Ragnar und Alexej stecken mitten in den Vorbereitungen für eine Mission, die sie an einen der gefährlichsten Orte der Welt führen wird. Den Schwarzen Fleck. Zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört die Zusammenstellung einer Mannschaft, die ihr Überleben sichern soll. Dafür benötigen sie Begabte; Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die nichts mehr zu verlieren haben. Aber der Schwarze Fleck ist nicht nur ein dunkler Ort auf der Landkarte. Er steckt in der Vergangenheit, den Zielen und Motiven jedes Teammitglieds.
Szene 1 Alexej streckte sich gähnend. So jung und schon Rückenschmerzen – ein weiterer Beweis dafür, dass ihm ein Bürojob nicht guttat. An der Decke hing die kahle Glühbirne, die bereits bei seinem Einzug vor zwei Jahren dagewesen war; ihr Licht blendete, aber die Sonne hatte sich schon vor Stunden verabschiedet. Ebenso wie seine Sekretärin. Vermutlich war abgesehen von ihm und der Wache am Eingang niemand mehr im Verwaltungstrakt. Gelangweilt klickte er sich durch seine geöffneten Browserfenster und die
diversen Blogs und Zeitungsartikel, von denen er sich deutlich mehr erhofft als bekommen hatte. 10 Anzeichen, dass ihr Liebster begabt ist. Eine Liste, die sich auf das Öffnen fest verschlossener Marmeladengläser, unverschämt gutes Aussehen ohne erkennbare sportliche Betätigung und überdurchschnittliche Liebhaberfähigkeiten beschränkte. Verheimlicht deutscher Außenminister Begabung? Die aktuelle Sau, die durchs journalistische Dorf getrieben wurde. Schon erstaunlich, welche Folgen es haben konnte, wenn man sich als öffentliche Person zufällig in der Nähe eines Hauses aufhielt, das aus noch
unbekannten Gründen abgefackelt war. Er hatte nur Glück, dass Begabungen in Deutschland nicht geahndet wurden. Sollte er wirklich für den Brand verantwortlich sein, würde das wie bei jedem Unbegabten als einfache Brandstiftung behandelt werden. Die Meinung der Öffentlichkeit mochte davon allerdings abweichen. Begabungen doch genetisch bedingt? Ein langer Artikel einer Onlinezeitung, der neue Erkenntnisse versprach, aber eigentlich nur Studien aufwärmte, die mindestens ein halbes Jahr alt und ebenso umstritten wie der Rest dieses Forschungszweigs waren. Mit einem tiefen Seufzer schloss Alexej
alle Browserfenster und drehte dafür die Musik lauter. Was hatte er eigentlich erwartet? Dass ein paar windige Artikel zweifelhafter Quellen mehr Informationen brachten als die wissenschaftlichen Fachmagazine, durch die er sich seit Jahren in seiner Freizeit wühlte? Ein Klopfen lenkte seine Aufmerksamkeit auf die offene Tür. „Ragnar?“ „Störe ich?“ „Njet. Eigentlich ist dein Timing perfekt.“ Und eigentlich hätten ihn der Pförtner, oder spätestens der Wachmann am Eingang informieren müssen. Alexej schob den Gedanken beiseite. Das war
eben Ragnar. Großgewachsen, mit breiten Schultern und dunklen Haaren, die gerade lang und unordentlich genug waren, um den Anschein zu erwecken, kein Interesse für solche Banalitäten aufbringen zu können, zog er mühelos die Blicke der Frauen auf sich. In Jeans, die Lederjacke locker über die Schulter geworfen und ein selbstsicheres Lächeln auf den Lippen, sah er aus, wie das wandelnde Klischee eines Typen, der sich jeden Abend eine andere mit nach Hause nahm. Lediglich die um seinen Unterarm geschlungene Gebetskette störte dieses Bild. „Hältst du dich eigentlich an alle Gebote deines
Ordens?“ Ragnars Lächeln wurde breiter. „Na kommt. Wenn schon direkt, dann bitte richtig. Selbstverständlich ich halte mich an die Gebote meines Ordens. Auch an das der Enthaltsamkeit.“ „Trauriges Leben.“ „Und trotzdem bist du derjenige von uns beiden, der ständig jammert.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er zum Thema kam. „Du sagst, du hättest etwas für uns.“ Alexej nickte. „Allerdings. Muss nur noch schnell zusammenräumen. Setz dich. Im Kühlschrank sind Getränke.“ Er deutete auf den kleinen, unter einem Beistelltischchen versteckten
