Luisa
„Venedig im Jahre 1710. Eine Gruppe kleiner Mädchen spielt Fangen. Luisa Bernadotti versteckt sich in einem Hauseingang. Die Tür ist nur angelehnt und sie geht hinein. Ein langer Gang, ein Licht, das sich bewegt. Sie folgt dem Licht und vergisst die Zeit.“
- Juliane Werding, Luisa
Der Gang vor ihr bröckelte, das Licht wurde kleiner. Luisa rannte; sie musste immer wieder herabfallenden Steinen ausweichen. Sie musste es schaffen!
Sie stolperte über eine Bodenfliese, die sich plötzlich anhob, fing sich jedoch gerade noch. Ein paar Schritte weiter tat sich auf einmal der Boden auf; sie sprang, ruderte mit den Armen, fand schließlich ihre Balance gerade so wieder. Sie hetzte panisch weiter. Der Eingang war schon halb verschüttet; nur noch wenig Licht drang herein. Mit einigen großen Sätzen sprang sie den Schutthügel hinauf. Ihre Calamita-Pistole heulte auf, das über die Jahrtausende spröde gewordene Panzerglas verteilte sich in winzigen Splittern auf dem Boden. Luisa hechtete aus dem
Gebäude, rollte sich ab und stürzte in den dichten Dschungel. Hinter ihr brach das Gebäude zusammen. Ein Brocken schoss an ihrem Kopf vorbei, dann spürte sie einen Schlag im Nacken und wurde bewusstlos.
***
Die Lichter waren viel zu hell für Dschungel. Müde schlug Luisa die Augen auf. Alles war grell erleuchtet, in einem sterilen Weiß und Hellblau gehalten. Neben ihr piepte in regelmäßigen Abständen der Monitor leise vor sich hin. Ihr betäubtes Gehirn hatte akzeptiert, dass sie sich in einem Krankenhaus befand, noch bevor sie wach genug war, um sich zu fragen, wie sie hierher gelangt war. Als diese Frage dann am Rande ihres Bewusstseins auftauchte, beantwortete
sie sich auch schon fast von selbst, als sie die zusammengesunkene Gestalt am Tisch neben ihrem Bett entdeckte. Joshs Hasenohren waren unverkennbar.
Ihr Pilot musste sie gesucht haben, nachdem sie nicht zurückgekommen war. Doch wenn sie nun in einem modernen Krankenhaus war, hieß das, dass sie mehrere Wochen außer Gefecht gewesen sein musste. Sie räusperte sich, und er schreckte hoch. Durch die plötzliche Bewegung verrutschte seine Kapuze, und die Hasenohren hingen auf einmal seitlich an seinem Kopf. Luisa versuchte, sich das Lachen zu verbeißen, doch es war ein aussichtsloser Kampf.
Ihr Pilot war, genau wie sie, von Greater Italy, aus Nova Venetia. Sie waren schon
gemeinsam in der Schule gewesen, hatten sich dann aus den Augen verloren, und erst, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen und von dem renommierten Ancestors Research Lab auf Neu-Holstein verpflichtet worden war, hatten sie sich wieder getroffen. Er flog für die „Laborratten auf Freigang“, wie er die Feldhistoriker nannte, die keinen eigenen Pilotenschein hatten. Seitdem waren sie wieder ein Herz und eine Seele.
„Bin ja schon mal froh, dass du wieder lachen kannst“, brummte er, als ihr Lachanfall langsam abebbte, und zog die Kapuze zurecht. Das Lachen hatte sie einiges an Kraft gekostet, weshalb Luisa ihm erst einmal japsend bedeutete, zu erzählen, was ihr fehlte. Er zuckte mit den
Schultern.
