Kapitel 85 Ein letzter Plan
Das Schreien der Verwundeten und Sterbenden nahm kein Ende. Die Heiler von Maras hatten alle Hände voll damit zu tun, die Opfer der Schlacht zumindest notdürftig zu versorgen. Mit Magie konnten sie hier niemand helfen. Selbst die Magier unter ihnen, die nicht an der Schlacht teilgenommen hatten, waren bereits geschwächt. Hunderte von Verletzten, denen sonst nichts mehr helfen konnte, waren auf ihre Fertigkeiten angewiesen und doch reichte ihre Macht nicht einmal aus, ein dutzend zu retten. Und so blieb ihnen nur, Schmerzen zu lindern, wo es ging
und zu versuchen, die letzten Stunden der Totgeweihten etwas angenehmer zu machen. Es war eine grausame Arbeit. Über dutzenden von Feuern glühten Eisen um die schwereren Verletzungen auszubrennen, kochten Umschläge und Verbände in Wasser und Wein. Und doch schien es Naria, gäbe es auf Maras nicht genug Stoff um alle Wunden zu bedecken. Blut und Schreie, das war alles, was sie fand, während sie zwischen den hastig errichteten Zelten und Strohlagern umher ging.
Sie waren zu wenige, selbst hier und doch trafen jeden Augenblick mehr Verletzte ein. Oder Tote, die von ihren Angehörigen und Freunden
herbeigebracht wurden, nur damit man ihre Hoffnungen enttäuschte. Sie waren töricht gewesen, dachte Naria. Die Müdigkeit wollte nicht von ihr weichen, auch wenn sie sich Zwischendurch erlaubt hatte, einen Moment lang die Augen zu schließen. Oder vielleicht hatte sie auch Stunden geschlafen, denn als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, war der Horizont nicht mehr schwarz, sondern grau. Vielleicht war die Helligkeit aber auch nur eine böse Täuschung. Nach wie vor glommen die Ruinen am Hafen, die einstmals eine der größten Siedlungen der Insel gewesen waren. Und auch von dort trafen nun die ersten Nachzügler ein, die sich die
Klippen hinauf schleppten. Alte , kranke Kinder und deren Familien die nicht hatten gehen wollen… Es war ein trauriger Zug, der hier Schutz suchte. Schutz, den sie ihnen nicht geben konnten. Und natürlich brachten auch sie Verletzte mit sich. Naria raffte sich von ihrem Lager auf, ein Stapel Lumpen, die vor einem der Zelte aufgestapelt lagen. Die blutigen Überreste von Kleidern und Umhängen… Früher hätte sie das wohl zum Schaudern gebracht, so jedoch beachtete sie das Fremde Blut gar nicht, das nun auch ihre Kleider tränkte. Sie hatte vorhin nicht einmal mehr darauf geachtet, wo sie sich
hinlegte.
Mehrere Männer brachten grob gezimmerte Tragen herbei um den Neuankömmlingen die Verwundeten und die Sterbenden abzunehmen. Wo man sie hier in all dem durcheinander überhaupt noch Unterbringen wollte, war Naria ein Rätsel. Aber sie würden auch niemanden abweisen. In ein paar Stunden wäre ohnehin alles vorbei, dachte sie, während sie sich wahllos an einer der Tragen niederließ. Der Mann vor ihr trug den Umhang eines Wächters, auch wenn die türkisfarbene Naht zerfetzt und vom Feuer angesengt war. Naria brauchte einen Moment um ihn zu erkennen, so ausgezehrt wie er wirkte.
Tiefe Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet, die fiebrig zu ihr aufsahen. Er wirkte älter, dachte sie und fragte sich, ob sie genauso einen Anblick bot.
Aaron war einer von Zyles Musterschülern gewesen. Dennoch hatte man ihn und die andere die Aufgabe zugedacht, den Hafen zu sichern. Sie hatten gedacht, sie wären dort noch der wenigsten Gefahr ausgesetzt. Sie hatten so vieles Gedacht.