Kühlschrank, den er sich vor ein paar Monaten geleistet hatte. Ragnar lehnte sich gegen die Lehne des gelben Sofas, das zusammen mit dem Kühlschrank seinen Weg ins Büro gefunden hatte, sah aber davon ab, sich etwas zu Trinken zu nehmen. Rasch sammelte Alexej die Steckbriefe der neuen Insassen ein, die auf seinem Schreibtisch gelandet waren und warf sie auf den kleinsten Stapel, der trotzdem schon jetzt gefährlich schief stand. Irgendwann würde er den Mist mal einordnen müssen. Aber nicht heute. Vielleicht morgen. Wenn er Zeit hatte. Geordies All because of you erstarb mitten im Refrain als er seinen PC
herunterfuhr. Sobald sie mit dieser Sache fertig waren, galt es, den kläglichen Rest des Abends zu genießen. Jetzt noch Schlüssel und Keycard und … Keycard. Gerade war sie noch da gewesen. Hastig suchte er den Schreibtisch ab, während er nach seinem Telefon griff und blind die dreistellige Durchwahl eintippte. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich die Wache im Sondertrakt. „Bereitet sie wie besprochen vor.“ Alexej legte auf, ohne sich zu verabschieden. Er hatte seine Keycard erspäht; sie lag ganz unschuldig direkt vor seiner Nase. „Dann mal los.“ Ragnars amüsiertes Lächeln ignorierte er
gekonnt. Der Wachmann, der Dienst hinter der Plexiglasscheibe am Ein– und Ausgang des Verwaltungstrakts schob, grüße Alexej höflich, wurde jedoch merklich blass, als er Ragnar erspähte. Alexej überlegte, seiner Mutter unter die Nase zu reiben, dass ihre Sicherheitsvorkehrungen nicht halb so gut waren, wie sie dachte, entschied sich letztlich aber dagegen. Das einzige, das dabei rauskäme, war noch mehr Kontrolle und eine arbeitslose Wache. Der Kies knirschte unter ihren Füßen als sie den weitläufigen Hof betraten, der den Verwaltungstrakt von der eigentlichen Haftanstalt trennte. Ein
unbarmherziger Nordwind riss das letzte bisschen Wärme fort, die leistungsfähigen Halogenstrahler vertrieben auch die hartnäckigsten Schatten. „Zeit für ein kurzes Briefing“, beschloss Alexej. Sein Atem bildete zarte Wölkchen. „Wir haben zwei Kandidaten. Der Erste, Henrik Ackermann, ist so klischeehaft, dass ich es selbst kaum glauben kann. Diverse Körperverletzungsdelikte, das letzte mit Todesfolge. Das hat ihm dann auch eine offizielle Verurteilung eingebracht, aber er konnte türmen. Nicht die hellste Kerze auf der Torte, dafür Begabung zu erhöhter Körperkraft. Wir haben ihn
schnell aufgespürt, aber es hat drei meiner Männer gebraucht, um ihn zu überwältigen. Einer liegt mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus. Sieht aus als wäre er aus dem vierten Stock gefallen.“ Er machte eine kurze Pause, damit Ragnar die Information sacken lassen konnte. „Den zweiten habe ich selbst eingefangen.“ „Ich dachte, deine Zeiten als aktiver Kopfgeldjäger sind vorbei?“ „Eigentlich schon“, murrte Alexej. „Aber gelegentlich übernehme ich den einen oder anderen Auftrag, bevor mir die Decke endgültig auf den Kopf fällt. Jedenfalls sah es zunächst nach einer kleinen Sache aus. Privatauftrag. Der
Gute hat irgendwelche strenggeheimen Daten aus seiner Firma mitgehen lassen und teuer an die Konkurrenz verkauft. Fanden die nicht so witzig und haben ein hübsches Sümmchen für seine Ergreifung und Aufbewahrung gezahlt.“ Als er Ragnars Gesichtsausdruck bemerkte, machte er eine kurze Pause. „Jetzt sag mir nicht, dass du nicht weißt, was ein Privatauftrag ist.“ „Ich bin Priester. Um so weltlichen Kram muss ich mir zum Glück keine Gedanken machen.“ „Du meinst abgesehen davon, dass auch du dem hiesigen Gesetz unterliegst. So weltlich es auch sein mag.“ Ragnar zuckte mit den Schultern. „Ich