„Ich habe dich gesucht, nachdem du vier K-Stunden nach dem Erdbeben noch immer nicht zurück warst. Glücklicherweise war dein Kommunikator unbeschädigt, sodass ich dich anpeilen konnte. Ich habe dich eingesammelt, in die Medbay gestopft, und bin mit Volldampf Richtung Heimat geflogen. Teufel noch eins, ich hab die Hypersprung-Batterien gezogen“, erzählte er. Luisa merkte, dass ihm der Schreck noch immer in den Knochen steckte. Vielleicht war sie doch nicht so lange ausgeschaltet gewesen.
„Sobald wir dann in Europa Nova angekommen waren, habe ich dich auf den nächstbesten Planeten verfrachtet – zufällig Limburg – und da bist du nun. Die Funde hab
ich schon angemeldet und nach Hause gefunkt, dass sie sie abholen, denn wie lange du k.o. sein würdest, war nicht abzusehen. Seitdem bin ich jeden Tag hergekommen, um nach dir zu schauen.“ Luisa nickte schwach.
„Danke, Josh. Was hatte ich denn alles?“, fragte sie dann, ein wenig nervös. Er schluckte.
„Du hast ‘nen Stein in den Nacken bekommen – im Endeffekt war dein Genick so gut wie gebrochen. Du kannst froh sein über den Energieverteiler, der eingesprungen ist, wo deine Nerven versagt haben.“, erklärte er mit leicht zittriger Stimme. Luisa wurde kalt. Das war knapp gewesen. Ihr Energieverteiler sorgte normalerweise
dafür, dass die Energie, die sie zu sich nahm, effizienter an die Stellen gebracht wurde, wo sie dringen benötigt wurde. Die Sensorik, die dafür verbaut werden musste, ging natürlich in alle Körperbereiche. Offensichtlich hatte ihr Nervensystem selbstständig auf die künstlichen Systeme umgeschaltet und die Leitungen sozusagen gegen den Strich gebürstet. Wenigstens schnell genug, dass sie noch weiter atmen konnte.
„Die Ärzte haben es mit Nanobots wieder hinbekommen; alles ist jetzt wie neu. Auch dein Energieverteiler wurde ersetzt, denn die Umkehrung hat ihm nicht wirklich gutgetan. Aber jetzt ist wieder alles gut. Du brauchst noch ‘n paar Tage Bettruhe, dann bist du wieder fit“, fuhr Josh hoffnungsvoll fort. Luisa
lächelte. So, wie sie sich gerade fühlte, wären das wohl mehr als ein paar Tage Bettruhe. Danach ginge es dann nach Neu-Holstein zurück und wieder an die Arbeit. Doch ob sie sich in nächster Zeit noch mal so einen Stunt erlauben würde wie auf dem Dschungelplaneten, das würde sie sich noch einmal gut überlegen. Feldhistoriker hin oder her, aber durch ein Erdbeben bei lebendigem Leib in einem Ancestors-Haus verschüttet zu werden, hatte nicht zu ihren Tagträumen während des Studiums gehört.
Vier Tage später hatten die Psi-Heiler und die Rekonvaleszenz-Tanks ihre Arbeit getan und Luisa ging voller Energie zum Raumschiff zurück.
***
„Sag endlich, was du siehst!“, hörte sie Joshs Stimme im Helmlautsprecher. Wieder einmal waren sie losgezogen, das Wissen der Vergangenheit zu bergen. Die Welt, auf der sie dieses Mal gelandet waren, war der Mond eines gigantischen Gasriesen, festgefroren über dem Äquator seines Planeten, immer in Düsternis gehüllt. Sie waren auf eine sicher nicht natürliche Felsformation gestoßen, und Luisa hatte sich entschlossen, sie zu untersuchen. Selbst, wenn es keine Ancestors-Ruinen waren, gäbe es sicher eine Menge zu entdecken. Josh war wie immer im Raumschiff geblieben, doch sie hörte seine Neugier aus seinen schnoddrigen Worten.
„Ein langer Gang. Ein Licht, das sich bewegt.
Ich folge dem Licht“, antwortete sie aufgeregt und betrat die Ruine.
