Der Urlaub
26. Kapitel
Carla fühlte sich zerschlagen. Und sie war von einer tiefen Traurigkeit erfüllt. Ein Traum hatte sie aus einer der kurzen Schlafphasen hochschrecken lassen. Charlotte stand vor einem Grab. Auf dem Grabstein war deutlich ein Datum zu erkennen. Carla wusste wessen Grab es war. Nicht dieses Jahr, aber nächstes Jahr zum Weihnachtsfest würde Charlotte allein sein. Sie war müde, voller Angst - und sie hatte Hunger. Überrascht, dass der Wunsch nach einem kräftigen Frühstück für einen kurzen Augenblick alle
anderen Gedanken in den Hintergrund drängte, richtete sie sich auf. Die Decke, die sie wieder nicht gebraucht hatte, lag neben der Liege auf dem Rasen. Wieder hatte sie vergessen ihre Frühstücksbestellung an die Pforte zu hängen. Als sie am Vortag nach dem Frühstück die Villa verlassen hatte, gingen ihr andere Dinge durch den Kopf, und als sie in der Nacht zurückgekommen war, wäre es sowieso zu spät dafür gewesen. Also rief sie in der Hotelküche an und gab ihre Bestellung auf.
Die Zeit bis zum Frühstück nutzte sie, ihr Kissen und ihre Decke wegzuräumen und sich ein wenig frisch zu machen. Die Sessel entfernte sie aus den Türöffnungen. Dann sortierte sie die verwelkten Blüten aus den
Schalen, die im Ankleideraum und im Bad standen, und füllte sie mit frischen Blüten wieder auf. Der Rasen war an diesem Morgen übersät mit den weißen Sternen, wie Carla die Blüten jetzt nannte. Sie hätte noch drei weitere Schalen füllen können. Eine Blüte steckte sie sich hinter das Ohr. Wem wollte sie etwas beweisen?
Sie versuchte die Terrassentür zu öffnen. Erfolglos. Das Personal würde sich darum kümmern.
Ein leises Klappern von Geschirr deutete darauf hin, dass der Tisch im Pavillon gedeckt wurde. Carla wartete ab bis der Zimmerservice den Innenhof wieder verlassen hatte und betrat dann den Pavillon. Von ihrem erhöhten Platz blickte sie
über die Mauer. Sie würde später außen um die Mauer herum an den Büschen und Sträuchern vorbei zum Strand gehen müssen, sollte die Terrassentür noch nicht repariert sein. Das hätte sie in der Nacht gar nicht tun können, um auf die Terrasse zu gelangen. Dieser Bereich wurde durch keine Lampe erhellt und die Wahrscheinlichkeit in einem Busch zu landen wäre zu groß gewesen.
Nach dem Frühstück überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte. Wie ihr Tag heute aussehen würde stand fest.
Nur die Reihenfolge ihrer Unternehmungen musste sie noch festlegen.
Für einen Besuch beim Professor war es noch zu früh. Die Entscheidung, die sie
getroffen hatte, wollte sie ihm persönlich mitteilen. Außerdem würde sie darauf bestehen, allein zum schwarzen Strand zu fahren. Er würde vehement widersprechen. Das wusste Carla. Aber er brauchte Ruhe. Das war ihr gestern schon klar. Und heute Abend konnte ihr nur einer helfen. Und das war nicht der Professor. Die Hilfe, die sie bisher von ihm erhalten hatte, war mehr als genug.
