Winter 2013, Tokyo
Die Straßen waren glatt und überall war Salz gestreut worden, um stürzte vorzubeugen. Ich stand am Fenster und sah nach unter auf das Treiben der Stadt. Yuki saß auf der Couch und spielte auf der PS4. Auch wenn mein Bruder mir immer wieder versicherte, dieses Ding sei ungefährlich, so war es mir trotzdem nicht ganz geheuer. Es verbarg ganze Welten in sich, in die man binnen Minuten eintauchen konnte.
Draußen begannen weiße Schneeflocken sich aus den Wolken zu lösen und auf die Erde zu schweben. Ich beobachtete sie eine Weile lang, sie hatten sich in all
den Jahren nicht verändert. Stumm und weiß, die Zeugen der Zeit. Ich erinnerte mich daran, wie es gewesen war, zu Hause, als Mutter und Vater noch lebten. Damals haben Yuki und ich immer im Schnee gespielt. Es war so eine schöne Zeit gewesen. Doch sie war längst Vergangenheit.
Ich wand mich um zu Yuki und stellte fest: „Du? Wir haben keine Wassermelone mehr. Kaufst du Neue?“ Mein Bruder pausierte das Spiel und sah mich an. „Du immer mit deinen Wassermelonen. Kannst du nicht was anderes essen?“, lachte er und zog mich auf die Couch. Es gab niemanden anderes in meinem Leben, dem ich so
sehr vertraute und so nah an mich heran ließ. Yuki kraulte meinen Kopf. Doch das änderte nichts an der Wassermelonen Situation. „Ich will aber eine“, meinte ich und sah meinem Bruder bettelnd an. Der schüttelte lächelnd den Kopf, gab dann aber nach. „Hol deine Jacke und vergiss deinen Schal nicht, draußen ist es kalt.“ Ich sprang auf und lief in den Flur, um meine Jacke zu holen. Eigentlich könnte ich auch allein losgehen und die Melone kaufen, doch seit wir von zu Hause geflohen waren, konnte ich meine Wut nur schwer zähmen. Deshalb kam Yuki mit, er schaffte es irgendwie in meinen Kopf vorzudringen und mich zu beruhigen.
Niemand sonst schaffte das.
Die Kälte biss uns ins Gesicht, ich zog die Nase kraus und vergrub mein Gesicht in dem dicken Schal. Meine Kapuze hatte ich tief ins Gesicht gezogen, damit niemand meine Ohren sah und damit der Wind sie mir nicht vom Kopf riss. Wir gingen durch die Straßen Shibuya´s, als eine tiefe und äußerst wütende Stimmer hinter uns rief: „Hey ihr zwei, ihr seid verhaftet!“ Wir drehten uns zu der Stimme um und mussten schnell feststellen, dass sie zu einem stark gebauten Polizisten gehörte. Mit seinem Schlagstock zeigte er auf uns. Ich sah Yuki an, der offenbar genau so viel Angst hatte wie ich. Er sah mich
an und es war klar, es gab nur eine Möglichkeit. Rennen.
Sommer 2015, Aokigahara
Über ihm schien grelles Neonröhrenlicht. Er war nicht mehr in der Vergangenheit und auch nicht in der schwarzen Materie. War er zurück in der Realität? Nach dem er in der Vergangenheit gewesen war erschien ihm diese Welt so irreal, dass sie nicht wahr sein konnte. Yuki wollte sich aufsetzten, sich umschauen, erkennen wo er war. Doch etwas zwang ihn, liegen zu bleiben. Panik stieg in ihm auf. Wo war er hier? Nach einiger Zeit gelang es dem 17 – Jährigen den Kopf zur Seite zu drehen. Er lag auf einem OP – Tisch, neben ihm ein kleinerer Tisch
auf dem Skalpell, Pinzette und andere Sezierwerkzeuge aufgereiht waren. Die Tür wurde geöffnet und drei Männer in grünen Anzügen kamen herein. „Oh, er ist aufgewacht. Was sollen wir jetzt tun?“, fragte einer von ihnen. „Sie werden ihm eine Spritzte mit einer Narkose verabreichen“, erklärte ein anderer. Yuki wollte sich wehren, doch was auch immer ihn auf den Tisch drückte war stärker. Ein zuckender Schmerz schoss durch Yuki´s linken Arm und kurz darauf begann seine Sicht zu verschwimmen, bis sein Gedächtnis sich in tiefe Dunkelheit stürzte.
Derweilen bereiteten sich die Ärzte auf die OP vor. Sie desinfizierten die
notwendigen Werkzeuge und sich selbst. Anschließend prüften sie Yuki´s Bewusstseinszustand und als sie sicher gehen konnten, dass die Narkose wirkte, begannen sie mit der OP.