Der Urlaub
16. Kapitel
Charlotte fuhr in halsbrecherischem Tempo die schmale Küstenstraße entlang. Eigentlich war sie eine besonnene Autofahrerin. Doch sie stand unter Zeitdruck. Und außerdem war sie unruhig. Imre würde, wie jeden Tag, noch anrufen. Dann musste sie wieder zu Hause sein. Aber sie musste heute nach Funchal fahren. Das hätte sie schon vor einer Woche tun sollen. Imre hatte sie gebeten, im Honorarkonsulat Österreich etwas für ihn zu erledigen. In zwei Stunden würde das Konsulat schließen. Wenn sie bei São Vicente die Straße durch die Berge nach
Ribeira Brava nahm, würde sie nicht mehr so zügig fahren können. Als sie beide vor Jahren beschlossen hatten für immer nach Madeira zu gehen, stand fest, dass nur der Norden der Insel in Frage kommen würde. Es regnete zwar öfter als im Süden, aber die Vegetation war üppiger und von einem satten Grün geprägt. Die Temperaturen waren auf der ganzen Insel angenehm. Im Sommer nicht zu heiß und im Winter nicht zu kalt. Der einzige Nachteil bei ihrer Entscheidung war der weite Weg, wenn sie etwas in Funchal zu erledigen hatten. Alle wichtigen Ämter und Behörden waren nun einmal in der Hauptstadt. Und musste man besondere Einkäufe tätigen, war das auch nur dort möglich. Immerhin brauchte man mit dem Auto
über eine Stunde, um von Seixal nach Funchal zu kommen. Wenn es in den Bergen regnete brauchte man noch länger. Als sie jünger waren meisterten sie diese Strecke problemlos. Jetzt fiel es ihnen oft schon recht schwer diese Strecke zu bewältigen. Für Hin- und Rückfahrt sowie die notwendigen Besorgungen mussten sie immer einen halben Tag einplanen. Manchmal mehr. Heute hatte Charlotte keinen Blick für die blau und weiß blühenden afrikanischen Schmucklilien, die auf beiden Seiten der Straße ihre Pracht entfaltet hatten. Ihre Gedanken weilten bei Carla, die sich in Gefahr befand. Das spürte sie schon seit einigen Monaten. Sie hatte Angst um Carla. Als sie erfahren hatte, dass Carla nach
Indonesien fahren würde, steigerte sich dieses Gefühl mit jedem Tag. Außerdem sorgte sie sich um Imre.
Die Erschöpfungszustände, die immer häufiger auftraten, mussten ja eine Ursache haben. Nach Ruhephasen, die er in ihrem Haus in Seixal regelrecht genoss, ging es ihm dann wieder gut. Also wiegelte er ihre Besorgnis ab und schob alles auf sein Alter. Diese Gastdozentur in Berlin war seine letzte. Sie war froh darüber. Alle zwei Wochen kam er über das Wochenende nach Hause. Diese Flüge fand er inzwischen ebenfalls anstrengend. Umso dankbarer war sie, dass er die beschwerliche Reise nach Indonesien auf sich genommen hatte. Er hatte zwar beabsichtigt seinen Freund und Kollegen in
Jakarta zu besuchen, aber erst, wenn er sich von seiner letzten Dozentur etwas erholt hatte. Als sie ihm jedoch vor einigen Wochen von ihren Albträumen und ihren Ängsten erzählte, die sich in irgendeiner Form immer um Carlas bevorstehende Reise drehten, überlegte er nicht lange und änderte sofort seine Pläne. Er nahm Kontakt zu seinem Freund in Jakarta auf und stimmte mit ihm einen früheren Besuchstermin ab. Gleichzeitig bat er ihn um seine Hilfe. Näheres dazu hatte er ihm in einem Brief mitgeteilt. Es war nicht einfach gewesen in derselben Maschine, mit der Carla fliegen würde, einen Platz zu buchen. Aber wie Imre fast alles möglich machte, schaffte er auch das. Ein Zimmer in dem Hotel zu buchen, in
dem Carla wohnen würde, war dagegen problemlos. Und jetzt waren beide auf Bali. War das besser? War das schlechter? Charlotte wusste es nicht. Sie sorgte sich um beide. Gewaltsam riss sie sich von ihren Gedanken los. Sie näherte sich dem Encumada Pass und musste konzentriert fahren. Die Wolken hingen tief und ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt. Immer wieder tauchten Nebelschwaden aus dem Nichts auf und behinderten zusätzlich die Sicht. Endlich hatte sie die Berge passiert und fuhr nun wieder etwas zügiger Richtung Ribeira Brava. Als sie dort auf die Autobahn fuhr, die nach Funchal führte, empfing sie strahlender Sonnenschein. Charlotte hatte das erwartet. Sie kannte die Insel. In den Bergen Regen, im