Carla stand auf und ging zum Schrank um das Kleid in Augenschein zu nehmen, das sie an dem Abend getragen hatte, an dem das Beachbuffet gewesen war. Sie hatte es achtlos in die hinterste Ecke des Schrankes gesteckt und seit diesem Abend nicht mehr in der Hand gehabt. Viel Hoffnung hatte sie nicht
es noch einmal tragen zu können. Sie wendete es hin und her, aber das Kleid war nicht mehr zu gebrauchen. Der vordere Teil war übersät mit kleinen Brandlöchern. Am hinteren Saum hatte es einen Riss. Wahrscheinlich war sie darauf getreten, als der Professor und der Koch sie vom Grill zurückgerissen hatten. Ein brennender Schmerz durchfuhr ihre Hände. Das Kleid fiel zu Boden. Mit Mühe bewahrte Carla die Fassung. Während sie das Kleid betrachtet hatte, wollte Cora sie wohl zusätzlich an die Geschehnisse dieses Abends erinnern. Trotz großer Anstrengung gelang es ihr nicht dem Zittern ihrer Hände Einhalt zu gebieten als sie das Kleid in den Abfalleimer warf. Die wehmütigen Gedanken, die ihr dabei kamen,
schob sie entschlossen beiseite. Sie unterdrückte den Impuls sich umzudrehen. Vielleicht würde diese Ignoranz Cora verwirren, vielleicht würde sie aber auch ihre Wut anstacheln. Carla wusste nicht wie Cora auf ihr Verhalten reagieren würde. Vielleicht war es klüger Unsicherheit zu demonstrieren. Cora spürte zwar was sie empfand, aber ihre Gedanken konnte sie nicht lesen.
Möglichst ruhig drehte sie sich um. Die Tür zum Innenhof war offen.
Es war niemand zu sehen. Innerlich aufatmend ging sie zum Waschbecken und ließ kaltes Wasser über ihre Hände laufen. Dann zog sie sich an. Dabei erinnerte sie sich an das grün-weiß gemusterte Kleidungsstück, das sich immer noch in seiner
durchsichtigen Verpackung befand. Vielleicht enthielt sie etwas, dass sie am Abend anziehen konnte. Als sie diese öffnete hielt sie einen Pareo in der Hand. Eine nette Geste des Hotels. Als Alternative zu einem Sarong sicher geeignet für einen Tempelbesuch - aber für heute Abend hatte sie andere Vorstellungen. Sie würde einkaufen gehen. Unweit des Hotels gab es einige Läden, die Kleidung anboten.
Schon in der Nacht war ihr klar geworden, was der Sengguhu meinte, als er ihr sagte, sie solle die Götter erfreuen. In Jeans und T-Shirt würde sie heute den schwarzen Strand nicht betreten. Carla war sich bewusst, dass sie sich mit ihren Überlegungen und Aktivitäten versuchte Mut
zu machen. Aber anders würde sie die Zeit bis zum Abend nicht überstehen.
An der Hotelrezeption bat sie zu zwei Uhr nachmittags um einen Wagen mit Fahrer. Als sie das Fahrziel nannte blickte die kleine Balinesin, die heute an dem riesigen Schreibtisch saß, sie überrascht an. Und als Carla auf ihre Frage, wie lange der Fahrer warten müsse um sie zurückzufahren, antwortete, dass er sofort umkehren könne, war sie nahezu verwundert. Fragen stellte sie nicht.
Carla verließ das Hotel und steuerte zielsicher einen Laden an, der ihr schon mehrfach aufgefallen war. Die Vielzahl der farbenfrohen Sarongs, die auf einer Stellage vor dem Geschäft hingen, hatte sie schon
öfter beeindruckt. Sie kaufte einen meergrünen Sarong mit Goldapplikationen und die dazu passende Kebaja. Die Verkäuferin überzeugte sie, dass zur Vollständigkeit eine Schärpe gleicher Farbe, aber ohne Stickerei gehöre. Also kaufte sie diese ebenfalls.
Höflichkeitshalber handelte sie den Preis etwas herunter, obwohl ihr der heute das wenigste Kopfzerbrechen bereitete. Carla wollte sofort zum Hotel zurückgehen, da sie die Zeit bis zu ihrem Aufbruch noch an den Strand gehen wollte. Doch dann ging sie noch in einen anderen Laden. Sie kaufte ein kleines Opferkörbchen.
Jetzt wollte sie zum Professor gehen. Auf dem Weg zu ihm überlegte sie, wie sie ihm -
ohne ihn zu verletzen - sagen sollte, dass sie allein zum schwarzen Strand fahren würde. Er hatte sie so lange begleitet. Und damit meinte sie nicht die Ausflüge und Fahrten. Vor allem hatte er ihre Ängste, ihre Zweifel, ihre Überlegungen begleitet, er hatte ihr seine Hilfe gewährt, er hatte maßgeblich zu ihrer Entscheidung beigetragen. Zu gern hätte sie ihn heute Abend in ihrer Nähe gehabt.
