis auf ein paar Kratzer, jedoch heil geblieben. Ich schwinge mich wieder auf den Sattel und fahre nun langsamer und bemüht konzentriert weiter. Hier ist es, Christian's Wohnhaus. Der
rote Backsteinbau mit den weißen Fenstern und Türen sieht aus wie jedes andere Wohnhaus in der Umgebung. Ich stehe neben der großen Buche und sehe hoch zum dritten Stock. Es ist schon eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind und es kostet mich Überwindung zur Haustür zu gehen und zu klingeln. Während ich noch immer überlege, ob ich es wirklich wagen will höre ich meinen Namen. "Jane? Was machst du denn hier?" Ich drehe mich um und sehe Christian, begleitet von einer attraktiven rotblonden in einem lockersitzenden bodenlangen Sommerkleid. Ihre Augen
werden von einer großen Sonnenbrille verdeckt, so dass ich ihren Blick nicht deuten kann. Christian sieht aus wie immer, sonnengebräunt, trainiert und glücklich. Ich sollte eigentlich eine Art Schmerz oder Trauer empfinden, ihn so glücklich zu sehen doch das tue ich nicht. Im Gegenteil, ich freue mich für ihn. "Chris, hi." Ich gehe auf ihn zu und er nimmt mich kurz in den Arm. Sein vertrauter Geruch steigt mir in die Nase und ich fühle mich gleich viel besser. "Das ist ja eine Überraschung. Warst du in der Gegend oder wolltest du zu mir?" Freundlich lächelt er mich an, die
Mundwinkel seiner Begleiterin könnten jedoch kaum noch weiter nach unten wandern. "Äh ja, ich war in der Gegend. Netter Zufall, dass wir uns sehen." Oh Gott, ich stammele wirklich nur dummes Zeug. "Also nein, eigentlich wollte ich dich sprechen.", korrigiere ich mich selbst. Noch immer lächelnd sieht Chris mich an, "Ok, denn komm doch rein." Chris' Begleitung räuspert sich kurz und wir sehen sie an. Mit hochgezogener Augenbraue sieht sie Christian an und verschränkt ihre Arme vor der Brust. "Hast du nicht eine Kleinigkeit
vergessen?" Chris sieht mich verlegen an bevor er sagt, "Sorry. Also Jane, das ist meine Freundin Nicky." Wieder ein lautes Räuspern von Nicky, dann eine ausgestreckte Hand mit perfekt manikürten Nägeln. "Jane, hallo. Chrissi hat ein wenig untertrieben. Ich bin seine Verlobte. Schön dich endlich kennenzulernen. Ich hab' ja schon so viel von dir gehört." Ich starre Chris fassungslos an. Verlobt? Das ging aber verdammt schnell. Er sieht verlegen auf seine Füße, als wäre es das spannendste auf der Welt.
"Verlobt? Oh, wow… Man, ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Glückwunsch." antworte ich. Nicky lächelt breit und Chris sieht mich entschuldigend an. Die Situation ist skurril. Ich stehe hier mit meinem Ex-Freund und seiner Verlobten und bin eigentlich hergekommen, um ihn zu fragen, ob er mich stalkt wie ein Irrer. Glücklicherweise klingelt mein Handy. Ich wühle in meiner Tasche und fördere es zu Tage. Der Anruf kommt von Kristina. "Hey, was gibt's?" Begrüße ich sie. "Ich wollte über gestern reden, Jane. Ist noch etwas vorgefallen?" Mir steht nach vielem der Sinn aber nicht jetzt, vor
Chris und Nicky über "mein Problem" zu sprechen. Ich wimmele Kristina ab: "Du, ich meld' mich später, ok?" Das Handy stopfe ich zurück in meine Tasche, sehe das glückliche Paar vor mir an und verabschiede mich. "Äh ja, ich muss dann auch los. Alles gute für euch." Schnell drehe ich mich um und gehe zu meinem Fahrrad. Während ich aufsitze und in die Pedale trete höre ich Christian noch rufen "Jane? Ich denk' du wolltest etwas besprechen?" Ohne mich umzudrehen fahre ich davon, Hauptsache weg aus dieser Situation. Zuhause angekommen nehme ich die Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank
und schenke mir ein Glas ein, mit dem ich mich auf den Balkon setze. Die Sonne scheint warm auf meine Haut und die Geranien versprühen einen sommerlichen Duft. Genüsslich nippe ich an meinem Wein als die innere Unruhe wieder Besitz von mir ergreift. Ich stelle das Weinglas auf den ausgeblichenen Balkontisch, gehe ins Wohnzimmer und hole meine Liste und die angefangene Schachtel Zigaretten. Zurück auf dem Balkon zünde ich mir eine Zigarette an und ziehe gierig den Rauch ein. Ich inhaliere ihn sehr tief und sehr lange bevor ich den Rauch in kleinen Kringeln wieder ausatme. Die Liste liegt vor mir auf dem Tisch. Lauter Namen, die alle
mit einem Grund versehen sind, warum sie nicht diejenigen sind, die mich in den Wahnsinn treiben wollen. Ich habe absolut keine Ahnung, warum mir das alles passiert.
Eine Person saß vor ihrem PC und starrte auf den Bildschirm, beobachtete jede Bewegung in der kleinen Wohnung im zweiten Stock. Es war alles ruhig, die süße kleine Jane sitzt da, ganz ahnungslos auf ihrem Balkon und trinkt Wein, ging es der Person durch den Kopf. "Du hast mein Leben ruiniert, jetzt ruiniere ich dich!" Sprach die Person mit eiskalter Stimme in Richtung des Monitors. Die Person wandte sich von den Bildern der Überwachungskamera ab und drehte sich zu dem zweiten Monitor, widmete sich wieder angefangenen Brief
zu Ich kann beweisen, dass Ihre Mitarbeiterin Jane Gelder veruntreut hat. Aus Angst vor Konsequenzen erteile ich diese Auskunft anonym. Sie sollten jedoch schnell handeln, bevor schlimmeres passiert. Drucken, in den Umschlag schieben, Briefmarke aufkleben. Mit einem hasserfüllten Grinsen verlässt die Person die Wohnung und steckt den Brief in den nahe gelegenen Briefkasten. Jetzt hieß es abwarten.
moonlight2468 Hallo Angelika, das hört man gern. Danke :-) |