Die Nachbarin von Nebenan
"Morgen, Herr Müller!" Ich zucke zusammen. Ich hasse den Klang ihrer Stimme, jeden Morgen fürchte ich mich davor. Dämliche alte Schnepfe! Ich zwinge mich zu einem frostigen Lächeln.
"Morgen, Frau Maier", gebe ich unterkühlt zurück. Sie grinst nur.
"Na, was denn so kühl, Herr Müller? War die Nacht nicht heiß genug?", fragt sie, verständnisinnig zwinkernd. Zorn steigt in mir hoch. Natürlich hat die dumme Kuh auf der Lauer gelegen, dabei habe ich eigentlich
darauf geachtet, Monika heimzubringen, wenn alle andern beim Abendessen sitzen. Aber diese verdammte Topfguckerin muss natürlich immer alles wissen.
"Ein Mann mit Anstand genießt und schweigt", kanzele ich sie ab. Sie lacht.
"Sie müssen mal mit ihr rüberkommen auf einen Kaffee!", sagt sie und gießt weiter ihre Stiefmütterchen. Klar. Nur über meine Leiche.
Der Tag wird stressig. Monika ist noch in der Nacht wieder weg, ihren Mann vom Flughafen abholen. Eigentlich müsste ich ein schlechtes Gewissen haben, mich mit einer verheirateten Frau einzulassen, doch wenn ihr Mann sie wirklich so wenig beachtet, wie sie sagt, ist er selbst Schuld. Dann hat er
keine Augen im Kopf, so eine wunderbare, kluge und schöne Frau einfach beiseite zu schieben. Ich sitze im Büro, alle Telefone klingeln, und meine Gedanken wandern wie auf Schienen zurück zu der Nacht. Wie sollte es anders sein - ich bekomme nichts getan. Mittagspause durch, was sonst. Ist zwar nicht klug, aber ich habe keine Wahl.
Nach der Arbeit zur Wäscherei, dann zum Fußball. Natürlich fehlt Zittel wieder, und ich muss Rechtsaußen stürmen. Voll aufm falschen Fuß, samt Anschiss vom Trainer. Zum Schluss noch in der Dämmerung Rasen mähen. Natürlich hat Maier wieder was zu meckern. Der und seine Alte sind wirklich eine Strafe.
"Wenn Se dat imma so im Zickzack mäh'n, wird der Rasen nie vanünftich!", meint er, lässig am Zaun lehnend und mit seinem Pfeifenstiel auf meine Bemühungen deutend, dem Wildwuchs Einhalt zu gebieten. Ich verdrehe nur die Augen und tue, als hätte ich ihn nicht gehört.
"Imma schön Bahnen", ermuntert er mich, "dann erwisch'n Se auch allet und ham eben nich diese Probleme! Und jejen dat Unkraut hilft rejelmäßich den Boden vertikutier'n." Wütend schnibble ich mit der Heckenschere brachial an der Distel herum, die sich neben meiner Terrasse breit gemacht hat. Soll der alte Klugscheißer doch seine Fresse halten! Im Geiste säge ich ihm mit der Heckenschere die Pfeife ab. So. Alles zurück in den
Schuppen klatschen und dann rein.
Oh, Nachrichten auf dem AB? Moni! Hey! Bis acht zurückrufen? Oh verdammt, schon zehn vor! Mir wird schwindelig und Schweiß bricht mir aus. Tja, die Frau macht mich schwach.
Der Nachbar
Emma goss ihre Stiefmütterchen. Sie waren schön dieses Jahr, voller Farbenpracht. Leise sprach sie mit ihnen. Die Narzissen daneben hatten ihre Ration schon bekommen, und in ihrer Schürzentasche steckte die Gartenschere, um die Rosenstöcke etwas zurückzuschneiden. Fritz hatte ihr zwar angeboten, das zu machen, aber sie wollte auch gleich ein paar Rosen für einen Strauß schneiden. Immerhin hatte Lena Schmitt von nebenan heute Geburtstag, da konnte man ja wenigstens mal ein paar Plätzchen und einen Strauß Blumen aus dem eigenen Garten rüberbringen.
Gerade kam Ralf Müller aus dem Haus. Sie mochte den jungen Mann, auch wenn er sie nicht leiden konnte. Sie wusste es. Aber vielleicht würde er irgendwann erkennen, dass sie es gut mit ihm meinte. Sie sprach ihn an.
"Guten Morgen, Herr Müller!", rief sie fröhlich über den Zaun.
"Morgen, Frau Maier", knurrte er wie jedes Mal zurück. Sie lächelte. Lächeln nahm solch einer Antwort den Stachel.
"Na, was denn so kühl, Herr Müller? War die Nacht nicht heiß genug?", gab sie mit einem Zwinkern zurück. Sie war gestern mit dem Abendbrot was spät dran gewesen und hatte zufällig aus dem Küchenfenster die fesche Brünette gesehen, die er mitgebracht hatte.