Der Professor saß auf der Terrasse. Auf dem Tisch standen noch die Reste des Frühstücks. Ebenfalls auf dem Tisch lag ein Buch. ´Saman` las Carla. Es machte sie traurig in sein fahles Gesicht zu schauen. Die anfängliche Sonnenbräune während der ersten Tage auf Bali war verschwunden. Er
sollte nicht nach Java weiterreisen, dachte sie. Er sollte zu Charlotte zurückkehren.
Der Professor blickte ihr gespannt entgegen.
„Guten Morgen, Herr Professor. Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Es ist noch sehr früh.“
Der Professor stand nicht wie sonst auf, um sie zu begrüßen. Er deutete auf den Sessel neben sich und bat Carla sich zu setzen. Es ging ihm nicht gut.
„Sie wissen doch, Carla, wie es bei alten Menschen mit dem Schlaf bestellt ist. Der gesunde Schlaf der Jugend will sich nicht mehr einstellen. Wie war Ihre Nacht?“
Zum ersten Mal belog sie den Professor. Sie berichtete ihm von einer ereignislosen Nacht, dass sie sogar etwas geschlafen hatte. Auf keinen Fall wollte sie ihn heute zusätzlich
beunruhigen. Vom Zeitpunkt ihrer Abfahrt würde er sowieso keine ruhige Minute haben. Die Reaktion auf ihre Mitteilung, dass sie allein zu dem Zeremoniell fahren würde, war, wie sie erwartet hatte. Jetzt stand er auf und lief mit den Händen gestikulierend auf und ab. Immer wieder schüttelte er den Kopf und drängte Carla, sich das noch einmal zu überlegen. Als Carla nicht nachgab, setzte er sich endlich resigniert und sagte seufzend:
„Viel Glück, mein Kind.“
Diese mit soviel Wärme ausgesprochenen Worte rührten Carla fast zu Tränen.
Dann hatte er sich gefasst. Er sah sie ernst an.
„Benutzen Sie Ihre ganze Kraft. Sie sind stark, Carla.“
Carla stand auf. Es fiel ihr schwer sich vom Professor zu verabschieden. Auch der Professor hatte sich erhoben.
„Ich werde heute den ganzen Tag hier sein - und warten“, sagte er.
„Lassen Sie sich von einem alten Mann umarmen.“
Mit Mühe unterdrückte Carla erneut ihre Tränen.
Bloß jetzt keinen Gefühlsausbruch, dachte sie. Schon im Gehen wandte Carla sich noch einmal um und wies auf das Buch.
„Der Titel dieses Buches hat meine Aufmerksamkeit erregt und mich unangenehm berührt. Es lag auf Ihrem Schoß. Sie saßen, genau wie ich, im Warteraum des Flughafens in Berlin und
wussten zu diesem Zeitpunkt schon, wer ich bin. Mir kommt es vor, als wäre eine Ewigkeit seitdem vergangen.“
Carla betrat den Innenhof und sah den Servicewagen des Zimmermädchens stehen. Doch diesmal war es nicht die junge Balinesin, die sonst kam, sondern ein älterer Balinese, der für Ordnung sorgte. Sie brauchte ihn gar nicht auf die defekte Terrassentür aufmerksam machen. Er wies selbst auf die Tür und teilte ihr mit, dass der Haustechniker schon informiert sei.
Sarong, Spitzenbluse und Schärpe legte Carla ordentlich auf das bereits gemachte Bett. Dann ging sie ins Bad, zog ihren Badeanzug an, nahm Strand- und Handtuch und verließ die Villa. Zuvor hatte sie das
Opferkörbchen mit Frangipaniblüten gefüllt. Natürlich hatte Carla die erstaunte Aufmerksamkeit des Balinesen bemerkt und erwartete eigentlich eine Reaktion. Doch er murmelte nur etwas in seiner Muttersprache und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
Wie immer um diese Zeit hatten nur wenige Hotelgäste Liegen belegt. Das Meer war ungewohnt ruhig. Das war Carla schon frühmorgens aufgefallen. Vom Pavillon hatte sie durch die Stämme der Palmen einen kleinen Blick aufs Meer. Keine einzige Schaumkrone war zu sehen gewesen.