plane keine Morde, Diebstähle oder sonstigen illegalen Scheiß. Damit bin ich bisher ganz gut gefahren.“ „Mhm“, brummte Alexej. „Und dass ich seit beinahe drei Jahren über meinen Job nöle, während du vorgibst mir zuzuhören, hat wohl auch nicht geholfen.“ Mit einem Mal verschwand die Gelassenheit aus Ragnars Körperhaltung. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich habe dir zugehört“, stellte er klar. „Vielleicht ist mir das eine oder andere strafrechtliche Detail entgangen, aber …“ Er seufzte. „Vergiss die Rechtfertigungen. Tut mir leid, falls ich nicht immer so zugehört
habe, wie ich es hätte tun sollen.“ Alexej grinste und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Lass den reumütigen Quatsch. Steht dir nicht und ist auch nicht nötig. Niemand war in den letzten drei Jahren mehr für mich da.“ Er vergrub seine Hände tief in den Taschen seines Mantels. „Okay, Lektion Nummer eins im deutschen – und russischem – Strafrecht. Gefängnisse sind teuer. Gefängnisse mit Insassen sind noch teurer. Der deutsche Staat hat kein Geld für teure Dinge. Also hat er vor nicht allzu langer Zeit beschlossen, eine für ihn günstigere Lösung aus Russland zu übernehmen. Jetzt betrachtet er sämtliche Urteile, die nicht
mit einer mindestens achtjährigen Haftstrafe enden als minderschwer und kommt nicht für die Inhaftierungskosten der Verurteilten auf. Sollen sie dennoch hinter Gitter wandern, muss ein anderer Geldgeber einspringen. Muss ich erwähnen, dass viele Fälle deshalb fallengelassen werden?“ Sie hatten den Hof durchquert und standen wenige Meter vor der Seitentür, die sie zunächst in den Aufbewahrungs– und von dort in den Sondertrakt führen würde. Alexej hatte Lust sich eine Zigarette anzustecken, sah aber davon ab. Auch wenn Ragnar nie ein Wort darüber verloren hatte, wusste er, dass der Rauch ihn störte. Also verdrängte er
das Bedürfnis und fuhr fort. „Unsere Nummer Zwei wurde zu fünf Jahren verurteilt und hatte Unglück im Glück.“ „Unglück im Glück?“, wiederholte Ragnar fragend und lehnte sich gegen die raue Betonmauer des niedrigen Gebäudes. Den Kragen seiner Lederjacke hatte er zum Schutz vor der Kälte hochgeschlagen. „Wie gesagt, es ging um Firmengeheimnisse. Damit hat er einer ziemlich erfolgreichen und ziemlich liquiden Firma gehörig ans Bein gepinkelt. Die hat daraufhin beschlossen, ein Exempel zu statuieren und die vollen fünf Jahre Haft zu
bezahlen.“ „Und trotzdem lassen sie sich jetzt auf den Deal ein?“ „Ich war halt sehr überzeugend“, entgegnete Alexej zufrieden. „Was kann er?“, kam Ragnar wieder auf das eigentliche Thema zurück. „Zunächst mal ist er nicht auf den Kopf gefallen. War nicht einfach, ihn aufzuspüren. Ein Kämpfer ist er allerdings definitiv nicht. Deshalb dachte ich, er wäre ein ideales Trainingsobjekt für unsere Neulinge. Bis der Junge, den ich vorgeschickt hatte, wie ein Sack umgefallen ist. Hat mir ‘nen ordentlichen Schrecken eingejagt. Dann hab ich mich persönlich drum
gekümmert. Es war offensichtlich, dass der Typ keine Kampferfahrung hat und ich hab die ganze Zeit seine Hände im Blick behalten. Keine Waffe, keine verdächtigen Bewegungen. Trotzdem hab ich mir einen elektrischen Schlag eingefangen als ich ihn überwältigen wollte. Nicht stark genug, um mich auszuknocken, vermutlich weil ich meine Lederhandschuhe an hatte, aber es war verflucht schmerzhaft.“ „Der Typ – wie ist sein Name? – kann also Strom produzieren?“ „Cornelius … Irgendwas. Und ja, kann er. Haben unsere Tests später bestätigt. Nicht tödlich, aber es reicht, um einen Gegner für kurze Zeit außer Gefecht zu
setzen. Wenn er eben nicht gerade Schutzkleidung trägt.“ Alexej blies heißen Atem auf seine durchgefrorenen Hände. „Lass uns endlich reingehen. Ist in den letzten Tagen schweinekalt geworden.“ Er zog seine Keycard durch den Scanner und wartete, bis das kleine Lämpchen von rot auf grün gesprungen war, bevor er sich gegen die Tür stemmte. „Mir wird gerade klar, dass ich noch nie hier war“, stellte Ragnar fest und sah sich um. Zu beiden Seiten eines langen Gangs reihten sich vergitterte Zellen aneinander; im hinteren Bereich waren Einzelzellen verbaut, deren stabile