"Ein Mann mit Anstand genießt und schweigt", antwortete Müller steif. Emma gluckste leise.
"Sie müssen mal mit ihr rüberkommen auf einen Kaffee!", lud sie ihn ein. Heutzutage kamen so selten Leute einfach mal vorbei. Die Kinder ließen sich nur zu Ostern und Weihnachten blicken, wenn sie denn Zeit hatten über all ihren wichtigen Geschäften. Ihre kleine Enkeltochter hatte sie das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen. Inzwischen ging sie wohl in den Kindergarten. Hin und wieder bekam sie eine Karte oder ein Foto per E-Mail - wenn Fritz denn den Computer zum Laufen brachte. Müller war natürlich inzwischen weitergeeilt. Emma seufzte.
Nach der Gartenarbeit ging sie hinein und stellte den Strauß zusammen, buk die Plätzchen. Ihr war klar, dass auch Lena Schmitt ihre Bemühungen ablehnte, aber sie konnte nicht anders. Fritz hatte Zucker und durfte keinen Kuchen und keine Plätzchen essen, und für sich alleine lohnte es nicht, zu backen. So viel konnte sie gar nicht essen. Aber sie buk so gern.
Es war schade, dass sich die Frauengruppe der Pfarre aufgelöst hatte, aber als Lieselotte gestorben und Marianne ins Altersheim gegangen war, waren die beiden Trägerinnen flöten, und die Mitläufer brachen eine nach der andern weg. Für die Gruppe hatte sich das Backen immer gelohnt. Und die Handarbeitsprojekte für den Osterbasar
hatten wirklich Spaß gemacht. Sie brachte die Plätzchen und den Strauß rüber zu Schmitts und erntete ein unterkühltes "Danke" ohne weitere Einladung. Sie hörte Kinderlachen von drinnen. Nun ja, es war sowieso an der Zeit, das Mittagessen zu machen.
Sie wusch und zupfte den Salat, während Fritz die Kartoffeln schälte. Emma seufzte im Stillen. Sie wusste, dass er die Arbeit vermisste, irgendetwas brauchte, wo er sich nützlich machen konnte. Er verkümmerte innerlich, weil er sich nur noch von ihr umsorgt und unnütz vorkam. Aber hier gab es ja nichts. Der Garten - ja, aber für wen? Sie konnten das Gemüse gar nicht alles essen oder einmachen, und die Marmeladen,
die sie einkochte, verteilte sie schon an die Nachbarn, weil es einfach zu viel wurde. Jedes Jahr wich ein weiteres Stück ihres Gemüsebeets den Blumen. Sie würzte die Koteletts und briet sie, während sie fieberhaft überlegte, was sie für Fritz finden könnte.
Nachmittags saßen sie im Garten. Der Spül war gemacht - ja, sie hatten eine Spülmaschine, aber wie sollten sie die zu zweit voll bekommen? Die beiden Teller und das bisschen Besteck waren schneller abgespült als eingeräumt. Nun hatten sie jeder einen kleinen Teller mit Plätzchen und ein Kännchen Tee vor sich. Sie hatte extra ein paar mit weniger Zucker gemacht, damit Fritz auch etwas naschen konnte. Die
Frühlingssonne schien warm, und Emma dämmerte ein.
Sie erwachte, als sie Fritz mit jemandem sprechen hörte. Aha, Müller mähte Rasen. Emma schmunzelte. Der Mann mähte so chaotisch, wie er lebte - ohne Plan, ohne Ziel, ohne Effekt. Fritz versuchte natürlich, ihm zu helfen. Müller antwortete nicht mal.
Wenig später war sie gerade dabei, Radieschen für das Abendbrot zu putzen, als sie Sirenen hörte. Sirenen? Hier? Hektisch lief sie hinaus, um zu sehen, was los war.
Der Krankenwagen stand vor Müllers Haus, gerade brach ein Rettungssanitäter die Tür auf. Der Notarzt kam vorbei, und sie rief ihn an.
"Was ist denn los, Herr Doktor?"
"Wir haben einen Anruf bekommen - eine Frau meldete, dass ihr Gesprächspartner während eines Telefonats angefangen habe, zu röcheln und sie dann ein Rumpeln wie von einem Fall gehört habe, woraufhin er nicht mehr geantwortet hat", erklärte er. "Durchs Fenster haben wir eine zusammengesunkene Gestalt gesehen."
"Müller ist zusammengeklappt? Hören Sie, Doktor, der Mann hat Zucker. Nicht schwer, er spritzt nicht oder so, aber wenn er einen stressigen Tag hatte, werden ihm abends schon mal die Knie weich. Und die Nacht wird ihm auch einiges abverlangt haben", erklärte sie dem Arzt aufgeregt, während sie zur inzwischen offenen Haustür liefen.
"Zucker? Gut zu wissen, dann hilft hoffentlich eine Glucoseinfusion. Danke, Gnädigste."
"Emma Maier. Aber die meisten nennen mich nur die Neugierige Alte Schachtel."