Forumsbattle 50
Welt der Farben
von
Schnief
Thema: Die ganze Welt der Farben
Gewählt Weiß: Licht, Anstand, Friede, Neutralität, Reinheit
Pflichtworte:
Schimäre/Chimäre, Magie, Goethe
Farbenlehre, Staffelei, Horizont
Barhocker, Pantoffelheld
Text und Cover Schnief April 2015
Der Spaten kratzte über einen Stein, den der ältere Herr gerade am Ausgraben war. Nichts erfüllte ihn mehr als seine Gartenarbeit. Frühmorgens zog es ihn aus seinem kleinen Häuschen am Rande des Dorfes in den Garten, der längst erwacht war. Die Vögel zwitscherten und schienen den alten Mann munter zu begrüßen. Das Licht der morgendlichen Sonne brach sich durch das dichte Geäst der in voller Blüte stehenden Obstbäume und tauchte das kleine Paradies in einen magischen Schimmer aus gold und rosa.
„Diese verfluchten Kieselsteine“, zischte der alte Kautz und bückte sich schwerfällig auf die Knie, um den heimtückischen Stein
aufzuheben. Er drehte den Stein mehrfach in der Hand und kratzte die Erdklumpen ab, die seine Form und Farbe verdeckten. Der Stein hatte eine ungewöhnlich glatte Oberfläche und eine ebenso ungewöhnliche Farbe. Denn das milchige Weiß des Steins erinnerte den alten Herrn viel mehr an etwas unnatürliches, etwas von Menschen erschaffenes. Verwundert betrachtete er den kühlen Stein in seiner Hand, bis ihm auffiel, dass er beobachtet wurde. Neben dem Gartenzaun stand ein kleines Mädchen. Sie grinste breit und entblößte eine riesige Zahnlücke. Der Mann ließ den Stein fallen. Die Kleine war wesentlich interessanter.
„Hallo“, sagte sie und tippelte auf ihren kleinen Füßen hin und her. „Was machst du denn
da?“
Der Mann stand unter Stöhnen wieder auf und stützte sich auf seinen Spaten. „Ich grabe etwas aus.“
„Einen Schatz?“
Er schüttelte den Kopf und begann zu schmunzeln.
„Nein, kleines Fräulein, ich grabe keinen Schatz aus.“
Das Mädchen blickte zu ihm hinauf. Sie trug ein buntes Kleidchen mit kurzen Ärmeln und einer Strickjacke dazu, die aber von der rechten Schulter heruntergerutscht war.
„Ich würde gerne einen Schatz ausgraben.“
Ein trauriger Ausdruck machte sich auf dem kleinen Gesichtchen breit und den Mann überkam so etwas wie Mitleid. In diesem
Moment fegte ein leichter Windstoß durch den Garten und wirbelte die Blütenblätter von den Obstbäumen auf. Verträumt und friedlich schwebten sie um die beiden herum.
„Wenn du eine Blüte fängst, darfst du dir etwas wünschen“, sagte der Alte und nickte nach oben. Der Blick des Mädchens folgte dem seinen und nur einen kurzen Moment später begann die Kleine aufgeregt umherzuspringen, in dem Versuch eine Blüte zu erwischen.
„Ich habe Eine!«, ihre Augen strahlten und die kleinen Wangen leuchteten puderrot. Dem Alten bot sich ein Bild vollkommener Seeligkeit und Reinheit. Seit die junge Familie in dem Doppelhaus neben dem alten Mann eingezogen war, erfreute ihn das kleine
Mädchen beinahe täglich. Einmal in der Woche kam sie immer zum Malen bei ihm vorbei. Wie gewöhnlich trug sie dann einen Wasserfarbkasten und einen Block Papier unter dem Arm, packte alles auf dem Tisch in seinem Arbeitszimmer aus, holte sich ein Glas Wasser und begann ihr Werk. Meistens erklärte sie ihm, wie er gewisse Dinge zu malen hatte, obwohl er seit sechsundfünfzig Jahren als freiberuflicher Maler tätig und recht erfolgreich war. In ganz Europa kannte und schätzte man seinen Namen, aber das kleine Mädchen hatte von all dem keine Ahnung. Es verbot ihm der Anstand, der kleinen Künstlerin die Freude zu nehmen, ihn zu unterrichten und zu belehren. Außerdem reizte ihn ihre Anwesenheit und förderte seine
Kreativität, weil sie immer frischen Wind, so viel Neugier und gute Laune in sein altes, vollgestopftes Atelier mitbrachte.