Stahltüren lediglich ein schmales, von Sicherheitsglas bedecktes Fenster aufwiesen. Der matschgrüne PVC-Boden war gespickt mit Flecken unbekannten Ursprungs, ganz egal wie viele Reinigungsaufträge Alexej schon vergeben hatte. Der Geruch nach Gummi und Desinfektionsmittel hing in der Luft und überlagerte wenigstens teilweise Alkohol, Erbrochenes und menschliche Ausdünstungen. „Das sind die Aufbewahrungszellen“, erklärte Alexej. „Hier landet jeder, den wir ohne Verurteilung irgendwo aufgesammelt haben. Im Grunde also die üblichen Durchlaufposten. Säufer, Hitzköpfe, sowas halt. Wenn es draußen
so kalt ist, auch immer mal minderjährige Ausreißer und Obdachlose. Eben alles, was man nachts so trifft und nicht guten Gewissens auf der Straße lassen kann, weil sie eine Gefahr für sich oder andere darstellen. Außerdem solche, für die ein Privatauftrag eingegangen ist, die Auftraggeber sich aber letztlich doch dagegen entscheiden zu zahlen. Die bleiben bei uns, bis die vierzehn Tage Bedenkzeit verstrichen sind, dann lassen wir sie wieder gehen.“ Er gestikulierte zu den Einzelzellen am anderen Ende des Gangs, neben denen eine weitere, schwere Stahltür installiert war. „Da hinten geht’s zum Essenssaal. Der ist
sowas wie das Verbindungsstück der einzelnen Abteilungen. Frauentrakt, Männertrakt und dieser hier schließen daran an.“ „Und wo sind unsere beiden Kandidaten?“ „Im Sondertrakt. Ist eigentlich kein eigener Trakt, sondern nur ein Teil des zweiten Stocks von dem hier. Naja, er könnte sogar noch kleiner sein. Mit Henrik haben wir genau einen dauerhaften Insassen dort.“ „Was ist mit Cornelius? Ich bin davon ausgegangen, dass jeder mit Begabung dort landet.“ „Sollte eigentlich so sein.“ Alexej lehnte sich gegen die kühle Wand und
ließ seinen Blick durch den langgezogenen Raum schweifen. Noch immer konnte er kaum begreifen, dass er für die Verwaltung dieses riesigen Komplexes zuständig war. „Aber im Sondertrakt zu sitzen, bedeutet praktisch in Isolationshaft zu sitzen. Die Zellen sind Einzelzellen, Essen gibt es direkt dort, die Ausgangszeiten für den Innenhof sind stark begrenzt und ohne Kontakt zu anderen Häftlingen. Kannst du dir vorstellen, was diese Einsamkeit mit einem Menschen machen kann?“ „Nichts Gutes, würde ich vermuten.“ Alexej lächelte grimmig. Er hatte mehr als einmal gesehen, wie schnell Menschen in der Isolation degenerierten.
„Jedenfalls ist Cornelius noch nie wegen Gewaltdelikten aufgefallen, deshalb sehe ich keinen Grund, ihn nicht zu den anderen Häftlingen zu lassen. Ein paar von ihnen dürften deutlich gefährlicher sein als er, auch ohne Begabung. Henrik … ist eine andere Geschichte.“ Er stieß sich von der Wand ab. „So, das war die kurze Führung. Sehen wir zu, dass wir das schnell erledigen und dann hier wegkommen.“ Zügig liefen die beiden durch den Gang und es brauchte ein bisschen, bis Alexej bemerkte, dass Ragnar zurückgefallen war. Als er sich umdrehte, sah er seinen Freund stocksteif in der Mitte des Gangs stehen und in eine der Zellen starren. Es
war unmöglich, seine Mimik zu deuten, aber das allgegenwärtige Lächeln war verschwunden. Mit wenigen Schritten schloss Alexej zu ihm auf und spähte durch die Gitterstäbe, um zu sehen, wer Ragnars Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war eine junge Frau. Den Körper hatte sie in einen dunklen Mantel gehüllt – das sprach dafür, dass man sie erst vor ein paar Stunden hierher gebracht hatte – nur ihr Gesicht war zu erkennen. Sie war attraktiv, wenn auch ein eher spezieller Typ, würdigte Alexej aber keines Blickes. Ihre Augen waren fest auf Ragnar geheftet. Dieser hatte es geschafft, sich aus seiner
Starre zu lösen und auch sein typisches, unverbindliches Lächeln war zurück. „Ich habe noch eine wichtige Sache zu erledigen“, erklärte er der Frau. „Aber wenn du Beistand brauchst, komme ich danach gerne wieder hierher.“
Die Frau lächelte nur, zog die Kapuze ihres Mantels tief über die Stirn und sank zurück in die Schatten.