Vergessen
„Venedig im Jahre 1710. Eine Gruppe kleiner Mädchen spielt Fangen. Luisa Bernadotti versteckt sich in einem Hauseingang. Die Tür ist nur angelehnt und sie geht hinein. Ein langer Gang, ein Licht, das sich bewegt. Sie folgt dem Licht und vergisst die Zeit.“
- Juliane Werding, Luisa
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Vergessen. Vergessen. Irgendetwas hatte sie vergessen. Luisa stand vor dem Büro der Dekanin und grübelte, was sie wohl nicht gemacht hatte. Sie hatte ihre Arbeit – sie hatte das Faksimile des Artefakts – sie hatte ihren Vortrag – sie war vernünftig angezogen – sie hatte sogar ein paar Getränke und Kekse bereitgestellt für die Prüfer. Gleich würde sie ihre Disputatio halten, und wenn alles glatt ging, konnte sie heute Abend mit ihrem Papa feiern gehen. Er wünschte sich verzweifelt, noch zu erleben, wie seine Kleine ihren Doktor bekam. Irgendwas hatte sie vergessen.
„Ach, scheiß drauf!“, brummte sie vor sich hin, woraufhin sie der Sekretär nur mit einer hochgezogenen Augenbraue ansah, leicht
den Kopf schüttelte und sich dann lächelnd wieder seiner Arbeit zuwandte. Er sah aus wie dreiundzwanzig, doch sie wusste, dass er bereits vierzehn Jahre hier war und davor für das ARL der New Sofia University gearbeitet hatte. Er hatte schon viele nervöse Studenten und Doktoranden gesehen und würde sich wohl über keine Reaktion mehr wundern. Bald würde auch sie ihre erste Verjüngungsbehandlung erhalten, und dann wieder statt wie dreißig wie zwanzig aussehen.
Der Gedanke an das New Sofia University Ancestors Research Lab machte sie wie immer kribbelig. Plätze an den ARLs waren sehr begrenzt, und sie hatte all ihre Hingabe in ihr Studium und ihre Doktorarbeit gesteckt, um irgendwann an einem ARL arbeiten zu
dürfen und vielleicht herauszufinden, woher die vielen verschiedenen menschlichen Zivilisationen nun schlussendlich kamen. Es war klar, dass die Menschheit irgendwann zwischen den Sternen gewandelt war, dann einen Zusammenbruch erlitten hatte, und nun, viele hundert Jahre später, in weiten Teilen des galaktischen Sektors aus den Trümmern auferstanden und zwischen die Sterne zurückgekehrt war. Doch wo sie herkamen, das blieb im Dunkel der Geschichte verborgen. Sie, Luisa Bernadotti, wollte es herausfinden.
Sie lachte leise. Den gleichen Anspruch hatten bestimmt auch die zahllosen Feldhistoriker aller ARLs aller Sternenreiche, sämtliche freien Feldhistoriker, die da
draußen herumschwirrten, und Dekanin Grünwald zu ihrer Zeit gehabt. Sie würde es wohl schwer haben, ihren eigenen Erwartungen gerecht zu werden.
Die Tür zum Büro der Dekanin ging auf. Die schlanke, hochgewachsene Rothaarige, die herauskam, wollte so gar nicht zu der erfahrenen Feldhistorikerin und langjährigen Dekanin des Forschungszentrums für Antike der Universität Neu-Holstein passen, sondern sah eher aus wie eine Studentin in fortgeschrittenen Semestern, zielgerichtet und genau wissend, was sie tat. Oder wie eine Bankangestellte.
„Ah, Frau Bernadotti. Bitte, kommen Sie herein.“ Die Stimme der Dekanin war angenehm; volltönend und fest. Auf einmal
überfiel Luisa große Nervosität. Was zum Teufel hatte sie vergessen?
