Romane & Erzählungen
Der Urlaub - Kapitel 25

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"Mystery - zwei Frauen - zwei Phänomene"
Veröffentlicht am 20. Mai 2016, 42 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

In meinem Garten steht kein Birnbaum - trotzdem unschwer zu erkennen wo mein Zuhause ist. Der Dichter, der dieses Land mit Leidenschaft beschrieb, muss damals schon gewusst haben, dass ich mich dort niederlassen würde. Das Schreiben habe ich - wie fast alle - mit dem ABC erlernt. Eigene Gedanken zu Papier zu bringen ... viel, viel später. Mich hat weder die Muse geküsst, noch fühle ich mich berufen meine Mitmenschen mit meinen literarischen ...
Mystery - zwei Frauen - zwei Phänomene

Der Urlaub - Kapitel 25

Der Urlaub

25. Kapitel



Langsam ging sie näher. Jetzt nur nichts falsch machen. Sie suchte nach einem Platz in gebührender Entfernung des Priesters, der wenigstens ein bisschen Schatten spendete. Ein etwas größerer Bambusstrauch schien ihr geeignet, sich dort hinzusetzen. Ihr Herz schlug bis zum Hals und ihr Mund war trocken. Sie wagte jedoch nicht, jetzt aus der Flasche zu trinken. Möglichst unauffällig betrachtete sie ihn. Er saß auf dem Boden, den Rücken an den Stamm des großen Baumes gelehnt, die Beine lang

ausgestreckt und die Hände vor sich im Schoß. Seinen Kopf hielt er aufrecht. Die Augen hatte er geschlossen. Er trug einen weißen Sarong und ein weites weißes Hemd, das in der Taille mit einer weißen Schärpe umwickelt war. Graues welliges Haar wuchs ihm bis über die Ohren. Sie saß zu weit von ihm entfernt, um einzelne Gesichtszüge zu erkennen. Deshalb fiel es ihr schwer sein Alter einzuschätzen.

     „Ob er mich überhaupt bemerkt hat?“, murmelte sie vor sich hin. Vielleicht aber beobachtete er sie unter halb geschlossenen Lidern ebenso, wie sie es getan hatte. Nur geschickter. Schnell senkte sie den Kopf. Ihre Hände nestelten nervös an ihrer Bluse, die viel zu warm für diesen heißen Tag war.

Zugeknöpft bis zum Hals, mit bedeckten Armen, würde sie dem Sengguhu zwar in keiner freizügigen Kleidung, jedoch durchgeschwitzt, gegenübertreten. Sie hob wieder den Kopf und sah zwei Schalen neben dem Priester auf dem Boden stehen.

Carlas Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Sie befürchtete schon, dass der Sengguhu sie nicht zu sich rufen würde. Doch dann hob er die Hand und winkte sie heran. Gleichzeitig setzte er sich aufrecht, zog seine Beine unter seinen Körper und nahm so den typischen Schneidersitz ein.

Carla näherte sich langsam, verbeugte sich, und setzte sich nach seiner Aufforderung ihm gegenüber auf den Boden. Dabei zog sie ihre Beine seitlich unter ihren Körper.

„Warum haben Sie mich gesucht?“, fragte er in fast akzentfreiem Englisch.

Carla blickte überrascht in sein Gesicht. Von vielen Falten durchzogen, wirkte es trotzdem nicht alt. Es war ihr unmöglich zu sagen, ob er sechzig, siebzig oder gar achtzig Jahre alt war. Lebhafte freundliche Augen von einem hellen Braun lächelten sie amüsiert an.

  „Kein Fremder kommt ohne Grund in diese Einöde“.

Er blickte sie forschend an und wurde dann ernst.

„Sie haben große Angst. Erzählen Sie mir warum!“

Ermutigt durch seine Freundlichkeit, aber noch mehr durch das Vertrauen, dass sie ihm entgegenbrachte, ohne zu wissen, woher es

mit einem Mal kam, erzählte sie zuerst stockend, dann immer fließender, woher sie kam, von ihren sonderbaren Erlebnissen, von ihren Begegnungen mit Cora, von dem, was sie über Cora nach so vielen Jahren erfahren hatte. Immer wieder ermahnte sie sich selbst ruhig zu bleiben, keine Emotionen zu zeigen, so wie der Professor es ihr geraten hatte, aber damit war sie wenig erfolgreich. Als sie ihre Erzählung beendet hatte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht.

  „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, sagte sie leise.

Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch, um sich die Tränen abzuwischen. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie sich eigentlich für ihren

Gefühlsausbruch entschuldigen müsste. Das erwartete der Sengguhu sicher von ihr. Aber wenn sie jetzt noch ein Wort sagen würde, kämen wieder die Tränen. Das wusste sie. Carla blickte ihn voller Hoffnung an. Was für einen Rat würde er ihr geben? Konnte er ihr überhaupt helfen? Wieder kamen ihr Zweifel. Was tat sie hier? Hatte sie sich zu sehr von Charlottes Schicksal beeinflussen lassen, und die Allgegenwart der Götter und Dämonen, mit denen die Menschen hier lebten, hatte ein Übriges getan? Waren es Hirngespinste, für die es vielleicht doch eine rationale Erklärung gab?

   „Nein“, flüsterte sie kaum verständlich „und der Professor hatte bestimmt keine Hirngespinste“.

Der Sengguhu hatte mit gesenktem Kopf zugehört und die ganze Zeit geschwiegen. Jetzt hob er den Kopf und sah Carla an. Er schwieg immer noch. Sein Blick glitt forschend über ihr Gesicht.

  „Wenn Sie ihre Zweifel nicht besiegen, wird der Dämon gewinnen. Vor ihm müssen Sie sich fürchten - vor den Gaben, die ihnen die Götter geschenkt haben, nicht. Die meisten Visionen, die Sie haben werden, werden Sie nicht deuten können, andere bekommen erst eine Bedeutung, wenn ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist. Dann werden Sie den Zusammenhang erkennen. Einiges jedoch wird Sie auch belasten. Sie werden lernen müssen, mit dieser Bürde zu leben.

... und die zerbrochenen Gläser ... es ist

Energie, die Sie freisetzen. Sie gewinnt nur an Stärke, wenn Sie emotional erregt sind. Der Dämon und Sie entstammen derselben Blutlinie. Doch Ihre Energie ist nicht zerstörerisch. Sie hat eine Schutzfunktion ... diese Gabe wird Ihnen genommen werden, wenn Sie den Dämon besiegt haben."

Er rutschte wieder näher an den Baum und lehnte sich mit dem Rücken an dessen Stamm. Bevor er die Augen schloss sagte er:

„Kommen Sie eine Stunde vor Sonnenuntergang noch einmal hierher.“

Wie benommen ging Carla den Weg zurück. Einmal blickte sie sich um. Der Sengguhu saß vollkommen entspannt in der Haltung, in der sie ihn vor einer Ewigkeit - so schien es ihr - das erste Mal gesehen hatte.

Nach einiger Zeit verließ sie den Trampelpfad und betrat den staubigen Weg. Der Professor saß, wie erwartet, unter einem Baum. Auch er hatte seinen Rücken an den Stamm gelehnt, blickte jedoch aufmerksam in die Runde. Als er Carla bemerkte, traf er Anstalten sich zu erheben, doch sie machte ihm ein Zeichen, dass er sitzen bleiben könne. Sie setzte sich neben ihn und erzählte von ihrer Begegnung mit dem Priester. Aufmerksam hörte der Professor zu, und zum ersten Mal sah sie Ratlosigkeit auf seinem Gesicht.

  „Ich hatte gehofft, dass er Ihnen sagen würde, wie Sie sich verhalten sollen", meinte er dann.

  „Aber wir sollten es als gutes Zeichen

werten, dass sie noch einmal wiederkommen sollen.“

Und dann sprach Carla die Gedanken aus, die ihr soeben auf dem Rückweg in den Sinn gekommen waren.

„Vielleicht will er mir gar keinen Rat geben. Vielleicht fragt er mich, warum bitten Sie nicht einen Priester ihrer Religion um Hilfe. Was soll ich ihm antworten? Ich gehöre keiner Konfession an, habe noch niemals eine Kirche betreten.“

Der Professor nickte mit dem Kopf.

  „Ja, solche Gedanken können einem schon durch den Kopf gehen.“

Dann erzählte er ihr von einer Expedition, an der er als junger Assistent seines damaligen Professors, teilgenommen hatte.