Süden Sonne und im Norden Sturm. Manchmal. Schon als sie in die Avenida do Infante einbog hielt sie Ausschau nach einer Parklücke. In der Rua Imperatriz D. Amélia, in der das Konsulat war, würde sie keine finden. Sie musste einmal im Kreis fahren, bevor sie ihr Auto in der Nähe der Kirche Santa Catarina abstellen konnte. Sie war nervös. Und sie war zu alt, sagte sie sich seufzend, um unter nervlicher Belastung durch das belebte Funchal zu fahren. Außerdem hatte sie sich bis heute nicht an den kreativen Fahrstil der Inselbewohner gewöhnen können. Nach einem Fußweg von fünfzehn Minuten hatte sie das Konsulat erreicht. Das Formular, das sie abstempeln lassen musste, hatte Imre bereits in Berlin ausgefüllt und ihr
zugeschickt. Die Formalität im Konsulat dauerte fünf Minuten. Jetzt stand sie vor dem Gebäude und schaute auf ihre Uhr. Sie hatte Zeit. Imre würde am frühen Abend zwischen fünf und sechs Uhr anrufen. Er meldete sich jeden Tag um diese Zeit. Nachdem er vom Abendessen zurück war, das er ganz offensichtlich meistens in netter Gesellschaft einnahm, setzte er sich auf seine Terrasse und rief sie an. Manchmal klang seine Stimme etwas müde. Als sie ihn besorgt darauf ansprach, erinnerte er beruhigend daran, dass in seiner Umgebung - die nachtaktiven Touristen schloss er aus - die Menschen bereits schliefen. Die Telefonrechnung würde eine ihnen bisher unbekannte Dimension annehmen. Aber das
war nicht wichtig. Sie musste wissen, was auf Bali geschah. Außerdem lebten sie in gesicherten Verhältnissen. Sie bekamen beide Rente Imres Rente war natürlich höher als ihre - und das Honorar für seine Gastdozenturen war mehr als ein großzügiges Zubrot. Jetzt musste sie sich etwas ausruhen. Sie schlug den Weg zur Promenade ein und suchte dort eine Bank, von der sie auf den Hafen schauen konnte. Sie hatte Glück. Im Schatten einer leuchtend roten Bougainvillea konnte sie sich endlich setzen. Segelboote ankerten im Hafen. Dazwischen konnte sie einige kleinere Motorboote erkennen. Eine größere Yacht lief gerade ein. Schaulustige sammelten sich am Zugang der Anlegestelle. Am Horizont
tauchte die Fähre, die von Porto Santo kam, auf. Bis sie anlegte würde jedoch noch einige Zeit dauern. Sie kommt doch sonst viel später, dachte sie. Erneut warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Doch sie hatte wirklich noch Zeit. Touristen und Einheimische bevölkerten die Promenade. Es war Hochsaison. Aber richtig voll würde es erst am Abend werden. Heute und morgen Abend würde der Internationale Pyrotechnische Wettbewerb stattfinden. Feuerwerk und Musik würden zu einer einzigartigen Darbietung verschmelzen. Eine Veranstaltung, die eigentlich sonst im Juni stattfand, dieses Jahr aber auf den August verschoben wurde. Seit es diesen Wettbewerb gab, hatten Imre und sie regelmäßig diese Veranstaltung besucht.
Heute würde sie zu Hause sein und auf Imres Anruf warten.
Sein gestriger Bericht hatte sie außerordentlich beunruhigt. Sie hatte schon gar nicht mehr mit seinem Anruf gerechnet, weil sie wusste, dass er an der abendlichen Veranstaltung des Hotels teilnehmen wollte. Aber dann hatte er sich doch gemeldet. Auf Bali musste es weit nach Mitternacht gewesen sein. Er berichtete über Carlas erschreckendes Verhalten am Grill, konnte aber über die Hintergründe nichts sagen. Carla war zu aufgewühlt gewesen, um über das Erlebte zu sprechen. Heute wollte Imre Carla alles erzählen. Nein, nicht alles. Was diese Jahre mit Cora ihr abverlangt hatten, hatte sie in einem langen Brief an Carla
aufgeschrieben, ihn zu Imre nach Berlin geschickt und ihn gebeten diesen Carla zu übergeben. Charlotte spürte, dass ihre Hände anfingen zu zittern. Sie rieb ihre Finger und versuchte das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Auch beim Schreiben des Briefes hatte sie häufig den Stift aus der Hand legen müssen, weil die Finger ihr nicht mehr gehorchten. Die Erinnerungen waren zu schmerzhaft.