Das Büro von Dekanin Grünwald war in rotem Holz gehalten. Die Möbel waren schlicht, aber elegant geformt und bildeten ein großes Dreieck in dem halbrunden Raum. Die Spitze bestand aus dem erstaunlich kleinen Schreibtisch der Dekanin, davor standen zwei Stühle. In der Ecke rechts neben der Tür waren Regale mit einem kleinen Lesepult und einem Com-Terminal, in der Ecke links von der Tür eine Sitzgruppe mit einer kleinen Couch und einem niedrigen Tisch. Auf der Couch saßen bereits zwei Herren in Anzügen, die bei ihrem Eintreten aufstanden.
„Frau Bernadotti, es freut mich“, sagte der eine und streckte die Hand aus. Ihr Doktorvater, Sergej Daracewicz. Luisa ergriff die Hand erfreut. Der zweite Mann streckte nur wortlos seine Rechte aus, die sie auch kurz schüttelte. Der Händedruck fühlte sich an als griffe man in toten Fisch. Prof. Dr. Robin Harrison. Der verknöchertste Professor der ganzen Uni wäre ihr Protokollführer. Na toll. Luisas Nervosität stieg ins Unermessliche.
„Was führt Sie her, Frau Bernadotti? Ihre Disputatio ist doch erst in zehn Minuten. Wir wären schon zum Raum D-112 gekommen“, fragte die Dekanin freundlich. Luisa schluckte.
„Darum geht es, Professor Grünwald“,
antwortete sie leise. „In den Toiletten neben Raum D-112 gab es vor einer halben Stunde einen Wasserrohrbruch. Auch wenn der inzwischen wieder geflickt ist, war es dummerweise das Abwasserrohr, und die umliegenden Räume sind durch die Geruchsbelästigung unbenutzbar. Mir wurde gesagt, das Büro für Raumverteilung hätte nun Raum C-056 für uns frei gemacht. Daher kam ich her, für den Fall, dass Sie die Nachricht noch nicht erhalten hätten.“
Die Dekanin und die beiden Professoren hatten bei der Schilderung das Gesicht verzogen, atmeten nun jedoch sichtlich auf.
„Dann sollten wir gleich losgehen, Raum C-056 ist, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, fast auf der andern Seite des Campus“,
schlug Prof. Daracewicz vor.
„Des ARL-Cam-pus. Nicht des Universitäts-campus“, warf Prof. Harrison humorlos ein.
„Sonst wären es auch mehr als zehn Minuten Weg“, antwortete die Dekanin, nahm ihre Tasche und bedeutete Luisa, voranzugehen.
„… Wir wissen, dass zumindest im callistrischen Teil des Sektors die Kinder oft vor dem Holoprojektor geparkt wurden; das von Lang Fe vor sieben Jahren gefundene Pamphlet zu Holobildung versus Holodramen belegt es sogar mit Zahlen. Dieses Artefakt hier legt nun nahe, dass im Bereich Europa Novas diese Praxis zwar auch gang und gäbe war, jedoch gleichzeitig auch andere Formen der Unterhaltung geboten wurden.“ Luisa
legte den Plüschbären mit dem eingebauten kleinen Holoprojektor wieder auf den Tisch. Der Plüschbär war eins der wenigen Artefakte mit tatsächlich noch extrahierbaren Daten gewesen; die Holoaufnahmen zeigten mehrere Kurzfilme über Kinder, die spielten – alte Spiele, die auch heute noch gespielt wurden. Fangen und Verstecken, Abklatsch-spiele und Schaukeln, und anderes mehr.
Ihre Disputatio war soweit gut gelaufen. Sie war sich sicher, die Fragen später noch zu überstehen. Wenn sie es denn irgendwie schaffte, durchzuhalten. Luisa trat von einem Fuß auf den Andern. Eine viertel K-Stunde nach dem Beginn ihres Vortrages war ihr aufgefallen, was sie vergessen hatte. Sie hatte vergessen, pinkeln zu gehen.