„Wir besuchten ein Bergdorf im östlichen Himalaya. Dieses Dorf war nur zu Fuß zu erreichen, und mit unserem schweren Gepäck brauchten wir zwei Tage bis wir am Ziel waren. Allein die Ausrüstung für unsere Filmaufnahmen wog schon einiges. Damals waren die Kameras größer, die Zelte waren schwerer, Trinkwasser musste in Kanistern mitgenommen werden. Die Menschen dort lebten im Winter abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Im Sommer gingen sie über die Berge in andere Dörfer und tauschten Waren aus. Manchmal machten sie sich auf den Weg zu dem entfernt liegenden Fluss und fuhren mit Flößen in größere besiedelte Gebiete. Dort holten sie Vorräte für den Winter. Das war gefährlich und dauerte

mehrere Tage. Im Winter teilten sie sich ihre Häuser mit ihren Tieren. Sie gaben Wärme. Ich schlief schlecht dort. Fremdes und Unerklärliches in den Nächten, Schreie voller Qual …

Er lehnte sich plötzlich zurück und fächelte sich mit seinem Hut Kühlung zu. Carla sah ihn besorgt an, doch er winkte beruhigend ab.

„Es führt zu weit diese alte Geschichte zu erzählen. Nur soviel - eine Schamanin verhalf mir zu meinem gewohnten ruhigen Schlaf.“

Carla war wohl bewusst, was der Professor ihr mit der Schilderung seines Erlebnisses deutlich machen wollte. Doch bevor sie antworten konnte, sprach er weiter:

  „Ich denke, dass es die Vorurteile der Menschen sind, die sie glauben lassen, nur

ihr Gott könne ihnen helfen. Ein Priester jedoch, ganz egal welcher Religion er angehört, der sich nur seinem Gott verpflichtet fühlt, wird auch einem Andersgläubigen, wenn er um Hilfe bittet, diese nicht verwehren. Es liegt an uns, diese anzunehmen - auch wenn sie anders aussieht als erwartet - oder sie abzulehnen.“

Der Professor trank den letzten Schluck Wasser aus seiner Flasche und sagte dann:

  „So, jetzt werden keine Vermutungen mehr angestellt. Jetzt genießen wir den Duft der Gewürznelkenbäume und warten ab, was der Sengguhu Ihnen nachher zu sagen hat.“

Er blickte auf seine Uhr.

  „Wir haben noch eine knappe Stunde Zeit.“

  „Er hat noch nicht einmal gefragt, wer mir

geraten hat, ihn aufzusuchen oder woher ich seinen Namen weiß“, murmelte Carla vor sich hin.

Der Professor zuckte mit den Schultern.

„Das ist für den Sengguhu wahrscheinlich ohne Bedeutung“, erwiderte er.

Dann richtete er Carla herzliche Grüße von Charlotte aus, mit der er in der vergangenen Nacht noch telefoniert hatte.

Dazu hatte bisher die passende Gelegenheit gefehlt. Die Suche nach dem Sengguhu hatte ihre absolute Aufmerksamkeit erfordert. Jetzt erzählte auch Carla ihm von ihrem nächtlichen Erlebnis. Von der Angst, die sie hatte, von ihrer provisorischen Schlafgelegenheit auf der Terrasse und von ihrer mit einem Mal entstandenen

Entschlossenheit gegen Cora zu kämpfen.

„Aber jetzt ist davon nicht mehr viel übrig“, seufzte sie.

Carla hatte das Gefühl, dass die Minuten krochen, die Zeit stehen blieb. Ungeduldig und nervös schaute sie immer wieder auf ihre Uhr. Auf ein Gespräch mit dem Professor konnte sie sich nicht konzentrieren, und da er momentan eigenen Gedanken nachzuhängen schien, schwiegen beide. Als endlich die Zeit gekommen war aufzubrechen, stand sie auf und klopfte den Sand von der Hose. Sie zupfte ihre Bluse etwas in Form und bemerkte dunkle Schatten auf ihr. An den durchgeschwitzten Stellen hatte sich Staub abgesetzt, den sie wahrscheinlich unbewusst mit den Händen

verrieben hatte.

„Sehr appetitlich sehe ich nicht gerade aus“, bemerkte sie.

Der Professor nickte ihr aufmunternd zu und sie machte sich auf den Weg.


Carla schien es, als hätte der Sengguhu sich nicht einmal bewegt. Er saß in der gleichen Haltung, wie vor gut einer Stunde, als sie ihn verlassen hatte. Carla wollte sich in gebührender Entfernung setzen, doch er öffnete die Augen und winkte sie zu sich. Noch bevor Carla herangetreten war, nahm er seinen Schneidersitz ein. Auch Carla setzte sich nach seiner Aufforderung. Sie blickte auf seine blütenweiße Kleidung und schämte sich wegen ihres verschmutzten

Eindruckes, den sie auf ihn machen musste. Er schien dem aber keine Bedeutung beizumessen, obwohl - da war sich Carla sicher - er es bemerkt hatte. Diesen wachsamen Augen entging nichts.