Ragnar zuckte mit den Schultern. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzte er seinen Weg fort.
Szene 2
Am oberen Absatz der Treppe wartete eine von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung steckende Wache, die, nachdem sie Alexej erkannt hatte, höflich nickte und einen Schritt zur Seite trat, um die Tür freizugeben. „Keine Waffen?“, erkundigte sich Ragnar.
„Nein.“ Alexej zog die Keycard durch den Scanner und tippte den fünfstelligen Code ein, der die erste Tür der Sicherheitsschleuse öffnete. „Das wäre im Fall eines Aufstands zu gefährlich. Ein Häftling, der eine Wache überwältigt ist ärgerlich. Ein Häftling,
der eine Wache überwältigt und danach mit einer Schusswaffe ausgestattet ist, ist eine Bedrohung.“ Er legte seinen Finger auf den Scanner im Inneren der Schleuse und tippte den zweiten Sicherheitscode ein. Es dauerte einige Sekunden, bis, wer auch immer gerade für die Videoüberwachung zuständig war, die Berechtigung bestätigt hatte und die Tür leise aufglitt.
Die fehlenden Fenster im Sondertrakt wurden durch Tageslichtlampen kompensiert, die noch ekelhafter blendeten als die Glühbirne in Alexejs Büro. Der Gestank nach Desinfektionsmittel reizte seine Nase.
Vor ihnen war eine Reihe von
Glaskäfigen installiert, deren Wände auf den ersten Blick zerkratzt wirkten. Sah man genauer hin, stellte man fest, dass die Kratzer nicht willkürlich waren, sondern Muster bildeten, die an Runen erinnerten.
Durch die Anordnung der Zellen saßen beide Insassen wie auf dem Präsentierteller. Man hatte sie auf ihren Stühlen fixiert, bis sie nahezu bewegungsunfähig waren. Lediglich ihre Hälse konnten sie frei drehen.
„Ich nehme mal an, das ist Henrik.“ Ragnar nickte in Richtung des Mannes in der linken Zelle, dessen Körper beinahe die Nähte seines grauen Gefängnisoveralls sprengte. „Ich
verstehe, was du mit klischeehaft gemeint hast.“
Henriks kahler Schädel reflektierte das künstliche Licht; Hals und Hände waren mit dilettantischen Tätowierungen übersät. Die Ketten, die man ihm umgelegt hatte, waren so massiv, dass man sie als Requisiten für Knastfilme aus dem vorigen Jahrhundert hätte verwenden können.
Cornelius war das exakte Gegenteil. Seine Fesseln hatten Standardgröße, waren allerdings rundherum mit Gummi überzogen und die Wachen hatten Anweisung, ihn nicht ohne ausreichende Schutzkleidung zu berühren. Von Natur aus schmächtig, war er so tief auf seinem
Stuhl zusammengesunken als wollte er sich unsichtbar machen. Dennoch war er es, der die eingetretene Stille brach. „Was soll das alles?“, krächzte er heiser. Seine Augen wirkten gerötet. „Warum hat man uns hier fixiert?“
„Wir machen euch ein Angebot“, erklärte Alexej. Er sprach strikt zu Cornelius; Henrik ignorierte er so gut wie möglich. Jemandem, der einen seiner Mitarbeiter ins Krankenhaus gebracht hatte, konnte er nicht sachlich gegenübertreten und alles andere gefährdete ihren Plan. Sie mussten die beiden Gefangenen überzeugen, dass ihr Vorschlag ihre beste Option war.
