ÜBERRASCHUNG
Ich spürte es genau ..... irgendetwas lag an diesem Weihnachtsabend in der Luft.
Mutti war – wie immer – abgehetzt und nervös. Die Vorbereitungen für das Fest hielten sie in Atem. Obwohl bereits alles getan war, der Weihnachtsschinken in Brotteig seinem großen Auftritt entgegenbrutzelte, die Getränke kühl gestellt waren und Vati die Bowle angesetzt hatte, jagte unsere Mutter mit glühenden Wangen durch die Wohnung. Sie huschte ins „Weihnachtszimmer“, sehr darauf bedacht, meiner Schwester und mir jeden Blick in diesen geheimnisvollen Raum zu verwehren.
„Ich schau schnell zum Christkind hinein“, sagte sie und verschwand mit vollen Taschen hinter der Tür.
„Klick!“, fiel die Türe zu und gleich darauf drehte sich der Schlüssel ächzend im Schloss.
So angestrengt Liesa und ich lauschten, außer Papiergeraschel vernahmen wir nichts.
„Hilft Mutti dem Christkind?“, fragte Liesa.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
Gab es das Christkind? Oder ließ es sich von den Eltern vertreten?
Ich wusste ja, dass Vati den Baum ins Zimmer getragen hatte. Ich wusste auch, dass in den Taschen Päckchen und Pakete, Weihnachtsgeschenke, waren.
Aber ob das Christkind da und dort sozusagen die Regie übernahm – da war ich mir nicht ganz sicher.
„Ich glaube schon“, sagte ich – schließlich bin ich der größere Bruder und schon viel erfahrener als Liesa – „und ich glaube auch, dass das Christkind aufpasst, ob wir auch wirklich brav sind.“
„Wie genau passt es auf? Meinst du, es sieht alles?“
Zum Glück trat Vati ins Zimmer.
Auch er benahm sich so eigenartig .... und mein Gefühl, dass irgend etwas in der Luft lag, verstärkte sich drastisch.
Vati pfiff vergnügt vor sich hin und ein Grinsen von einem Ohr zum andern lag auf seinem Gesicht. Seine Augen schienen Funken zu sprühen.
„Ich bin kurz weg. Dauert nicht lange.“, sagte er und legte seinen Zeigefinger auf den Mund. „Aber verratet es Mutti nicht.“
Und weg war er.
Ach, dieses Warten! Und dieses Bravsein! Das war schlimm. Und besonders schlimm zu Weihnachten.
Wir versuchten, uns mit Spielen die Zeit zu vertreiben. Aber kein Spiel konnte uns fesseln.
Wir waren unkonzentriert und nur mit halber Sache dabei. Unsere Gedanken kreisten um das Christkind und was es uns wohl bringen würde.
Mutti hastete in die Küche, in das Schlaf- und Wohnzimmer, ja sogar in den Keller. Sie schaute nach dem Schinken im Backrohr, mischte Salate und schlichtete auf große Teller und Platten Weihnachtskekse. Sie hatte kein Auge und keine Zeit für uns.
„Geht doch spielen.“, sagte sie, sah kurz auf und meinte, wir sollten sie nicht so nerven.
Dann aber war es doch so weit!
Es war rasch dunkel geworden. Vati kam zurück. Auf seinem Gesicht lag immer noch dieses verschmitzte Lächeln.
Mutti schickte uns ins Badezimmer und legte die Sonntagskleider bereit.
„Macht euch nun für das Christkind schön. Wir wollen es doch festlich empfangen. Oder nicht?“ Sie zog Liesa an sich und streichelte zärtlich über ihr Haar.
Mein Herz begann laut zu klopfen und meine Ohren glühten dunkelrot.
„Klingelingeling!“, bimmelte ein zartes Glöckchen im Weihnachtszimmer.
Vati öffnete die Tür – wir traten ein.
Dieser Moment nimmt mir immer wieder den Atem.
Festlich geschmückt erstrahlte der Christbaum im Kerzenschimmer. Engelhaar hatte sich in seinen Zweigen verfangen und gut zehn Wunderkerzen warfen hunderte Sterne in den Raum.
Unter dem Baum aber lagen Päckchen, Päckchen und wieder Päckchen, doch ganz vorne stand eine große Schachtel.