Diesmal war nichts amüsiertes in seinem Blick. Ernst blickte er sie an.

„Kommen Sie morgen kurz vor Sonnenuntergang in die Nähe des schwarzen Strandes. Die genaue Stelle werden Sie noch erfahren. Sie werden dort erwartet. Wenn die Sonne untergegangen und völlige Dunkelheit eingetreten ist, wird man Sie ans Meer führen.“

Carla wollte fragen, wer sie erwarten würde, doch der Priester hob leicht die Hand und bedeutete ihr zu schweigen. Diese Geste war

so voller Kraft, dass Carla kein Wort heraus bekam.

„Am Strand, nicht weit vom Wasser entfernt, wird ein großes Feuer sein. Sie gehen um das Feuer herum und stellen sich mit dem Rücken zum Meer. Halten Sie den Abstand zum Feuer so weit wie möglich, aber vermeiden Sie, mit den Füßen ins Wasser zu treten. Und dann warten Sie auf den Dämon. Er wird kommen und Ihnen auf der anderen Seite des Feuers gegenüberstehen. Jetzt umrunden Sie das Feuer. Das wird Sie viel Kraft kosten, denn der Dämon wird Sie ins Feuer ziehen wollen. Das kann er aber nur, wenn er sich mit Ihnen auf einer Achse befindet. Also wird er ebenfalls das Feuer umrunden. In entgegengesetzter Richtung.

Wenn der Dämon den Standort erreicht hat, den Sie zu Beginn hatten, bleiben Sie stehen. Sie stehen jetzt mit dem Rücken zur Landseite. Und jetzt geht es um Ihr Leben. Kämpfen Sie. Der Dämon wird es tun. Mit ganzer Kraft und mit der Macht, die er besitzt. Mit jedem Schritt, den Sie sich vom Feuer entfernen und dem Land hinter dem Strand näher kommen, wird die Stärke des Dämons geringer. Aber wenden Sie ihm nicht den Rücken zu. Schauen Sie ihn an. Ich werde dort sein und Varuna um Hilfe bitten.“

Carla saß wie versteinert. Mehrmals räusperte sie sich. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht.

  „Ich habe Ihnen alles gesagt. Alle Fragen, die sie jetzt noch haben, müssen Sie sich

selbst beantworten. Bitten Sie die Götter auf ihre Weise um Hilfe. Erfreuen Sie sie morgen.“

Der Sengguhu bat Carla sich etwas nach vorn zu beugen. Er benetzte die Stellen zwischen ihren Augenbrauen etwas oberhalb der Nasenwurzel und ihre Schläfen mit Wasser und drückte dann einige Reiskörner auf die feuchte Haut.

Dass in einer der Schalen, die neben dem Priester auf der Erde standen, Reis und in der anderen Wasser war, hatte Carla vor Aufregung gar nicht bemerkt.

Jetzt rutschte er wieder an den Baum heran, legte die Hände aneinander und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an, lehnte sich an den Stamm und schloss die Augen.

Mechanisch verbeugte sich Carla ebenfalls und stand etwas taumelnd auf.

Sie musste wohl den Trampelpfad recht abwesend zurückgegangen sein, denn plötzlich stand der Professor vor ihr. Sie war schon auf den Sandweg eingebogen, ohne dass es ihr bewusst geworden war. Noch vollkommen verwirrt wollte sie sich setzen, doch der Professor, machte sie darauf aufmerksam, dass sie sich beeilen sollten, ins Dorf zurückzukehren, denn die Sonne würde in wenigen Minuten untergehen. In der Dunkelheit könnten sie sich verlaufen.

Den Weg ins Dorf legten sie schweigend zurück. Carla war nicht fähig ihre wirren Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Der Professor unterbrach dieses Schweigen nicht.

Ihn beunruhigte Carlas Verfassung. Außerdem fragte er sich, wie sie wohl ins Hotel zurückkommen sollten.

