Winter 2013, Tokyo
Ich saß da wie betäubt. Mein eigener Bruder erkannte mich nicht, obwohl wir nur vor wenigen Minuten gemeinsam vor der Polizei geflohen waren. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Rettungswagen und mehrere Streifenwagen tragen ein. Sie legten Yuki auf eine Trage und schoben diese in den Krankenwagen. Trotz Yuki´s schwerer Verletzungen wurden die Ärzte von zwei Polizisten begleitet. Die anderen Beamten hatten mich umstellt und zielten mit ihren Waffen auf mich. Doch ich beachtete sie nicht. Yuki´s Worte kreisten immer und immer
wieder in meinem Kopf: Bleib bloß weg von mir, das hatte er gesagt. Einer der Polizisten näherte sich mir von hinten, packte mich und legte mir Handschellen an. Sicher, ich hätte mich wehren können, vielleicht hätte ich sie sogar getötet, doch Yuki´s Worte lähmten meinen Körper und Verstand.
Starke Hände rissen mich hoch und drängten mich in einen Streifenwagen. Beim Einsteigen achteten die Beamten darauf, dass ich mir den Kopf nicht stieß. Doch das wäre mir in diesem Moment wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen. Im Auto war es war. Es schein jedoch, als würde mit dem Zuschlagen der Tür die Zeit stehen zu
bleiben oder sich zumindest rapide zu verlangsamen. Im Rückspiegel sah ich den Krankenwagen in die entgegengesetzte Richtung verschwinden. Yuki war darin. Ich würde ihn nie wieder sehen. Bei diesem Gedanken rann eine Träne über meine Wange. Auch sie sah ich im Rückspiegel, doch ich fühlte sie nicht. Fühlte es sich so an, wenn man starb? Alles sehen, doch nicht fühlen, mitten drin stehen, doch alles aus der Entfernung beobachten?
Die Fahrt zog sich und nach einer Weile hatten wir Tokyo hinter uns gelassen. Ich kannte diese Strecke. Es war die Route, auf der Yuki und ich vor einigen
Jahren nach Tokyo gekommen waren. Nun verließ ich die Stadt auf demselben Weg, doch ohne Yuki. Irgendwann begann die Zeit ihren Weg zurück in den Wagen zu finden und damit auch die Geräusche. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Polizisten sich unterhielten. Und erst jetzt erkannte ich den Mount Fuji. „Hast du schon mal einen Katzenmenschen gesehen?“, fragte der Eine. „Nein, er ist der Erste. Eigentlich sehen die Ohren niedlich aus“, antwortete der Andere. „Stimmt, aber gerade er soll für etliche Massenmorde verantwortlich sein“, bedachte der Eine. Der Andere sah zu mir nach hinten, dann zu seinem Kollegen. „Der? Nie im
Leben“, meinte er dann.
Anfangs hatten ihre Worte in meinen Ohren keinen Sinn ergeben, doch langsam verstand ich sie und ich war genervt davon, dass sie über mich redeten, als sei ich nicht hier. Ich wusste, dass sie mir Handschellen angelegt hatten, doch der Sicherheitsgurt lang nur lose über meiner Schulter. Ich spannte jeden Muskel meines Körpers und schnellte nach vorn. Zwischen mir und den Beamten befand sich eine Art Trennnetz, damit der
Verhaftete die Polizisten nicht angreifen konnte. Ich warf mich dagegen, die zwei Beamten erschraken und das Auto fuhr
einen Schlenker. Ich hatte nicht die Absicht gehabt sie anzugreifen, doch der Plan sie zu erschrecken war aufgegangen. Einer von ihnen hielt seine Hand auf seinen Brustkorb, der Andere keuchte laut. Sie hielten an und drehten sich um. „Hey, was sollte das?“, fragten sie mich. Ich sah demonstrativ aus dem Fenster. Selbst wenn ich es ihnen hätte sagen wollen, hätte ich es nicht gekonnt. Ich konnte immer noch nicht sprechen.
Sommer 2015, Aokigahara
Es war wieder die Hand, die ihm den Verband umgelegt hatte. Dieses Mal strich sie behutsam über Yuki´s Kopf, dann über seine Wange und wischte vorsichtig die Tränen weg. Wer auch immer das war, er sorgte sich um den 17 – Jährigen. Yuki tastete in der Dunkelheit nach der Hand und als er sie gefunden hatte, ließ er sie nicht mehr los.
Der Schatten half Yuki aufzustehen und weil der 17 – Jährige aufgrund der Kopfverletzung nicht das Gleichgewicht halten konnte, wurde er gestützt. Gemeinsam gingen sie aus dem OP und
auf dem Flur konnte Yuki zum ersten Mal das Gesicht des Anderen erkennen. Es war wirklich Akuma, doch die Tatsache, dass sein Bruder von Blutspritzern überzogen war, stahl Yuki den Atem. Er hatte sie alle getötet.
Die ersten Flure die die beiden Katzenmenschen durchquerten waren leer und absolut still. Doch in der Ferne konnten sie Schritte hören, die immer näher kamen. Als sie dann um eine Ecke bogen standen dort ein dutzend Pfleger, Ärzte und Polizisten. Akuma fauchte leise und half Yuki sich auf den Boden zu setzten. Dann bedeutete er ihm dort zu bleiben und zu warten. Yuki wusste nicht, ob es an der Narkose oder dem
hohen Blutverlust lag, doch als Akuma auf die Gruppe zulief und in sie hinein sprang war er so schnell, dass Yuki ihn nicht sehen konnte. Doch offenbar war der 17 – Jährige nicht allein, denn weder die Pfleger noch die Polizisten konnten ihn sehen, geschweige denn stoppen. Nach nur wenigen Minuten lagen sie alle in einer großen Blutlache und Akuma hielt den letzten Überlebenden in die Luft, um ihm die Luft auf den Lungen zu pressen. Dann fiel auch er leblos zu Boden. Akuma kam zurück zu Yuki, blieb kurz vor ihm stehen und sah auf das Ende des Flures. Dort stand Mizusu. Yuki merkte, wie Akuma zum Angriff ansetzte. „Nein,
Aku. Bitte nicht sie. Sie war immer für mich da“, erklärte er und merkte, wie ihn sein Bewusstsein verlassen wollte. Akuma sah ihn mit gerunzelter Stirn an und legte den Kopf schief. „Bitte Aku, versprich es“, bat Yuki. Akuma hockte sich vor seinen Bruder und stupste ihn mit der Nasenspitze an. „Danke.“ Yuki´s Sicht verschwamm. Er konnte noch erkennen, wie Akuma ihn ratlos ansah, dann in Mizusu´s Richtung. Und letztlich Mizusu´s besorgtes Gesicht und wie sie begann seine Wunden zu versorgen.