Keinen klaren Gedanken kann sie mehr fassen, seitdem …
Ihre Knie vergraben sich in der lockeren Erde. Sanne platziert zum wievielten Mal mit dem kleinen und hoffentlich noch sauberen kleinen Finger ihre vorwitzige Haarsträhne hinter ihrem Ohr.
Nervigerweise löst diese sich alle zwei Minuten!
Kurz schweifen ihre Gedanken zu dem Haargummi, das auf dem Badewannenrand liegt.
Sie war spät dran gewesen. Warum überhaupt?
Hier kommt es auf ein paar Minuten nicht an.
Innerhalb dieses Zaunes herrscht die Ewigkeit vor. Immer, wenn sie diese Insel des Leids betritt, schleicht ein seltsames Gefühl ihren Hacken hinauf.
Es ist nicht zu beschreiben. Wie auch jetzt. Etwas eigenartiges geht hier vorsich.
Sanne ist klar, es ist nur ihr Gefühl.
Es ist ihr Schmerz, der sie nicht durchatmen lässt.
Es ist ihr Grauen vor diesem Ort.
Es hätte nicht so kommen müssen …
Und nun kniet sie im Dreck und versucht über das Unkraut Herr zu werden.
Der Bodendecker erledigt beflissentlich seine Aufgabe und deckt alles ab. Aber auch alles.
Dass sie beim Kauf nicht von dem Fachmann gewarnt wurde, ärgert sie maßlos.
Dieses Zeug ist nicht totzukriegen!
Bei dem Gedanken rinnen ihr still die Tränen über die Wangen. Tropfen zerspringen auf den eigentlich so hübschen Blättern dieser überlebenshungrigen Pflanze.
Und wieder dieses Gefühl.
Das Gefühl im Nacken, als wäre sie nicht für sich.
Nicht allein in diesem Moment.
Ganz leicht bewegt Sanne ihren Kopf.
Und da!
Auf dem Grab neben ihr sitzt jemand.
Auf dem Grabstein!
Langsam hebt sie den Kopf.
Streicht erneut alle Haarsträhnen, die sich greifen lassen, hinter die Ohren.
Ein Mann sitzt da und schaut gelassen zu ihr runter.
Seine Augen erzählen von Weite und Freiheit, von Besonnenheit und Nächstenliebe, sein narbiges Gesicht von großem Leid, seine Mundwinkel von Entschlossenheit.
Das schwarze Haar von unzähligen Silberlichtern durchzogen, weht leicht in der sanften Frühlingsbriese.
„Was tust du hier?“, fragt er allen Ernstes.
Sanne mustert ihn kurz. Stumm.
Dann widmet sie sich erneut ihrer Aufgabe.
Spürt diesen Blick. Diesen ruhigen, aber durchdringenden Blick auf ihrem Nacken. Genau dort, wo sich ihr Haar teilt.
Weil sie sich beugt.
Gebeugt ihre Aufgabe erfüllt.
Doch weiterarbeiten kann sie nicht.
Sie lässt die Harke sinken.
„Wer bist du?“
„Ein hilfesuchender“
„Suchen wir die nicht alle?“
Er nickt und sieht den Meisen bei ihrem Spiel im Apfelbaum zu.
Sanne wendet sich wieder dem Grab zu. Versucht sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.
Doch dieser Mann beunruhigt sie - mit seiner gelassenen Art.
„Würdest du dich bitte woanders hinsetzen? Ich brauche etwas Ruhe für mich.“
„Ich werde kein Wort sagen.“
Geräuschvoll atmet sie aus.
„Ich meine, ich will allein sein!“
„Ehrlich? Möchtest du das wirklich?“
Nein. Ehrlich gesagt: Nein! Gerne wäre sie bei ihrer Mutter. Ja, sie spricht mit ihr. Natürlich! Aber die Verbindung ist schlecht. Sanne versucht es. Immer und immer.
Wie besessen.
Doch es kommen einfach keine Antworten! Und das macht sie ganz wahnsinnig!
Und jetzt geht ihr auch noch dieser Penner auf die Nerven!
Doch dieser reicht ihr die Hand. Sie sieht auf die Erdklumpen an ihrer eigenen und reicht ihm den kleinen Finger.
Er nimmt ihre ganze Hand.
Fest in seine.
Angenehm fest.
Warm und trocken.
„Ich heiße Balthasar.“
„Sanne“, sagt sie mit widerwilligem Unterton und will ihre Hand zurückziehen. Doch er hält sie fest.
Fest umschlossen.
Innig und behütend.
Er stört sich nicht an ein paar Erdklumpen.
„Ich frage noch einmal: Was tust du hier?“
„Ich pflege das Grab meiner Mutter. Und nun gib meine Hand frei, damit ich weitermachen kann!“
Wie ein eiliger Fisch rutscht sie aus seinem Griff und zieht schnell ihre Hand zurück.
Zurück an die Harke, durchpflügt sie mit gepressten Lippen das erdige Beet.
Zerrt an den saftigen Pflanzensträngen, die sich nur so an den Boden klammern. Reißende Laute durchschneiden die laue Frühlingsluft.
In ihrem Sichtfeld erscheinen seine verdreckten Knie.
Vom Unkrautberg nimmt er einen Zweig.
Er dreht das Blattwerk vor seinen – und Sannes – Augen.
„Sind diese Blättchen nicht wunderschön?
So zarte Äderchen, sieh sie dir doch mal richtig an!“
Ja, deswegen hatte sie diese Pflanze einst ausgesucht! Und doch sollte sie nicht das gesamte Grab beherrschen!
„Sie müssen weg! Alle! Sie ersticken die blühenden Blumen, die Mama so geliebt hat! Und deswegen …“
Ihre Stimme versagt. So gerne würde sie hier ihre Aufgabe erledigen und mit ihrer lieben Mutter sprechen, selbst wenn ihr die Antworten versagt bleiben. Aber stattdessen muss sie sich nun mit diesem Kauz abplagen.
„Ja, das ist richtig. Sie hat die satten, bunten Blüten immer geliebt. Damals.“
Sannes Hände frieren ein.
Zu keiner Bewegung mehr fähig.
Wie erstarrt kauert sie vor der aufgebuddelten Erde. Ihr Herz pocht wild an ihrem Hals,
die Hände zittern. Versucht sich zu sammeln.
„Damals, als sie dich noch hatte.
Als ihre Welt in bester Ordnung war.
Ja, damals waren ihr die bunten Blüten wichtig. Sehr wichtig.“
Ihr schwirrt der Kopf. Die Tränen rinnen, und das Beben der Schultern ist nicht mehr zu unterdrücken.
Alles tritt zutage.
Der Schmerz, der Schnodder.
An diesem Frühlingstag.
Die warme Hand legt sich auf ihre Schulter.
„Heute ist es was anderes.
Denn nichts ist mehr in Ordnung.
Sie geht ein, wenn sie euch so leiden sieht. Sie wünscht sich vor allem euer Glück. Möchte euch lachen und leben sehen.
Sie mag diese Pflanze. Dieses tapfere Grün. Dein Vater, deine Schwester und du.
Ihr sollt leben. Und ihr sollt wieder froh sein. Sie möchte euch glücklich sehen.
Und ihr sollt dieses tapfere Pflänzlein lieben. So, wie es ist, ist es gut.“
Während Balthasar auf Sanne einredet, verwischt er die Spuren auf dem Grab.
Richtet die verbliebenen Triebe.
Für ein paar Augenblicke streicht er behütend über ihr Haar.
Dann geht er davon.
Er hat hier nichts verloren.
Er ist nur ein Botschafter.