Als sie das Dorf erreichten, war die Sonne bereits untergegangen. Es herrschte dieses diffuse Licht zwischen Dämmerung und noch nicht vollständiger Dunkelheit. Das Dorf machte jetzt einen ganz anderen Eindruck als am Nachmittag. Aus den geöffneten Türen fiel Licht auf die Straße. Vor den Häusern standen Stühle, auf denen Leute saßen und sich unterhielten. Aus einigen Türen klang Musik. Man hörte fröhliches Lachen der Frauen und etwas entfernt das übermütige Kreischen von Kindern, die offenbar ein wildes Spiel spielten.

Diese Veränderung fiel jetzt auch Carla auf,

die sich inzwischen einigermaßen gefasst hatte. Verwundert sah sie den Professor an.

„Jetzt nach Sonnenuntergang kühlt die Luft ein wenig ab. Da zieht es die Menschen aus ihren warmen Häusern auf die Straße.“

Die Leute, an denen sie vorbeigingen, grüßten freundlich, fast ehrfürchtig, fand Carla. Eine Frau kam auf Carla zu und steckte ihr eine rote Hibiskusblüte hinter das Ohr.

  „Zum Schutz vor Dämonen“, flüsterte der Professor.

Zwei andere Frauen brachten zwei kleine mit Reis gefüllte Schalen und reichten sie ihnen mit einer tiefen Verbeugung.

Carla war dankbar für diese Freundlichkeit und auch ein wenig gerührt. Vielleicht waren

aber auch ihre angespannten Nerven daran schuld, dass ihre Augen feucht wurden. Kaum hatten sie ihren Reis aufgegessen und die Schalen zurückgegeben, trat ihr früherer Gastgeber auf sie zu.

„Es fährt Sie jetzt jemand nach Medewi. Von dort werden Sie mit einem anderen Auto ins Hotel gefahren.“

Selbst der Professor war jetzt sprachlos.

  „Ich habe nur dem Sengguhu erzählt, in welchem Hotel ich wohne“, sagte Carla.

„Die Verständigung zwischen den Dorfbewohnern und ihrem Sengguhu scheint ausgezeichnet zu sein, auch wenn er mehr als zwei Kilometer vom Dorf entfernt ist. Vielleicht ist der Junge, der uns vorhin ein Stück begleitet hat, der

Nachrichtenüberbringer“, erwiderte der Professor.

"Er hätte an uns vorbeikommen müssen", erwiderte Carla.

"Es wird mehrere Wege geben, um den Sengguhu zu erreichen", antwortete der Professor.

Dann hörten sie das etwas altersschwache Geräusch eines Motors. Als sie sich umdrehten näherte sich ein ehemals gelber, jetzt aber von vielen Roststellen gezeichneter Pickup.


Der Fahrer, der sie von Medewi ins Hotel bringen sollte, hatte nach zehn Minuten Fahrt eine Panne. Das Auto ruckte einige Male und blieb dann stehen. Er öffnete die Motorhaube

und blickte recht ratlos in den von einer Laterne, die an der Hauswand eines ziemlich desolat wirkenden Gebäudes hing, spärlich erleuchteten Motorraum. Er schüttelte den Kopf und bat sie hier zu warten. Er würde ein anderes Auto holen. Offenbar war das nicht so einfach, denn es dauerte einige Zeit, bis er mit einem kleineren Pickup zurückkam. Der junge Mann, den er mitgebracht hatte, kümmerte sich um den liegengebliebenen Wagen. Endlich konnten sie die Fahrt fortsetzen. Der Professor rutschte dicht neben den Fahrer, um für Carla Platz zu machen.

Sie  hatte dem Professor schon erzählt, was am folgenden Abend passieren sollte. Er hatte sich kaum geäußert, nur sehr

aufmerksam zugehört. Carla glaubte ein leichtes Erschrecken auf seinem Gesicht zu erkennen. Doch ihre durcheinander kreisenden Gedanken konnten ihr auch einen Sreich gespielt haben. Jetzt kam sie erneut auf das Gespräch mit dem Sengguhu zurück.

  „Ein Zeremoniell“, murmelte der Professor.

  „Was werden Sie tun, Carla?“

  „Ich weiß es nicht. Ich habe so viele Zweifel. Ich habe mir die Hilfe des Sengguhu anders vorgestellt.“

  „Dachten Sie der Priester würde ein Pülverchen haben, um sie aus einem Albtraum zu befreien? Sie befinden sich in keinem Albtraum. Glauben sie Ihren Augen und Ihren Empfindungen. Den Rat habe ich

Ihnen schon einmal gegeben.“

Carla wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Und sie hatte dazu nicht mehr viel Zeit.                   