„Was wünschst du dir denn?“, fragte er und rammte den Spaten in die Erde. Er klopfte seine Hände an der Hose ab und schlenderte gelassen zum Haus. Das Mädchen folgte ihm, indem sie durch eine Lücke im Gartenzaun schlüpfte und über die Wiese tapste.
„Eine Staffelei. Aber so eine, wie du sie hast.“
„Wozu brauchst du denn eine Staffelei?“
Sie nahm seine Hand und zog ihn zu sich.
„Damit ich eine Künstlerin werden kann.“
Wenn der alte Mann sein Haus betrat, wurde er zum Pantoffelhelden, machte sich einen Kaffee (der Kleinen einen Kakao, wenn sie da
war) und setzte sich in sein Atelier. Für gewöhnlich ließ er sich dann auf dem Barhocker neben seiner Staffelei und dem großen Bücherregel nieder.
„Man braucht keine Staffelei, um ein Künstler zu sein“, sagte er und kam mit den Getränken aus der Küche wieder. Das Mädchen saß auf dem Schreibtisch und betrachtete die Bücherregale. Nachdem er sich auf seinem Platz niedergelassen hatte, kletterte sie sich auf seinen Schoß, bedankte sich für den Kakao und begann genussvoll zu trinken. In solchen Momenten warf der Alte einen Blick aus dem Fenster und betrachtete den Horizont. Er war nie weiter gekommen, als bis zu diesem Horizont. Nie viel gereist, immer
Zuhause gewesen. Die Kleine hatte Träume, die hoch hinausgingen. Vielleicht würde sie es schaffen, den eigenen Horizont zu erweitern, denn sie war etwas Besonderes. Sie war seine kleine Schülerin, ohne, dass sie es wusste.
„Warum möchtest du denn überhaupt eine Künstlerin werden?“, fragte er und nippte an seiner Tasse Kaffee.
Das Kind überlegte einen Augenblick, bevor es antwortete: »Wir haben im Kindergarten den Farbkreis gemalt und ich war die einzige, die ihn richtig gemalt hat. Und dann habe ich gedacht, dass ich doch eine Malerin sein könnte.«
„Ihr habt die Farbenlehre im Kindergarten
besprochen?“, der alte Mann erinnerte sich an sein Kunststudium und den Professor, der immer und immer wieder betont hat, dass Goethes Farbenlehre ein elementarer Bestandteil des modernen Kunstverständnisses gewesen sei. Doch damit wollte er die Kleine nicht langweilen.
„Ja“, sie stellte die ausgetrunkene Tasse auf den Tisch und deutete an die Wand. „Was ist das? Das sieht ja aus wie eine Ziege!“
„Das ist eine Chimäre“, sagte er und betrachtete die Zeichnung, die er seiner Frau vor Jahren zum Hochzeitstag gemalt hatte. „Das ist ein Fabelwesen.“
„Du malst ja komische Sachen“, sie stand auf und fuhr mit den Finger die Konturen seiner Zeichnung nach. Das tat die Kleine
häufig.
„Die Chimäre steht für nicht durchdachte Ideen und zu schnelle Entscheidungen“, murmelte er und musste schmunzeln, dass dieses Fabelwesen ausgerechnet das Lieblingstier seiner Frau war.
„Ich hätte das Bild bunt gemalt.“
Dem Alten kam eine Idee, die ihn reizte.
„Was hältst du davon, wenn wir einen Wettbewerb machen? Jeder von uns beiden malt ein Bild von demselben Gegenstand und irgendjemand, der die Neutralität in Person ist, bewertet am Ende, welches Bild das schönere ist?!“
Die Kleine starrte ihn an. „Wir malen was?“
„Wir malen beide dasselbe und lassen jemanden entscheiden, welches Bild schöner
ist!“, er fand die Idee großartig. In seinem Kopf überschlugen sich schon die Ideen.
„Oh ja!“, rief die Kleine und sprang herum.
„Dann kann ich dir zeigen, dass das Tier viel schöner wäre, wenn es bunt gemalt ist.“
Das waren die Momente, die der alte Herr so schätzte, dass das kleine Mädchen ihn mit ihrer Lebensfreude und ihrer Fantasie ihn ansteckte und dazu verleitete, seinen Wünschen und Träumen zu folgen und einfach den Moment zu genießen. Und wenn wir gerade bei dem Begriff Moment angelangt sind, lässt sich abschließend sagen, dass eine wütende, feuerspeiende Chimäre in den Köpfen der Beiden herumwirbelte und zu tausenden neuen Ideen
anregte.
Dieser Beitrag
schaffte es auf
den 4. Platz
Im 50. Forumsbattle (Goldene)