Glücklicherweise besaß Ragnar ein
gewisses Talent für Dramaturgie. Sekunden verstrichen und die Stille zog sich, bis sie den Punkt überschritten hatte, an dem sie unangenehm wurde. Dann endlich trat er einen Schritt vor. Seine Stimme war ruhig, drang aber bis in die hintersten Ecken der Zellen. Ganz so, wie man es von einem Prediger erwartete.
„Mein Name ist Ragnar und ich bin Priester des – wie ihr ihn hier in Deutschland nennt – Circe-Ordens.“ Neidlos musste Alexej anerkennen, dass Ragnar gekonnt überspielte, wie dämlich er diese Bezeichnung fand. Er selbst musste sich bei der Vorstellung, Ragnar würde jemanden mittels seiner Begabung
bezirzen ein Schmunzeln verkneifen. Nach einer effektvollen Pause, sprach Ragnar weiter: „Sicher habt ihr schon einmal von meinem Orden gehört; er ist weit über Islands Grenzen hinaus bekannt. Weniger bekannt ist vielleicht, dass er sich unter anderem der Erforschung alter Mythen gewidmet hat. Ich wurde zu einer Erkundungsmission berufen, für deren erfolgreiche Durchführung wir Unterstützung benötigen. Alexej Iwanow wird als Vertreter unseres Sponsors“, netterweise ließ er aus, dass es sich dabei um Alexejs Mutter handelte, „ebenfalls teilnehmen. Wir sind heute hier, um euch beiden einen Deal vorzuschlagen.“
„Ihr wurdet zu nicht unwesentlichen Haftstrafen verurteilt“, führte Alexej weiter aus. „In Absprache mit den zuständigen Stellen, kann ich euch eine Alternative anbieten: Begleitet ihr uns auf die Mission, werdet ihr begnadigt.“
„Wo ist der Haken?“, fragte Cornelius prompt.
„Aus Sicherheitsgründen werde ich euch bannen.“ Ragnar hob den Arm, um den er die Gebetskette geschlungen hatte.
„Wir der Bann aufgelöst, wenn wir den Auftrag erfüllt haben?“
Ragnar schüttelte den Kopf. „Ein einmal gelegter Bann dieser Art kann nicht gelöst werden. Es handelt sich dabei aber um eine reine Sicherheitsmaßnahme.
Euch zu kontrollieren ist nicht mein Ziel.“
„Dann tausche ich also ein paar Jahre Haft gegen lebenslange Ketten? In diesem Fall entscheide ich mich dann doch für Ersteres. Wo soll es überhaupt hingehen?“
„Zum Schwarzen Fleck“, erwiderte Ragnar ruhig.
Zur Antwort lachte Cornelius. Es klang wie zerspringendes Glas. „Ist das euer Ernst? Ihr seid ja ein echtes Comedy-Duo! Gebt mir doch gleich ein ordentliches Rasiermesser, damit ich mir die Pulsadern aufschneiden kann! Billiger für euch; schneller und schmerzfreier für mich!“
„Ich mach’s.“
Alle Augen richteten sich auf Henrik.
„Bist du bescheuert?“, rief Cornelius. „Hast du nicht zugehört?“
Henrik zuckte lediglich mit den Schultern und fixierte Alexej. „Gibt sicher ‘ne Aufwandsentschädigung, ne?“
„Das ist verhandelbar.“ War es eigentlich nicht, aber wenn Henrik auch noch absprang wurde es eng und bei dem, was Alexejs Mutter sich diese Mission kosten ließ, würde eine Aufwandsentschädigung auch nicht mehr sonderlich ins Gewicht fallen. Sofern Alexej halbwegs wirtschaftlich verhandelte. Er wandte sich an Cornelius. „Du sitzt wegen Verrats von
Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen. Meine Auftraggeber zahlen die Maximalstrafe und selbst wenn es kürzer wäre … Denkst du wirklich, dass du nach der Geschichte jemals wieder Fuß ihm Leben fassen wirst?“
Das war nicht nett, aber die Wahrheit.
Cornelius ließ den Kopf hängen. Ohne die Ketten, die seinen Körper einigermaßen straff hielten, wäre er vermutlich völlig in sich zusammengesunken. „Ich brauche ein paar Tage Bedenkzeit“, flüsterte er.
„Drei Tage.“ Alexej drehte sich zur Tür und Ragnar folgte ihm.
