Luisa Bernadotti lebte in Venedig, sie war nahe des Jahrhundertwechsels im Jahre 1702 geboren und seither waren fünf Jahre vergangen.
Sie spielte mit ihren Mädels in den Gassen fangen wie häufig nach dem quälenden Unterricht in ihrer kleinen Schule.
Heute war eine bislang unerforschte Gasse das Fangrevier, was immer besonders aufregend war.
Luisa verbarg sich gerade in einem dunklen Hauseingang, als sie entdeckte, daß die dazugehörige Türe nur angelehnt war. Da Luisa ein neugieriges Mädchen war, fand sie sich bald in einem kleinen Hausflur wieder.
Dort roch es verführerisch nach ihrer Lieblingsspeise.
Sie folgte der Duftspur und stand plötzlich in einer kleinen Küche.
Und die kam ihr seltsam bekannt vor. Alles war wie bei ihr Zuhause.
Da niemand da war, aber das Essen auf dem Herd vor sich hinköchelte, konnte sie nicht umhin sich langsam dem Herd samt Topf anzunähern.
Und tatsächlich - im Topf, der genau wie der ihres Zuhauses war, sah sie genau die Tomatensauce mit Kräutern vor sich hinblubbern, die ihre Mutter jeden Samstag zubereitete. Aber wie konnte das sein?
Erstens war heute Donnerstag, und zweitens - war das zwar ihre Küche, ihr Topf und ihre Sauce- aber dies war nicht ihr Haus...
“Mama?“ flüsterte Luisa dennoch leise , und als nichts passierte noch einmal mit lauter Stimme „ Mama? „ .
Aber nichts tat sich. Luisa nahm sich einen Löffel , tauchte ihn vorsichtig in die Sauce, leckte ihn ab und „mmmhhh“ ja, das war Mamas Sauce. Was Luisa vermisste waren die gewürfelten Kartoffeln, die Mama stets neben dem Topf mir der Sauce aufbewahrte. Bis diese ganz zum Schluss in kochendem Wasser gegart wurden.
Die Kartoffeln lagerten im Keller, aber um sie zu finden müsste sie die Küche verlassen.
Luisa erschauderte. Denn plötzlich wurde ihr wieder bewusst, daß sie hier nicht in ihrem Zuhause war, es sah nur so aus. Und schmeckte so.
Luisa guckte vorsichtig aus der Tür. Ja, da war derselbe Hausflur, durch den sie hierhergekommen war, aber der sah ganz anders aus als bei ihr daheim.
Und da war auch keine Tür, die in den Keller führte.
Links sah sie die angelehnte Haustür. Rechts führte der Flur weiter und mündete in eine grosse Tür.
Diese kam ihr auch sehr bekannt vor.
Sie war mit wunderbaren Figuren verziert- durch genau diese Tür betrat man die gute Stube im Haus ihrer besten Freundin Marisa. Schnell wollte sie dort hinlaufen als etwas sie an ihrem Arm packte und zurückhielt.
Jetzt schrie Luisa auf. "Psssssccchhhhht" , sagte eine piepsige Stimme und als Luisa sich umdrehte sah sie ein Männchen, nur etwas grösser als sie, das in einer Hand eine Schüssel mit Kartoffeln hielt.
„Was machst du in meinem Haus?“ fragte das Männchen. Luisa brachte zunächst kein Wort heraus, doch dann flüsterte sie - "Da drinnen in unserer Küche hat meine
Mami doch gerade Tomatensauce gekocht. "
Das Männchen wurde erst blass, dann stampfte es auf und rief „ Ich wurde gefunden, ich wurde gefunden, nun muss ich erzählen, und dann muss ich gehn“.
Luisa wollte weglaufen, so unheimlich war ihr das Männchen, doch dieses zog sie in die Küche auf einen Stuhl und hielt sie weiter fest.
Es setzte sich neben sie und begann zu erzählen :
„Ich bin Mortimer, ein Lebensraumleiher, ich leihe Lebensräume anderer Menschen und baue sie zu
meinem eigenen zusammen. Jeden Raum mit allem, was sich darin befindet, auch den Gerüchen und Gedankengängen, darf ich für einen Tag behalten. Dort lebe ich dann, bis der nächste Tag kommt.