Es war fast Mitternacht als Carla und der Professor das Hotel erreichten. Auf dem Weg zur Villa blieb Carla mit einem Mal stehen. Sie waren kurz vor dem kleinen Weg, der zum Lanai des Professors führte. Aufgeregt berührte sie den Professor am Arm.

  „Jetzt ist es mir eingefallen.“

Der Professor blickte sie erwartungsvoll und etwas verwundert an.

„Die ganze Zeit habe ich überlegt, wann und wo mir der Name Varuna schon einmal begegnet ist. Der Sengguhu sagte, er würde Varuna um Hilfe bitten. Erinnern Sie sich an

die Holzschnitzerei, Herr Professor? Die wunderschöne Schnitzerei - die offenbar nur ich gesehen hatte - und die verschwunden war, als ich sie Ihnen zeigen wollte. Auf dem kleinen Schild vor der geschnitzten Figur stand ´Varuna.“

Der Professor schwieg nachdenklich. Eindringlich blickte er Carla an und antwortete dann:

  „Vertrauen Sie sich selbst, Carla.“

Bevor er auf seinen Weg einbog und sich verabschiedete bat er Carla, ihm rechtzeitig Bescheid zu geben, wie ihre Entscheidung ausgefallen ist. Carla war etwas irritiert über diese Bitte. Natürlich würde sie den Professor informieren.Die Lampe an ihrer Pforte war eingeschaltet. Als sie den Innenhof betrat, fiel

das Licht der Außenbeleuchtung auf den Weg. Die kaputte Lampe war vom Personal schon durch eine neue ersetzt worden. Durch die zugezogenen Vorhänge fiel mattes Licht. Carla atmete auf. Als sie in ihrer Tasche nach dem Zimmerschlüssel suchte, fiel ihr ein kleiner Zettel auf. Verwundert hielt sie ihn ans Licht. Die Bleistiftzeichnung, die einen Tempel, der mit einem roten Kreuz gekennzeichnet war, einen Namen und mehrere Wege zeigte, war ein Lageplan. Unzweifelhaft der Platz, an dem sie morgen vor Sonnenuntergang sein sollte. Doch wie kam der Zettel in ihre Tasche? Dann erinnerte sie sich, dass eine der Frauen, die ihr den Reis angeboten hatten, ihr etwas in die Hand gedrückt hatte. Noch viel zu

aufgewühlt von der Begegnung mit dem Sengguhu, hatte sie den Zettel abwesend in ihre Tasche gesteckt.

Es war warm im Zimmer. Sehr warm. Aber nicht so wie am Vorabend. Der Geruch, der plötzlich in ihre Nase stieg, kam ihr vor wie Brandgeruch. Aber so plötzlich wie er aufgetreten war, hatte er sich auch wieder verflüchtigt. Cora war hier gewesen. Oder war sie noch hier? Vorsichtig öffnete Carla die Tür zum Ankleideraum. Keine Kerzen. Sie schaltete das Licht ein und ließ ihren Blick prüfend durch den Raum und das angrenzende Bad gleiten. Sie konnte nichts Auffälliges entdecken. Selbst die Blüten, mit denen das Personal wieder die Schalen gefüllt hatte, sahen noch einigermaßen frisch

aus.

Etwas welk, aber nicht vertrocknet wie gestern. Trotzdem würde sie nicht im Haus schlafen. Sie würde sich ihr notdürftiges Lager wieder auf der Terrasse herrichten.

Doch als sie versuchte die Terrassentür zu öffnen, bewegte sich diese keinen Zentimeter. Sie ruckte und zog bis sie sich eingestehen musste, dass sie keinen Erfolg haben würde. Irgendetwas blockierte die Schiebetür.

Dann würde sie eben im Innenhof auf einer der Liegen schlafen. Die Tür zum Innenhof hatte sie offen gelassen. Einer Eingebung folgend schob sie einen Sessel in die Türöffnung. Dann ging sie ins Bad. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel bestätigte ihre

Vermutung. Sie sah furchtbar aus. Ein immer noch verschwitztes Gesicht, umrahmt von einzelnen Haarsträhnen, die sich aus dem Band im Nacken gelöst hatten, blickte ihr entgegen. Ein einzelnes Reiskorn haftete noch auf ihrer Stirn. Die Hibiskusblüte hatte sie wohl verloren. Ihre Kleidung sah aus, als hätte sie diese schon eine Woche getragen. Ob der Professor ähnlich aussah? Vielleicht. Sie hatte nicht darauf geachtet. Sie waren viel gelaufen, hatten sich auf staubigen Boden gesetzt. Hinzu kam die große Hitze, die heute geherrscht hatte. Auf keinen Fall durfte sie ihn nochmal so einer Strapaze aussetzen.