Szene 3
Auf dem Rückweg durch den Aufbewahrungstrakt erwartete Alexej, dass Ragnar sich ein weiteres Mal der jungen Frau in der Zelle zuwenden würde, doch der blickte stur geradeaus als er mit langen Schritten den Gang durchquerte. Trotz des Tempos, das er vorgab, schien ihr Schweigen die Zeit zu dehnen. Alexej konnte sich nicht daran erinnern, sich schon einmal so über den Anblick seiner Bürotür gefreut zu haben. Zielgerichtet steuerte Ragnar den Kühlschrank an und nahm sich wortlos eine der dort gestapelten Coladosen.
Nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte und dabei einen Gesichtsausdruck aufsetzte, als hätte er eben die Tore zum Paradies erspäht, schob er einen Aktenstapel von der etwas freieren Couchecke in die etwas chaotischere Couchecke und sank auf die Polster.
„Ich dachte, Suchtmittel wären für dich verboten?“
Ragnar antwortete nicht. Seine Finger umkreisten den Dosenrand.
„Du weißt schon. Koffein und so“, redete Alexej weiter. „Und sonderlich gesund ist’s auch nicht.“
Ragnar schwieg.
Verunsichert lehnte sich Alexej gegen
seinen Schreibtisch und stieß dabei an einen Aktenstapel, der in Zeitlupe zur Seite kippte und auf den Boden stürzte. Laut fluchend bückte er sich, um die verstreuten Blätter wieder aufzuheben, nahm aber aus dem Augenwinkel wahr, dass er mit seinem kleinen Ausbruch Ragnars Aufmerksamkeit erregt hatte.
Ohne die Akten noch eines Blicks zu würdigen, richtete er sich wieder auf und fixierte seinen Freund. Die Frage, was ihm durch den Kopf ging, lag schon auf Alexejs Zunge, aber im letzten Moment verkniff er sie sich. Ragnar hatte bereits wochenlang geduldig seinem Gejammer gelauscht und vermutlich seinen Stammbaum aus dem
Gedächtnis widergeben können, bevor er Alexej auch nur sein Alter verraten hatte. Er hatte ein offenes Ohr für andere, hielt sein eigenes Leben aber unter Verschluss.
„Was hältst du von den beiden?“, erkundigte Alexej sich stattdessen.
„Cornelius wird ablehnen.“
„Fürchte ich auch. Keine Ahnung, ob sie uns überhaupt eine Hilfe wären.“
„Schwer einzuschätzen“, räumte Ragnar ein. „Ich habe noch nie von einem Begabten gehört, der Strom erzeugen konnte. Ob das in der Praxis etwas nutzt …“ Er zuckte mit den Schultern. „Henrik dagegen … Wenn sein Körper Rückschlüsse auf seine Kraft zulässt –
was nicht immer der Fall ist – könnte er nützlich sein. Gesteigerte Körperkraft ist zwar die mit Abstand häufigste Begabung, aber vielseitig einsetzbar. Allerdings ersetzt auch die keine Kampferfahrung. Zumal wir noch nicht mal wissen, was uns eigentlich erwartet.“
„Henrik war viele Jahre beim Militär“, berichtete Alexej. „Ihm wurde sein Soldatenstatus entzogen, weil er auf einen Rekruten losgegangen ist.“
„Und das wurde nicht intern geregelt?“, fragte Ragnar stirnrunzelnd. „Das wäre das Vorgehen in Island gewesen, sofern er halbwegs brauchbar war.“
„In den Akten steht nichts darüber, aber
ich wette, dass das nicht das erste Vorkommnis dieser Art war. Wahrscheinlich wollten sie ihn loswerden. Ehrlich gesagt würde ich auch lieber auf ihn verzichten. Ohne Bannung wäre seine Teilnahme völlig indiskutabel. Aber wir können kaum wählerisch sein, oder?“
Ragnar drehte die Dose in seinen Händen. Mehr als den ersten Schluck hatte er nicht daraus getrunken. „Ich hatte mir mehr erhofft.“
Alexej seufzte. „Für mich gibt es auch ein paar offene Enden zu viel. Abgesehen davon, dass wir nicht wirklich wissen, was uns erwartet und uns kaum darauf vorbereiten können,
wissen wir noch nicht mal, wo wir suchen sollen. Oder hast du etwas Neues rausgefunden?“
