zum 50. Forumsbattle
Mit den allgemeinen Wortvorgaben:
Chimäre Pantoffelheld Goethe Farbenlehre Staffelei Barhocker
Magie Horizont
und meiner spezifischen Wahl der Farbe Violett mit den Wortvorgaben
Trauer Ruhe Kontemplatio Buße
Marjan schaute die Gasse hinunter. Wie lange lebte sie schon hier... .
Seit ihrem dritten Lebensjahr und jetzt war sie 65 .
Wie oft hatte sie gedacht eines Tages die Stadt samt Gasse vielleicht doch noch mal zu verlassen.
Die Welt mit weiterem Horizont zu sehen.
Aber Marjans Liebe zu ihrer Heimat hatte bislang gesiegt.
Sie lebte in einer beschaulichen Stadt, ihre kleine Gasse mittendrin, aber doch besonders.
Sie war schmal, gebildet aus gedrungenen, engstehenden Fachwerkhäusern, doch die einzige, die das Erdbeben von 1906 überlebt hatte, damals, als Marjan selber noch fast ein Kind war.
Damals brach das Chaos in der Stadt aus.
Sie hatten eine Weile in ihrem Häuschen Freunde aufgenommen, die dann entschieden ihr Glück wonders zu suchen anstatt zu warten, bis ihnen vor Ort eine neue Heimat gebaut wurde.
Diese entstand langsam, in mühseliger Arbeit, aber es wurde kein neues Fachwerk mehr erbaut.
Stattdessen moderne Wohnanlagen, grosszügiger, ein geplantes Städtchen mit allem, was der Mensch so braucht.
Marjan lebte weiter in ihrem kleinen Häuschen in der Gasse.
Durch das Erdebeben hatte sie früh die Trauer des Lebens erfahren.
Nicht alle ihre Freunde hatten das Beben überlebt und oft fragte sie sich, was wohl dazu geführt hatte, daß sie selber einfach wohnen bleiben konnte.
Als ob nichts gewesen wäre. Die Welt um sie herum hatte sich geändert, aber ihre eigene kleine Umgebung blieb unberührt.
Über der Gasse lag für sie von jeher eine rührende Magie.
Schon vor dem Beben schaute sie täglich die Gasse hinunter, sah die kleine Loggia ein paar Häuser weiter, an dessen Decke ein schönes, tiefviolettes Glasmobile hing.
Oft schaute sie morgens dorthin, und manchmal fing sich die Sonne im Glas, erfüllte ihr Auge und ihre Seele mit ihrem Licht, das durch das Mobile wunderschön gefärbt wurde.
Marjan nannte sie die magische Gasse schon vor dem Beben, und bis heute wusste sie nicht, ob die Magie vielleicht von dem Glasmobile ausging oder ob dieses schon ein Ausdruck etwas dahinterliegendem war.
Ihre Gasse blieb beständig, eingehüllt in eine nahezu unfassbare Ruhe.
Gegenüber der Mobileloggia lebte eine urige Kneipe.
Wie oft hatte sie dort auf einem Barhocker gesessen, neben ihrem philosphischen Lieblingspantoffelhelden, mit dem sie eine stillschweigende Mobilefreundschaft verband.
Nur einmal hatte er, ohne es direkt zu erwähnen über das Mobile geredet, bei ihrem ersten Zusammentreffen, und so waren sie sich in einer gemeinsamen Welt begegnet.
„Violett,“ sagte er, als er sich neben sie setzte. „Eine Farbe, die Du und ich im Herzen tragen.
Zwischen der Tiefe der Erde unter dem Meer und der glühenden Hitze des Feuers wartet sie darauf, daß wir fröhlich zur Ruhe kommen. Goethe, mein Freund im Geiste, mit seiner Farbenlehre, mag wohl ähnliches empfunden haben, Farben tragen die Kraft
uns zu unserem Ursprung zu geleiten.
Gibt es eine weniger erschreckende Kontemplation als die zu verweilen, während Teile von uns davonspringen?
Buße findend kehren diese zurück. Aber sind sie einmal heimgekehrt, vergessen sie davon gewesen zu sein, tragen die Farbe der fröhlichen Ruhe und sind da.
Adam mein Name, Gassenbewohner, täglich hier anzufinden“ .
Dabei legte er seine Hand aufs Herz, schaute erst in Marjans Augen, dann aus dem Kneipenfenster, was den Blick geradewegs auf das violette Glas lenkte.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Marjan„ flüsterte sie ihm ihren Namen zu und
wusste, daß sie hier zu Füßen des Mobiles ein zweites Zuhause gefunden hatte.
Das Mobile blieb hängen, immer heile, bis heute.
Diese Gasse trug etwas Beständiges.
Manchmal schon fragte sie sich, ob sie in einer Chimäre lebte, auf der Staffelei eines Träumenden entstanden. Wann immer sie in sich ging spürte sie die moderne Stadt, die um die Gasse herum enstand, dort fühlte sie sich so fremd wie überall sonst auf der Welt.
Und doch hörte sie dieses leise Rufen, ob nicht vielleicht doch irgendwo mehr Heimat zu finden ist, als die Gasse alleine es ihr bieten kann?
Himbeere, April 2016