Bevor sie unter die Dusche ging, stellte sie den zweiten Sessel in die Türöffnung des

Ankleideraumes. Wie schon am Abend zuvor stand sie lange unter der Dusche, wusch ihr Haar und hielt ihr Gesicht immer wieder in den lauwarmen Wasserstrahl.

Erfrischt, aber erschöpft, bereitete sie ihr Nachtlager im Innenhof. Sie holte sich noch etwas Obst und eine Flasche Mineralwasser und setzte sich auf die Liege.

Die Außenbeleuchtung hatte sie ausgeschaltet. Im Zimmer brannte die kleine Lampe über dem Bett. Die Lampe auf dem Schreibtisch hatte sie ebenfalls eingeschaltet. Während sie das Obst aß, lauschte sie auf das durch die Mauern des Hofes gedämpfte Rauschen des Meeres. Das Klatschen der Wellen, wenn sie an den Strand schlugen, drang nur leise an ihr Ohr.

Als sie sich endlich ausstreckte, war sie doch froh, dass sie diese Möglichkeit des Ausruhens hatte, denn die Liege war weitaus bequemer als die beiden zusammen geschobenen Sessel auf der Terrasse. Trotz ihrer Erschöpfung konnte sie nicht einschlafen. Sie sehnte sich so sehr danach. Wenigstens eine kurze Zeit an nichts denken und nicht in Grübeleien verfallen. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Jedes Geräusch, das an ihr Ohr drang, nahm eine überdimensionale Lautstärke an. Dann setzte sie sich auf, wandte den Kopf in alle Richtungen in der Hoffnung, zu erkennen, woher es kam, mehr noch, was es bedeutete.

„Hier ist keine Charlotte, die dich beschützt,

kleine Carla. Auch der Sengguhu kann dir nicht helfen. Die Barrieren sind zu hoch.“

Carla hielt den Atem an. Hatte ihr Herzschlag ausgesetzt? Sie legte die Hand auf ihre Brust und versuchte tief Luft zu holen. Endlich atmete sie wieder halbwegs normal. Langsam wandte sie den Kopf. Was war das eben?

Sie blickte in das matt erleuchtete Zimmer, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Der Sessel in der Türöffnung war etwas zur Seite gerückt. Das konnte sie selbst versehentlich getan haben. Schwankend erhob sie sich von der Liege und schaltete die Außenbeleuchtung ein. Ihr Blick schweifte suchend durch den Innenhof. Doch nur die steinernen Augen der Statue blickten sie grimmig an. Die Tür der kleinen Pforte war

nur angelehnt. Die wenigen Schritte dorthin, um sie wieder zu schließen, gelangen ihr nur mit äußerster Kraft. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, wie dumm sie war. Den Riegel der Tür legte sie nicht mehr um. Sie konnte die Tür schließen so oft sie wollte, sie konnte Sessel in Türöffnungen schieben damit sie sich nicht schlossen und erreichte damit nur, dass Cora immer neue Gelegenheiten bekam, ihr zu zeigen, dass das keine Hindernisse für sie waren. Cora war überall. Sie wusste von ihrem Besuch beim Sengguhu. Warum hatte sie ihn nicht verhindert?

  „Weil sie sicher ist, dass sie ihr Ziel erreichen wird“, hämmerte es in ihrem Kopf. Doch über den Inhalts des Gespräches mit

dem Sengguhu wusste Cora nichts. Da war sich Carla sicher. Cora wagte sich nicht in seine Nähe. Hier auf dem Hotelgelände plant Cora etwas schoss es ihr durch den Kopf. Sie musste ja immer wieder hierher zurück. Wo sollte sie sonst hin?

Und was hatte Cora mit der Bemerkung gemeint, dass die Barrieren zu hoch seien? Wie ein Mantra hörte sie immer wieder dieselben Worte in ihrem Kopf. Die Barrieren sind zu hoch! Die Barrieren sind zu hoch! Die Barrieren sind zu hoch!