Jetzt jedoch schien er kaum bei Bewusstsein und wo einmal seine linke Hand gewesen war, befand sich nur noch eine blutige Ansammlung aus Verbänden. Weitere Wunden zeichneten sich unter
dem aufgerissenen Brustpanzer ab, den er trug, doch wenigstens schienen diese nur Oberflächlich… anders, als die verlorene Hand.
,, Es waren zu viele.“ , murmelte er, während Naria so vorsichtig wie möglich den improvisierten verband entfernte und in ihrer Tasche zu kramen begann. Ihre Vorräte an Kräutern waren bereits wieder so gut wie erschöpft. Das einzige, was ihr geblieben war, war etwas Schlafmohnextrakt und ein paar saubere Verbände. Und doch wagte sie nicht, Aaron davon zu geben. Ihn in seinem Zustand zu betäuben würde ihn vielleicht erst recht umbringen. Und so beließ sie es schweren Herzens dabei,
nur die Verbände auszutauschen, während der Junge vor sich hin murmelte. ,, Wir mussten fliehen.“
,, Ich weiß. Alles in Ordnung.“ , erwiderte sie, unsicher, ob er sie überhaupt hörte oder wusste, dass sie da war. Ihr wurde übel, als sie das versehrte Fleisch unter dem Verband sah. Das war keine Klinge gewesen, dachte sie. Die Haut war verkocht und das Fleisch dunkel verbrannt. Magie. Am liebsten wäre sie aufgestanden und wäre davongegangen, aber das war natürlich unmöglich. Das hier war auch ihr Werk… Warum hatte sie noch einmal darauf bestanden, zu kämpfen? Es hatte wichtig geschienen, dachte Naria. Sie
konnte sich jedoch nicht mehr erinnern wieso. Es war zu lange her, dachte sie. Eine Ewigkeit, auch wenn es nur einige Tage gewesen waren. Ein Schlachtfeld weit entfernt.
Aaron blinzelte und schien sie zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen. Er versuchte sich aufzurichten, sackte jedoch sofort wieder mit einem Aufschrei zurück, als sich seine Wunden wieder bemerkbar machten. Irritiert starrte er auf seine fehlende Hand und die frischen Verbände um den Stumpf. Dann lies er sie resigniert wieder sinken.
,,Bleibt liegen.“ , ermahnte sie ihn. ,, Die Schlacht ist ohnehin geschlagen, fürchte
ich.“
Schweigen war alles, was Aaron darauf erwiderte. ,, Sie sind alle tot, Naria.“ , meinte er nach einer Weile. ,, Außer mir. Sie sind alle am Hafen zurück geblieben.“
Die Gejarn nickte lediglich. Irgendwie hatte sie es schon befürchtet. Das würde Zyle das Herz brechen, dachte sie. Er hatte sie in Sicherheit wissen wollen… und genau das Gegenteil davon erreicht. Der Hafen war kaum geschützt gewesen, aber sie hatten sich darauf verlassen, dass die Hauptmacht des Angriffs ihnen gelten würde. Und nicht den Siedlungen.
,, Das war nicht eure Schuld…“
Aaron erwiderte nichts, sondern sah
einen Augenblick weg, über die nahen Klippen und auf das Meer hinaus, das fast gänzlich unter Segeln und den Rümpfen der Galeeren verschwunden war. Naria bezweifelt langsam, das überhaupt alle Truppen des roten heiligen am Strand Platz finden würden. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis der zweite und wohl letzte, Angriff begann…
,, Seid ehrlich, wie schlimm steht es um uns ?“ , fragte der junge Mann. Er hatte sich mittlerweile wohl seinen Teil denken können. ,, Überleben wir den nächsten Sonnenaufgang noch ?“
,, Vielleicht.“ Man würde sie nicht im Dunkeln angreifen. Zumindest hoffe sie
das. ,, Aber wenn ich ehrlich bin… es sieht nicht gut aus. Wir haben den Strand verloren Aaron.“ Und damit ihre einzige Hoffnung, Maras irgendwie zu halten. Die Armee an der Landung zu hindern, war der einzige weg gewesen, sie daran zu hindern, die Insel einfach zu überrennen. Aber ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, wollte sie erwidern. Doch das wäre eine Lüge gewesen. Sie hatte schon lange aufgegeben. Und versagt, dachte Naria.