Carla kam auf die Welt und schrie. So laut und so kräftig, als wollte sie sagen: „Es wurde auch Zeit“. Das war auch das einzige Ungewöhnliche bei ihrer Geburt. So erzählte es jedenfalls Marion. Als Charlotte das Baby
das erste Mal im Krankenhaus sah, hätte sie es am liebsten in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Puterrot mit einem zerknautschten Gesicht lag es in dem Babywagen, der neben Marions Bett stand. Sie liebte dieses Kind vom ersten Augenblick, in dem sie es sah. Gleichzeitig überfiel sie eine große Traurigkeit, da sie noch deutlicher als bisher erkannte, dass sie ihrer eigenen Tochter dieses Gefühl nicht mehr geben konnte. Ihr Leben mit Cora war geprägt von Sorge, Vorsicht, heimlichen Beobachtungen, unerklärlichen Ereignissen und es fiel ihr schwer sich das einzugestehen - Angst. Cora, auf die sie sich gefreut, deren Geburt sie herbeigesehnt hatte, war ihr fremd. Cora, die im Zeichen des
Feuers geboren war. Im August.
Charlotte besuchte ihre Schwester, nachdem diese mit dem Baby zu Hause war, meistens allein.
Von ihrer Arbeitsstelle war es nur ein Katzensprung bis zu Marions Wohnung. Wenn Cora nach Unterrichtsschluss in die Arbeitsgruppe Mathematik ging, kam auch Frank zu Marion. Sie konnten dann etwas länger bleiben, trafen auch Heinz, Marions Mann, der an diesen Tagen meistens früher von der Arbeit kam. Es war ihnen am Anfang gar nicht bewusst, wie sehr sie diese Zusammenkünfte genossen. Nach einem ihrer Besuche bei Marion, sprach Charlotte Frank darauf an. Sie hatten kaum noch Kontakt zu Freunden und Bekannten. Denen,
die sie besonders mochten, passierten immer recht merkwürdige Dinge.
Bevor Schlimmeres eintrat, versuchte Charlotte zunehmend Treffen mit Freunden zu verhindern. Frank wurde sehr nachdenklich. Trotzdem lehnte er eine Vertiefung dieses Themas ab. Aber er war misstrauisch geworden. Zufällig wurde er einmal Zeuge, wie kalt und abweisend Cora sich gegenüber Charlotte verhielt. Cora hatte ihn nicht bemerkt. Das war bisher noch nie vorgekommen. Aber sie war so wütend auf Charlotte gewesen, dass sie alle Vorsicht vergaß. Aus ihren Worten sprach der blanke Hass. Und Cora hatte einen umfangreichen Wortschatz.
Als Frank sie anbrüllte, fuhr sie erschrocken
zusammen. Diesmal hatte sie keine Möglichkeit schnell ein anderes Gesicht aufzusetzen. Seit diesem Vorfall beobachtete er Cora heimlich und wurde immer verwirrter. Aber er sprach nicht darüber. Charlotte sah, wie er sich quälte. Gesprächen über Cora und deren Eigenarten wich er aus. Er braucht Zeit, dachte Charlotte. Sie selbst hatte Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass Cora von allem Normalen abwich. Schlimmer noch. Coras Fähigkeiten waren für alle, die ihren Zielen im Wege standen, eine Gefahr. Aber was für Ziele hatte sie? Oder war es eine dämonisch böse Grundhaltung von der sie beherrscht wurde? Charlotte fürchtete sich vor ihrer Tochter. Das durfte sie sich auf keinen Fall anmerken lassen. Und doch war
sie sich nicht sicher, ob Cora es nicht doch fühlte. Manchmal lächelte sie sie so wissend an, dass Charlotte der Schweiß ausbrach. Außerdem musste Cora bemerkt haben, dass Frank sie beobachtete. Sie war liebenswürdig, natürlich nur wenn Frank in der Nähe war, und sie zeigte ein auffälliges Interesse an Carla. Immer wieder fragte sie nach ihr. Frank freute sich. Bei Charlotte schrillten die Alarmglocken. Cora mochte keine Kälte, kein Wasser und keine Kinder.