Carla legte die Handtücher auf die Liege, behielt das Opferkörbchen jedoch in der Hand. Es sollte ihr Dank an das Meer sein, das ihr die einzigen Stunden der Ruhe und
Geborgenheit, die sie hier erleben durfte, geschenkt hatte. Noch einmal dieses Gefühl erleben, dachte sie als sie ins Wasser ging. Sie konnte weiter hineinlaufen, als es bisher möglich gewesen war. Vorsichtig setzte sie das Körbchen aufs Wasser. Es schaukelte eine kurze Zeit an derselben Stelle und Carla befürchtete, dass es umkippen würde. Doch nach und nach entfernte es sich. Carla schwamm noch eine Strecke mit, kehrte dann aber um, als sie merkte, dass sie sich schon recht weit vom Ufer entfernt hatte. Sie blieb noch ein paar Minuten im Wasser. Es umspülte ihren Körper so wohltuend, kühlte ihre Hände und bewirkte, dass wenigstens im Moment ihre Ängste ein wenig gedämpft wurden. Einige Hotelgäste hatten ihr Tun
beobachtet. Die verwunderten Blicke, die ihr folgten, spürte sie mehr, als sie diese sah.
Die Koglers kamen über den Rasen auf Carla zu. Beide hatten keine Strandkleidung an, woraus Carla schloss, dass wohl von ihnen ein Ausflug geplant war. Sie war froh darüber. So angenehm, wie die Koglers ihr waren, wäre es ihr heute doch unmöglich gewesen, unbefangene Gespräche zu führen.
„Hallo, Frau Bern“, rief Frau Kogler noch bevor sie Carla erreicht hatte und hob winkend die Hand. Ihr Mann lief einen Schritt hinter ihr und wirkte etwas missvergnügt.
„Geht es Ihnen wieder besser?“
„Danke, ja.“
Carla riss sich zusammen. Bevor weitere Fragen von den Koglers kamen, schien es ihr
klüger von ihrer gestrigen Unternehmung zu berichten. Auch wenn sie nur die halbe Wahrheit erzählen würde.
„Ich habe gestern schon wieder einen Ausflug machen können, gemeinsam mit dem Professor. Wir waren in Medewi. Aber außer duftenden Gewürznelkenbäumen gab es nichts Interessantes dort.“
„In der Nähe müssen doch die schwarzen Strände sein“, bemerkte Herr Kogler.
„Dort soll das Meer für Surfer ideal sein. Aber die Region ist wohl touristisch noch nicht erschlossen. Keine Hotels in Strandnähe, keine Restaurants und nur wenige Läden. Er überlegte einen Augenblick und ergänzte ein bisschen unsicher:
„Die schwarzen Strände sind doch im
Norden der Insel. Medewi liegt im Westen. Habe ich etwas durcheinander gebracht?“
Ich wusste es, dachte Carla.
Stelle eine Frage - Herr Kogler beantwortet sie.
Aber dieses Mal schien er sich unsicher zu sein.
Als hätte er Carlas Gedanken gelesen, schmunzelte er und deutete auf das kleine Buch, das er in der Hand hielt.
„Steht in meinem Reiseführer. In Ihrem sicher auch. Trotzdem, ich muss mich geirrt haben.“
Sofort fing er an in seinem Reiseführer zu blättern.
„Ich habe doch nur Reiseinfos über Lombok. Zwar gibt es einen kleinen Anhang
über Bali, aber die Informationen sind etwas dürftig.“
„Wir fahren heute noch einmal nach Denpasar“, schaltete sich Frau Kogler ein. Entschlossen nahm sie ihrem Mann den Reiseführer aus der Hand.