,, Aber wir haben noch euch. Und Zyle und…“ Aaron schien sich zuversichtlich geben zu wollen. Wie sollte sie ihm erklären, dass es keinen Unterschied mehr machte? Oder machte es einen? Es
gab hier keine Rettung für sie. Aber das hieß nicht, das sie sich zusammenkauern durfte, wie ein kleines Mädchen. Naria schloss einen Moment die Augen. Das war doch genau das, was der rote Heilige wollen würde. Das sie sich hinlegten und aufgaben. Zyle hatte gemeint, sie sei Stur. Stimmte das ? Im Augenblick fühlte sie sich nicht wirklich stur… aber die Vorstellung hier herumzusitzen, während sie auf ihr Ende warteten, war ihr zuwider. Mit einem Mal konnte sie es nicht mehr ertragen still zu sitzen und stand auf. Es gab keinen Weg, irgendwie von der Insel zu entkommen. Aber Maras war groß. Doch wenn sie sich einfach in die Wälder
absetzten, würden ihre Gegner das sofort merken und die Klippen erklimmen. Keiner von ihnen würde weit kommen. Also schied das auch aus. Es sei den…
Naria rannte los, bevor Aaron noch Fragen konnte, was in sie gefahren war. Ohne langsamer zu werden rannte sie die Klippen entlang und hielt die Augen nach den drei Leuten offen, die sie jetzt brauchte. Und schließlich fand sie sie auch. Relina Zyle und Wys standen beieinander an einem der Wachfeuer, die man überall entzündet hatte.
Die zwei Brüder und ihre Mutter drehten sich fast zeitgleich um, als sie sie kommen härten.
,, Was..“ , setzte ihr Vater an, als er sah,
wie aufgeregt sie war. Die Müdigkeit war mit einem Schlag vergessen gewesen. Ihre Idee war verzweifelt. Sie würden den Tod für einige bedeuten. Aber es konnte sie auch retten…
,, Wie viel Pulver haben wir noch ?“ , fragte sie ohne sich zu erklären. Wenn nichts mehr übrig war, war es sowieso zu spät.
,, Frag lieber wie viel Munition.“ , erwiderte Wys düster. ,, Pulver haben wir genug um einen Berg zu sprengen, aber keine Kugeln mehr und…“
,, Wir brauchen keine Kugeln.“ , erwiderte Naria aufgeregt. ,, Aber einen Trumpf haben wir vielleicht damit noch. Hört zu, wir können das nicht gewinnen.
Die Leute müssen hier weg, sofort.“
,, Wie ?“ Zyle blinzelte verwirrt. ,, Sobald wir unsere Stellung hier oben aufgeben, werden wir überrannt, Naria. Wenn wir fliehen kommen wir nicht weit.“
,, Nicht wenn wir alle davonlaufen, das ist mir klar.“ , erwiderte sie.