So habe ich Räume aus der ganzen Welt schon bewohnt, und die Menschen haben sie nie vermisst, da ich niemals im Jetzt ausleihe.
Immer nur aus der Vergangenheit oder der Zukunft. Menschen befinden sich nie in den Räumen, ich sehe sie nicht, diese sind nur in ihrem Hier und Jetzt.
Die Gabe des Lebensraumleihens wurde mir vor 800 Jahren von einer Fee vermacht, aber sie warnte mich, daß
diese eines Tages verblassen würde. Zudem dürfe nie ein Originalbewohner des Raums diesen bei mir entdecken und betreten, denn dann müsse ich alles erzählen und mein Leben wäre damit beendet.
So mahnte sie an, immer weit in der Ferne, der Zukunft oder der Vergangenheit zuzugreifen, um eine Entdeckung der Räume der Bewohner ausschliessen zu können.
Jeden Morgen erwache ich in der Umgebung, die ich mir tags zuvor zusammenbastelte, dann ziehen erneut Lebensräume in meinen Gedanken vorüber, was mir gefällt nicke ich ab und
es steht mir einen Tag zur Verfügung.
Bei der Küche war es das Rezept der Tomatensauce, das mit dem Raum an mir vorüberzog und das mich zuschlagen liess.
Ich konnte die Sauce mit Hilfe der Gedanken Deiner Mutter zusammenstellen.
Aber wie die Fee mir damals sagte– die Gabe verblasst langsam, alles wird jetzt unschärfer. Die Tomaten samt Kräutern standen bereit- doch daß ich dazu noch Kartoffeln bräuchte, den Gedanken konnte ich erst verspätet lesen. Zudem entging mir, daß die Küche aus dem heutigen Venedig stammt. Und nun bist Du hier, eine Bewohnerin des geliehenen
Raums. So muss ich nun gehen..."
Und schlagartig war das Männchen verschwunden. Und mit ihm löste sich das Haus auf.
Luisa plumpste unsanft mit dem Po auf den Boden und saß plötzlich auf einer kleinen Wiese, inmitten der Gasse, in der das Fangenspiel stattfand.
„Luisa„ hörte sie plötzlich – und vor ihr stand ihre Freundin Marisa und klatschte sie ab, „was ist los, wie langweilig, weshalb setzt Du Dich denn hin, so habe ich Dich doch sofort, was machst Du auf der Wiese, wieso läuft Du denn nicht davon?“ .
Luisa zwinkerte in die Sonne. „Marisa wie seltsam, ich glaube, ich bin auf meinen Po gefallen und habe gerade sehr seltsam geträumt“ murmelte sie.
"So ein Quatsch , Du hast Dich doch gerade eben erst hingesetzt, das habe ich im Laufen gesehen und man kann doch nicht in so kurzer Zeit einschlafen und Träumen, oder?
Aber erzähl mir das später, jetzt komm, ich habe Dich abgeklatscht, Du musst mit mir kommen die anderen fangen."
Luisa konnte ihr Erlebnis zunächst nicht vergessen, es erschien ihr doch so
seltsam und real....aber ihr Spiel war so aufregend, daß sie das ganze dann doch für einen Traum hielt.
Am Samstag allerdings gab es ein kleines Detail, das sie wieder zum Nachdenken brachte.
So gab es die gewohnte Sauce, nur daß die Mutter diesmal vergessen hatte, die Kartoffeln gleich bereitzustellen.
Dafür musste sie noch einmal in den Keller gehen und bat Luisa, derweil auf den Topf aufzupassen.
Ein kleiner Schauer durchzog Luisa. Aber als sie vorsichtig in den Flur schaute, sah sie ihre Mutter bereits fröhlich mit den Kartoffeln aus der
Kellertür treten.
Luisa war erleichtert und das Essen schmeckte ihr ganz besonders gut.
Was es mit dem Männchen nun auf sich hatte, hat sich Luisa nie ganz erklären können.
Seither war sie sich nicht mehr sicher, ob ihre Wohnung nicht doch irgendwann früher oder in der Zukunft mal von einem seltsamen Männchen ausgeborgt wurdewird.
Himbeere, April 2016