Charlottes Besuche bei Marion und dem Baby waren nicht nur Ausdruck ihres liebevollen Gefühls für die beiden, sie waren auch ein willkommenes Mittel, sich von ihren Gedanken über Cora abzulenken. Beim letzten Besuch sagte Marion:
„Kommt doch am Wochenende einmal alle zusammen. Cora hat die Kleine noch nicht einmal gesehen.“
Charlotte fiel keine glaubwürdige Ausrede ein, mit der sie die Einladung ausschlagen konnte. Ein Zusammentreffen von Cora und dem Baby wollte sie möglichst in nächster Zeit vermeiden. Carla war jetzt sechs Wochen alt. Es war Ende März und an einigen Stellen lag noch eine dünne Schneedecke. Von Frühling war noch nichts zu spüren.
„Wenn es etwas wärmer ist und in eurem Garten die Frühlingsblumen blühen, werde ich euch öfter besuchen“, setzte Marion hinzu. Dabei blickte sie stirnrunzelnd aus dem Fenster. Schon seit Tagen war das
Wetter unfreundlich und düster. Ein stürmischer Wind schob dunkle Wolken vor sich her. Schnee und Regen wechselten einander ab. Schon am späten Nachmittag mussten die Lampen eingeschaltet werden.
„Und auf den Sommer freue ich mich auch. Dann ist Carla ein halbes Jahr alt. Cora wird sich gern mit ihr beschäftigen und den Kinderwagen durch euren Garten schieben.“
Als Marion vom Zusammensein der beiden Kinder sprach, überfiel Charlotte ein Unbehagen, das es ihr fast unmöglich machte, sich auf das weitere Gespräch zu konzentrieren.
Sie verabschiedete sich bald.
Am darauffolgenden Sonntag - Charlotte
hatte einen Kuchen gebacken, den sie mitnehmen wollte - besuchten alle zusammen Marion.
Zwei Tage vorher hatte Frank beim gemeinsamen Abendessen, Cora von dem bevorstehenden Besuch erzählt. Kaum merkbar zuckte sie zusammen.
Dann strahlte sie Frank an und sagte, wie sehr sie sich freue.
Nach dem Abendessen ging sie in ihr Zimmer. Zuvor hatte sie gefragt, ob sie heute etwas länger lesen dürfe. Es sei ja Freitag und sie müsse am nächsten Morgen nicht früh aufstehen. Charlotte und Frank hörten das Rauschen des Wassers in der Dusche. Sie nickten sich erleichtert zu. Mit Wasser kam Cora nach wie vor nicht gern in
Berührung. Charlotte fragte sich oft, ob sie wirklich duschte. Wenn sie es kontrollieren wollte, war die Badtür zugesperrt. Doch wenn Cora aus dem Bad kam, roch sie so frisch, dass Charlottes Zweifel schwanden.
In der Küche explodierte eine Glühlampe der Deckenleuchte. Gleichzeitig ging im ganzen Haus das Licht aus.
Frank vermutete einen Kurzschluss.
„Keine Sorge, Cora“, rief er die Treppe hoch.
„Gleich haben wir wieder Licht.“
Dass Cora ihn unter der Dusche nicht hören konnte, daran dachte er nicht. Auch Coras fehlende Reaktion auf die plötzliche Dunkelheit im Haus schien ihm nicht aufgefallen zu sein.
Er suchte nach der Taschenlampe um den Sicherungskasten zu inspizieren.
Pünktlich zur Kaffeezeit trafen sie am Sonntag bei Marion ein. Der Kaffeetisch war hübsch gedeckt und Charlotte stellte den Kuchen, den sie gebacken hatte auf den Tisch. Marion kam mit Franks Lieblingskuchen - kalter Hund - ins Zimmer.
„Carla schläft noch“, sagte sie.
„So können wir erst einmal in Ruhe Kaffee trinken. Aber wenn sie nachher wach ist, darfst du sie auch einmal auf den Arm nehmen“, wandte sie sich an Cora.
Cora lächelte Marion strahlend an. In Charlotte verkrampfte sich alles. Frank und Heinz unterhielten sich über den Carport, an dem Frank Ende April einige bauliche
Veränderungen vornehmen wollte, denn Charlotte hatte jetzt auch ein Auto. Es war klein, es war alt, aber technisch absolut in Ordnung. Und vor allen Dingen hatten sie es zu einem sehr günstigen Preis kaufen können. Charlotte war zufrieden, dass sie sich nicht mehr mit Frank abstimmen musste, wenn sie selbst einmal das Auto brauchte. Nicht, dass es in dieser Hinsicht Probleme gab, aber die neue Unabhängigkeit war angenehmer.