Was war das? Hatte sich die Schachtel bewegt?
Ich zwinkerte und rieb mir die Augen.
Da! Schon wieder! Die geheimnisvolle Schachtel wackelte.
Wie hypnotisiert blieb mein Blick an ihr hängen ..... und wieder hatte ich dieses eigenartige Gefühl, dieses Gefühl von etwas Besonderem, etwas Außergewöhnlichem.
Mutti stimmte „Stille Nacht, Heilige Nacht ....“ an. Wir fielen ein und wollten - wie immer - dieses schöne Weihnachtslied gemeinsam singen.
Wir wollten .....
Doch kaum hatten wir ein paar Takte gesungen, erscholl aus der Schachtel ein jämmerliches Gejaule.
„Was ist das?“, fragte Mutti.
„Unser aller Weihnachtsgeschenk!“, lachte Vati.
Unser aller Weihnachtsgeschenk jaulte und kläffte, und die Schachtel schwankte bedrohlich hin und her.
„Öffnet sie!“, wies Vati Liesa und mich an, „aber seid vorsichtig.“
Ich hielt den Karton fest und meine Schwester entfernte das locker herum gewickelte Schmuckband.
Ein Hund sprang heraus und warf Liesa zu Boden.
Aufgeregt schleckte er ihr das Gesicht ab.
„Das ist ja Bepo!“, rief ich erstaunt, „Bepo aus dem Tierschutzhaus!“
Vor drei Wochen waren wir dort gewesen.
Unzählige Hunde – verschieden nach Rasse, Alter und Aussehen – wanderten unruhig hinter den Stäben hin und her oder hockten ergeben in ihren Gefängnissen, in den Hundezwingern. In ihren Blicken war die Sehnsucht nach Liebe und einem Zuhause unübersehbar.
„Lieb und brav soll er sein.“, wiederholte die Betreuerin Vatis Worte und führte uns zu einem mittelgroßen Schnauzermischling.
„Ist der süß!“, jauchzte Liesa auf und drängte sich an das Gitter.
„Und er ist sehr kinder- und familienfreundlich.“, fuhr die junge Frau fort.
Bepos temperamentvolles Gehabe gefiel uns. Am liebsten hätten wir ihn gleich mitgenommen.
„Im Sommer,“ bremste uns Vati ein, „im Sommer holen wir einen Hund nachhause.“
Doch wir durften mit Bepo spazieren gehen, ihn streicheln und kraulen.
Und jetzt! Jetzt saß er da bei uns unter dem Tannenbaum!
Nein, er saß nicht. Er sprang ausgelassen umher.
Beim Öffnen der Päckchen arbeitete er tatkräftig mit, und das schöne Weihnachtspapier flog in Fetzen durch das Zimmer. Mutti brachte die Geschenke hektisch in Sicherheit und stöhnte unentwegt: „Nein, so was! Nein, so was!“
Bepo war der Clou des Abends.
„Er wird Hunger haben.“, sagte Mutti. „Hast du auch an Hundefutter gedacht?“
„Klar!“, rief Vati und schlug mit der flachen Hand auf seine Stirn.
„Klar! Das Christkind hat ja auch für Bepo etwas gebracht!“, und er zog den Hund am Halsband zum Baum hin.
Etwa in einem Meter Höhe baumelten zwei knackwurstgroße Päckchen.
„Schau nur, Bepo!“, sagte Vati und wollte sie von den Zweigen lösen.
Doch er hatte nicht mit Bepos Geruchssinn gerechnet.
Ein Sprung - und mit einem gezielten Schnapper fasste Bepo sein Geschenk, zog daran .... und ehe Vati oder irgendwer etwas dagegen tun konnte, fiel der Christbaum krachend um und begrub den Hund unter sich.
Das Durcheinander und die Wirtschaft kann man sich wohl vorstellen. Das brauche ich sicher nicht erzählen. Auch nicht, wie Mutti schimpfte und zeterte und wie wir alle die Bescherung aufräumten.
Zuerst waren Liesa und ich ja auch erschrocken, doch dann mussten wir lachen.
Immer wieder lachen, bis auch Mutti und Vati lachten und wir übereinstimmend feststellten:
Dies war unser schönster und lustigster Weihnachtsabend!
(C ) I. H.