„Gestern haben wir uns dort verlaufen. Den großen Markt, den wir aufsuchen wollten, haben wir nicht gefunden - … und diese Hitze gestern. Wir waren froh, endlich wieder im Hotel zu sein. Heute lassen wir uns direkt zum Markt fahren. Wir wollen dort etwas für unsere Kinder kaufen. Übermorgen geht es ja schon wieder nach Hause.“
Bei den letzten Worten musste Carla sich abwenden, weil sie befürchtete ihre Fassung zu verlieren. Nach Hause! Nichts wünschte sie
sich mehr, als nach Hause zu fahren.
„Wir können doch auch morgen noch nach Denpasar fahren“, wandte Herr Kogler ein.
„Das Meer ist heute so schön ruhig. Wir könnten einmal ins Wasser gehen ohne von den hohen Wellen umgeworfen zu werden.“
Jetzt verstand Carla warum Herr Kogler leicht verstimmt war. Frau Kogler schüttelte jedoch entschieden den Kopf.
„Morgen bleiben wir den ganzen Tag am Strand. Und übermorgen können wir auch noch an den Strand gehen. Wir fliegen ja erst am Abend.“
Ihr Mann zog die Augenbrauen hoch und nickte ergeben mit dem Kopf.
„Haben Sie heute etwas Besonderes vor, Frau Bern?“, fragten beide fast wie aus einem
Munde.
Etwas Besonderes, dachte Carla bitter. So könnte man es stark untertrieben auch nennen.
„Nein, ich werde erst einmal am Strand bleiben. Für den Nachmittag habe ich vorerst sehr vage Pläne“, antwortete sie ausweichend.
Herr Kogler drängte seine Frau zum Aufbruch. Er hoffte wohl, rechtzeitig genug zurück zu sein, um doch noch an den Strand gehen zu können.
Carla sah ihnen nach bis sie auf den Hauptweg eingebogen waren und hinter einem großen Strauch verschwanden. Diese kurze belanglose Unterhaltung hatte sie viel Anstrengung gekostet. Ihre Gedanken waren
immer wieder abgeschweift und projezierten die absonderlichsten Bilder vor ihr inneres Auge. Gerade als sie sich etwas von dem eisgekühlten Mineralwasser ins Glas gießen wollte - das selbstverständlich schon wieder bereit stand - sah sie die beiden Holländer, die zielgerichtet auf sie zusteuerten. Nein, nur das nicht, dachte sie, stellte die Flasche wieder auf das Tablett, stand auf und ging ins Wasser. Es war ihr auch vollkommen egal, ob die beiden das als Versehen oder als Unhöflichkeit werteten. Wieder blieb sie lange im Wasser.
Wird es das letzte Mal sein, dass ich dieses entspannte Gefühl im Meer erlebe, fragte sie sich?
Sie schwamm noch ein paar Runden bevor
sie zum Ufer zurückkehrte. Dort blieb sie noch einige Minuten mit den Füßen im Wasser stehen und blickte die Küste entlang in Richtung Westen. Irgendwo dort waren die schwarzen Strände. Was würde sie heute Abend dort erwarten? Reichten ihre Entschlossenheit und ihr Wille gegen Cora zu kämpfen? Wenn sie doch nur mehr Mut hätte. Sie war so von Angst erfüllt, dass das Vertrauen und die Hoffnung, die sie in den Sengguhu gesetzt hatte, gegenwärtig von dieser überlagert wurde. Auf dem Weg zu ihrer Liege, zwang sie sich die düsteren Gedanken abzuschütteln. Zwischen den Bäumen bemerkte sie einen Mann auf der Terrasse ihrer Villa. Er reparierte wohl die Tür.
Die Holländer hatten es sich auf ihren Liegen
bequem gemacht, die zu Carlas Erleichterung, ziemlich weit von ihrer eigenen entfernt waren.
Carla trank die ganze Flasche Mineralwasser aus. Jetzt verzichtete sie auf das Glas. Ihr blieb noch eine halbe Stunde, sich auf der Liege auszustrecken. Dann musste sie sich fertig machen. Sorgfältig fertig machen, dachte sie. Damit sie die Götter erfreuen konnte. Dann schloss sie die Augen. Die Gefahr, dass sie vielleicht einschlafen würde, bestand nicht. Die Angst hielt sie wach.