Heinz erbot sich beim Umbau des Carports zu helfen, was Marion gleich zum Anlass nahm, anzukündigen, dass sie dann ebenfalls mitkommen würde. Der Kinderwagen könnte im Garten stehen, was weitaus schöner wäre, als Carla durch Bremen spazieren zu fahren.
Es könnte alles so schön sein, dachte Charlotte. Instinktiv wusste sie, dass ein Zusammensein der Kinder Gefahren barg. Zumindest für ein Kind.
„Ihr wollt doch dieses Jahr erstmalig eine größere Urlaubsreise machen“, wandte sich Marion an Charlotte.
„Wo soll es denn hingehen?“
„Daraus wird nichts“, antwortete Charlotte.
„Der Carport muss umgebaut werden und für den Wintergarten brauchen wir noch die Beschattung. Vielleicht fahren wir eine Woche in den Bayrischen Wald.“
„Ein längerer Urlaub würde euch aber gut tun“, meinte Marion.
Marion hatte recht. In den vergangenen Jahren waren sie zweimal eine Woche auf die
Insel Fehmarn gefahren und hatten ein Ferienhaus gemietet. Die Selbstversorgung war billiger gewesen, als wenn sie sich in einem Hotel oder einer Pension eingemietet hätten. Einmal hatten sie das Glück in Dänemark an der Nordsee ihren Urlaub verbringen zu können.
Der Freund eines Arbeitskollegen von Frank hatte dort ein Ferienhaus. Cora hatte an diesen Urlaubsorten absolut keine Freude. Als Frank und Charlotte ihr sagten, dass sie alle zusammen verreisen würden, holte sie sofort einen Atlas und bestand darauf, dass Frank ihr zeigte, wohin die Reise gehen sollte. Als sie begriff, dass Fehmarn von Wasser umgeben war, verdüsterte sich ihr Gesicht. Mit lautem Knall klappte sie den Atlas
zu und ging in ihr Zimmer. Sie war gerade vier Jahre alt geworden. Während des Urlaubs auf Fehmarn war Cora nicht zu bewegen ins Wasser zu gehen. Trotzdem fuhren Charlotte und Frank im nächsten Jahr wieder dorthin. Es war eben preiswert. Vor der Reise nach Dänemark holte sie sich wieder den Atlas. Dieses Mal suchte sie allein den Ort. Charlotte war gerade dabei den Salat für das Abendbrot vorzubereiten, als die Glasschüssel, in die sie schon die geschnittenen Tomaten gegeben hatte, zersprang.
„Du warst aber mit deinen Gedanken eben ganz weit weg“, hörte sie Marion sagen.
„Du hast recht“, antwortete Charlotte und suchte nach einer Erklärung für ihre geistige
Abwesenheit.
„Meistens haben wir Arbeitsurlaub gemacht. Das Haus umbauen, den Garten neu anlegen und ein neues Auto kaufen hat uns viel Geld gekostet. Eine größere Urlaubsreise zu machen, war einfach nicht möglich gewesen.
Aber nächstes Jahr fahren wir nach Griechenland. Das haben wir uns fest vorgenommen.“
Dabei blickte sie zufällig zu Cora, die ein merkwürdiges Lächeln im Gesicht hatte.
Ein lautes und kräftiges Schreien unterbrach das Gespräch. Marion ging ins Schlafzimmer, um das Baby zu holen. Als sie mit der kleinen Carla das Wohnzimmer betrat, blickten alle
auf das Bündel in ihrem Arm. Charlotte hatte schon halb die Arme gehoben, um es zu nehmen, als ihr Blick erneut auf Cora fiel. Cora blickte nicht erwartungsvoll auf das Baby, sondern fixierte Charlotte, als ob sie deren Reaktion auf die kleine Carla beobachten wollte. Erschrocken ließ Charlotte die Arme sinken. Da alle auf Carla blickten, bemerkte keiner der anderen etwas davon. Marion legte Carla Charlotte in den Arm und holte die Flasche aus der Küche, die sie für das Baby schon vorbereitet hatte. Dann zog sie einen Stuhl dicht neben Cora, holte das Baby von Charlotte und setzte sich. Carla legte sie Cora in den Arm. Mit einem Arm umschlang Marion Cora, mit dem anderen stützte sie das Baby.
Cora durfte Carla die Flasche geben. Charlotte litt Höllenqualen. Alle Blicke waren auf Cora gerichtet. Carla nuckelte zufrieden an der Flasche, und Charlotte atmete auf. Nur eine befremdliche Hitze überfiel sie plötzlich. Sie führte sie auf ihre Nervosität zurück - und wusste doch, dass diese nicht die Ursache war.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013