Es war als würde eine Nebelwand weichen. Unwahrscheinlich klar erkannte Carla was Cora gemeint hatte. Unbewusst und ungewollt hatte Cora ihr die Augen geöffnet. Die Barrieren waren ihre Zweifel. Der

Sengguhu hatte es mit seinen Worten gesagt. Der Professor hatte es mehrfach erwähnt. Sie musste ihren Wahrnehmungen vertrauen. Dann würde ihr auch der Sengguhu helfen können.

Sie hatte Coras Präsenz akzeptiert. Sie suchte nicht mehr nach einer rationalen Erklärung und sie war endlich bereit - auch wenn es sie noch verunsicherte - ihre Fähigkeit, ihre Gabe, mehr zu sehen und zu fühlen als andere, anzunehmen.

Morgen Abend würde sie zum schwarzen Strand gehen.






© KaraList

Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013

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Über den Autor

KaraList
In meinem Garten steht kein Birnbaum - trotzdem unschwer zu erkennen wo mein Zuhause ist. Der Dichter, der dieses Land mit Leidenschaft beschrieb, muss damals schon gewusst haben, dass ich mich dort niederlassen würde.
Das Schreiben habe ich - wie fast alle - mit dem ABC erlernt. Eigene Gedanken zu Papier zu bringen ... viel, viel später. Mich hat weder die Muse geküsst, noch fühle ich mich berufen meine Mitmenschen mit meinen literarischen Ergüssen zu überschütten.
Nach gefühlten 20 000 gelesenen Büchern, habe ich mir gesagt, eine Geschichte oder ein Gedicht schreiben, das kannst du vielleicht auch. Und wenn der geneigte Leser nach der letzten Zeile das Buch mit dem Gedanken zuschlägt ´schade, dass es zu Ende ist` - dann war die Mühe nicht umsonst. Denn, Schreiben ist Arbeit.

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Moscito ich glaube ja an Carla und bin fest davon überzeugt, dass sie ihre Aufgabe meistern wird. Der Glaube an sich selbst, ist es, der einen über sich hinaus wachsen lässt und nicht irgendeine Körperlose Gestalt. Jedenfalls ist das meine Meinung und so halte ich es im Leben auch. Also auf zum hoffentlich letzten Gefecht und dann soll eine große Welle das flammende Inferno auslöschen.
Ach was hatte ich für ein Glück, dass ich nun gleich zwei Kapitel zum Lesen hatte und nicht warten musste, was der Priester zu vermelden hatte, sondern gleich durchrattern durfte. Herzlichen Dank für deine wundervollen Beschreibungen, die du mit eingebaut hast.
Lieben Gruß Silke
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ach Silke, Du gehörst zu den Menschen, die an das Gute glauben - aber wird es sich immer durchsetzen können??? :-))
Vielen herzlichen Dank für Deinen Kommentar und den Favo.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Moscito In erster Liebe glaube ich an mich selbst, ob das immer gut ist werde ich am Ende meines Weges wissen. Aber du wirst uns sicher nicht enttäuschen und diesen Satansbraten davon kommen lassen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, dann vielleicht beim nächsten Mal ... ich warte geduldig auf die Auflösung.
Lieben Gruß
Silke
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Der Urlaub - Kapitel 25..."
Jetzt kommt richtig Fahrt auf und die Geschichte damit meinen persönlichen Intentionen sehr entgegen, denn die Mystik darinnen ist echt spannend beschrieben...
Ich ahnte, dass der Priester sehr wahrscheinlich eine Lösung anbieten könnte,
nun liegt es an Carla sie auch umzusetzen... ...smile*
LG Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ich freue mich, dass der Meister der Erzählkunst mein Buch als spannend wertet. Der Sonnabend ist gerettet! :-)
Ein herzliches Dankeschön für den Favo, lieber Louis.
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
Liebe Kara,
Ha, zu viel der Ehre, Madame. Ich sage nur, was ich denke.
Und diese Geschichte scheint mir spannend und ich hoffe auch,
dass sie es bis zum Ende bleibt... smile*
LG Louis :-)
Vor langer Zeit - Antworten
abschuetze Wow. Wieder Spannung pur. Also alles eine Frage des Glaubens. Des Glaubens und Vertrauens in die eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Carla wird das meistern ... jetzt wo sie so weit ist.

LG von Antje
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ich freue mich, dass Du immer noch dabei bist und sage herzlich ´danke` für Deine Lesezeit, liebe Antje.
Tja, und ob Carla der Sache gewachsen ist ... einige meiner Kurzgeschichten gehen auch ganz anders aus, als der Leser es erwartet hat. :-))
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
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