,, Wenn du meinst wir würden ein paar hier zum Sterben zurück lassen, dann…“
Naria schüttelte erneut den Kopf. ,, Es wird euch nicht unbedingt besser gefallen, aber mit etwas Glück entkommen wir alle. Wir müssen das Pulver zur Versammlungshalle schaffen. Das Gebäude ist der höchste Punkt in der Umgebung und eine Handvoll Leute
könnte es sicher eine ganze Weile verteidigen. Vor allem, wenn sie ein paar Pulverfässer den Hügel hinab werfen. Und wenn ein kleiner Trupp jetzt aufbricht, könnte er auf dem Weg Fackeln anzünden, so dass es zumindest von weitem so wirken würde, als wären wir alle auf dem Weg dorthin. Der Rest jedoch, müsste sich in den Wald zurückziehen. Wir lenken die Angreifer ab und nehmen noch ein paar von ihnen mit, dann können wir ihnen folgen. Die Versammlungshallen haben mehrere Ausgänge. Einer davon liegt fast am Waldrand. Es wäre riskant, aber zu schaffen.“
,,Laos, das ist so verrückt, das könnte
sogar funktionieren.“ Wys kratzte sich am Kinn. ,, Ich meine, es ist immer noch ein Himmelfahrtskommando, aber… damit kennen wir uns aus. Meine Paladine sind am ehesten noch in der Lage zu kämpfen. Fünfzig von ihnen sollten ausreichen um die Halle zu sichern. Aber ich brauche jemanden, der mit dem Pulver umgehen kann. Es ist ein paar Jahre her, dass ich das letzte Mal auch nur eine Steinschlosspistole abgefeuert habe. Es wäre ein wenig peinlich uns alle ausversehen mit der Halle zusammen in die Luft zu sprengen. Ich trete doch lieber mit der Klinge in der Hand ab.“
,, Es war mein Vorschlag.“ , erwiderte
Naria. ,, Ich hatte nie vor, nicht dabei zu sein.“
,, Nein.“ Zyle trat entschlossen vor und schüttelte den Kopf. ,, Das kannst du vergessen. Ich werde mit dir gehen, Wys. Und du Naria, siehst zu, das du die Leute in den Wald bringst.“
,, Aber…“
,, Kein aber. Ein paar Zündschnüre anbringen, kann jeder von uns. Dazu braucht es keine Magierin.“ Und nicht meine Tochter, meinte sie ihn sagen zu hören. Was er über ihre Sturheit gesagt hatte mochte stimmen… aber wenn Zyle wollte, übertraf er sie immer noch alle darin. ,, Relina, fang an die Leute zusammenzurufen. Während ihr euch in
den Wald zurückzieht, schlagen ich und Wys uns zur Versammlungshalle durch und bereiten dort alles vor. Sobald wir sehen, wie die ersten von euch verschwinden, empfangen wir diese Bastarde mit einem Feuerwerk.“
Es war ein verzweifelter Plan, das war ihnen allen klar.
,, Pass bloß auf dich auf.“ , erwiderte Relina. Sie wagte erst gar nicht den Versuch, sie begleiten zu wollen. Zyles Antwort galt auch für sie, das war allen klar. Stattessen küsste sie ihn flüchtig, bevor sie sich bereit auf den Weg machte. ,, Ich will euch nachher alle wiedersehen. Das gilt sogar für euch,
Archont.“
Und so nahm ihr letzter Versuch Gestalt an, etwas Zeit zu erkaufen. Während ihre LEute einer nach dem anderen im Schattend er Wälder verschwanden, machten sich Wys, Zyle und die verbliebenen loyalen Paladine auf den Weg hinauf zur Versammlungshalle der Magier. Jeder zog oder schob ein Fass mit Schwarzpulver hinter sich her und in regelmäßigen Abständen ließ Wys sie anhalten und Fackeln zurücklassen. Aus der Ferne musste es so aussehen, als zöge sich eine riesige Kolonne die Flanke des Hügels hinauf, nicht nur der klägliche Rest ihrer Truppe. Und unten an den Klippen formierten sich nach wie
vor die Männer Helikes, die zum Herrn der Ordnung übergelaufen waren. Eine kurze Atempause würde man ihnen wohl noch gönnen. Doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis den ersten auffiel, dass die Stellungen oben an den Klippen längst verlassen da lagen…