Die Terrassentür ließ sich problemlos öffnen. Auch die Schiebetür zum Innenhof hatte Carla offen gelassen. Sie erwartete, dass die Vorhänge wegen des Durchzugs wehen
würden. Sie hingen bewegungslos. Kein Luftzug war zu spüren. Im Ankleideraum zog sie den inzwischen fast trockenen Badeanzug aus und legte ihn über eines der Waschbecken. Sie schlang sich ein Handtuch um und betrachtete sich im Spiegel. Am Haaransatz fiel ihr etwas Sand auf und als sie mit den Händen ihre Kopfhaut rieb, spürte sie unter ihren Fingern auch dort den feinen Sand. Also musste sie nicht nur duschen, sondern auch ihre Haare waschen. Ihre Haut hatte eine warme Bräune bekommen. Es hätte ein schöner Urlaub sein können, dachte sie. Stattdessen hatte sie Angst um ihr Leben. Sie näherte ihr Gesicht dem Spiegel. Waren die kleinen Fältchen an den Mundwinkeln tiefer geworden? Sie nahm eine
Wasserflasche aus dem Regal und stellte sie neben das Waschbecken. Bevor sie sich die Zähne putzte, mühte sie sich den Verschluss der Wasserflasche zu öffnen. Wie immer, fingerte sie einige Zeit daran herum. Er saß fest. Endlich hatte sie die Flasche geöffnet. Über das Waschbecken gebeugt, da sie sich gerade den Mund ausspülte, spürte sie die Hitze wie einen Schlag. Langsam richtete sie sich auf. Im Spiegel sah sie Coras lächelndes Gesicht. Sie stand hinter ihr in der Türöffnung des Ankleidezimmers. Mit einem klackernden Geräusch fiel die Zahnbürste ins Waschbecken. Mit äußerster Anstrengung gelang es Carla sich ruhig umzudrehen. Dabei warf sie einen, wie sie hoffte, unauffälligen Blick auf die Tür zum Innenhof.
Sie war offen. Aber es würde ihr nicht gelingen an Cora vorbeizukommen. Ihre Gedanken rasten. Sie könnte auch versuchen in die Dusche oder die Toilette zu gelangen. Von dort führten ja Türen in den kleinen Außenbereich.
Das Lächeln in Coras Gesicht hatte jetzt einen triumphalen Ausdruck bekommen. Carla war selbst überrascht über die Wut, die plötzlich in ihr aufstieg. Warum war kein Glas zersprungen? Dann wäre sie gewarnt gewesen, schoss es durch ihren Kopf. Sie griff nach der Wasserflasche und schüttete den noch verbliebenen Rest in Coras Gesicht. Ein zischendes Geräusch ließ Carla zusammenzucken. Wenn Wasser auf eine heiße Herdplatte spritzte, hörte es sich
genauso an. Coras hübsches Gesicht verzerrte sich. Kurz glitt ihr Blick durch den Raum und konzentrierte sich dann auf den Badeanzug, der über dem zweiten Waschbecken hing. Carla traute ihren Augen nicht. Ihr Badeanzug verkohlte langsam, schrumpfte zu einem unkenntlichen Klumpen zusammen und fiel dann auf den Boden.
„Du brauchst ihn sowieso nicht mehr.“
Cora lächelte wieder. Dieses Lächeln verbarg jedoch nicht den Hass, der in ihr brannte. Carla griff hinter sich nach dem Rand des Waschbeckens. Sie musste sich abstützen. Ihre Beine drohten nachzugeben und sie schwankte kurz.
Hatte sie wirklich eben Coras Stimme gehört? Wie schon in der vergangenen Nacht.
„Verspiele nicht die wenigen Stunden der Hoffnung, die ich dir schenke, kleine Carla.“
Carla musste die Augen schließen. Sie konnte einfach nicht mehr in dieses lächelnde und gleichzeitig hasserfüllte Gesicht blicken. Als sie die Augen wieder öffnete war Cora weg.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013