„Ich weiß, wo die Karte ist“, sagte Ragnar, „aber das ist ja nichts Neues. Bisher warte ich noch auf den Geistesblitz, wie wir die Überwachung umgehen sollen.“
„Vielleicht sollten wir das Ganze einfach noch ein Jahr verschieben.“
„Nein“, widersprach Ragnar. „Die wichtigsten Punkte sind geklärt. In dem einen Jahr könnten wir viel mehr verlieren als gewinnen. Denk allein an die Finanzierung.“
Zähneknirschend musste Alexej ihm
zustimmen. Seiner Mutter zu verklickern, dass sich die Mission noch weiter nach hinten verschob, war ein Gespräch, auf das er lieber verzichtete. Gedankenverloren richtete Ragnar den Aktenstapel, den er zuvor beiseitegeschoben hatte. Mitten in der Bewegung hielt er inne. „Ich würde gerne mit allen derzeitigen Insassen sprechen.“
„Du willst was?“, fragte Alexej schockiert. „Weißt du, wie viele das sind? Was, um alles in der Welt, sollte das bringen?“
„In Island ist es üblich, seine Begabung solange wie möglich geheim zu halten. Von Cornelius‘ hättest du auch nie
erfahren, wenn er sie nicht in seiner Verzweiflung bei der Verhaftung eingesetzt hätte. Vielleicht gibt es noch mehr versteckte Perlen.“
„Das … Naja“, Alexej fuhr sich mit der Hand über den Nacken, „ganz unrecht hast du nicht. Aber wie sollen wir das herausfinden? Ich kann ihnen ja schlecht auf die Nase boxen und abwarten, ob sie sich wehren.“ Ragnar lächelte nicht. Seine Fingerspitzen fuhren über die oberste Akte. „Und wir müssten ihnen irgendwas anbieten können. War schwer genug, den Offiziellen Heniks mögliche Begnadigung aus dem Kreuz zu leiern. Außerdem …“ Er stockte. „Du willst doch noch mal mit der Frau von vorhin
sprechen!“ Der Satz war raus, bevor Alexej Zeit hatte, darüber nachzudenken, ob das eine gute Idee gewesen war. „Warum hast du das nicht gleich auf dem Rückweg …“
„Was ich will“, unterbrach Ragnar ihn kühl, „ist, diese Mission doch noch zum Erfolg führen.“
Er verbarg seine Emotionen gut, aber Alexejs geschulter Beobachtungsgabe war das kurze Zucken, das seinen Körper durchlaufen hatte, nicht entgangen. „Oh, komm schon!“, rief er. „Ich hab vorhin genau gesehen, wie du …“
„Was hast du gesehen?“, fuhr Ragnar erneut dazwischen.
„Ich …“ Alexej verstummte. Er konnte sich nicht daran erinnern, seinen Freund schon einmal so abweisend erlebt zu haben. „Nichts. Sorry.“
Ragnar blinzelte, schüttelte den Kopf und sank tiefer in die Kissen hinter ihm. „Nein, ich muss mich entschuldigen. Du hast ja recht; die Begegnung schwirrt mir tatsächlich noch im Kopf herum.“
„Warum?“
„Nichts, worüber ich jetzt reden möchte. Mal davon abgesehen, dass sie nicht den Eindruck gemacht hat, als wäre sie übermäßig an meinem Beistand interessiert.“ Er tippte gegen den Aktenstapel. „Du weißt nicht zufällig, wer sie ist?“
„Leider nicht.“ Alexej musste die Enttäuschung nicht heucheln. Plötzlich schlich sich jedoch ein Grinsen auf seine Züge. „Aber irgendwelche Vorteile muss es ja haben, diesen Laden zu leiten. Wenn sie in einer der Aufbewahrungszellen sitzt, muss eine Akte angefertigt worden sein.“
„Kannst du gleich nachsehen?“
Zweifelnd musterte Alexej das Aktenchaos vor sich. „Sie hatte noch ihre Straßenkleidung an und saß in einer Gruppenzelle.“
„Und?“
„Das heißt, sie wurde vor kurzem wegen irgendeiner Kleinigkeit verhaftet. Solche
Akten haben keine hohe Priorität. Vielleicht liegt sie schon hier irgendwo und wartet darauf, dass ich sie abzeichne. Vielleicht kommt sie erst in ein paar Tagen. Gib meiner Sekretärin eine Woche, um das alles hier ein wenig zu ordnen. Dann treffen wir uns wieder, besiegeln den Vertrag mit Henrik, versuchen, weitere Kandidaten zu finden und halten Ausschau nach deiner Unbekannten.“