Der Urlaub
24. Kapitel
Sie waren jetzt schon eine halbe Stunde unterwegs und Carla hatte das Gefühl, nur eine Strecke von höchstens fünf Kilometern zurückgelegt zu haben.
Die Gründe für die Entscheidung des Professors mit einem Bemo, das vage an einen Kleinbus erinnerte und hier ein übliches Verkehrsmittel war, in das kleine Dorf im Westen der Insel zu fahren, leuchteten ihr zwar ein, ließen jedoch Zweifel in ihr aufkommen, ob sie ihr Ziel rechtzeitig genug erreichen würden. Im Bemo waren mit
Sicherheit mehr Leute als ihm gut tat. Welche Farbe ihr Transportmittel hatte, konnte Carla nicht genau erkennen, da Roststellen offenbar mit der Farbe überdeckt worden waren, die gerade zur Hand war. Die abgewetzten Sitze waren alle besetzt. Das veranlasste den Fahrer einige Kisten auf den Boden zu stellen, um noch weitere Fahrgäste mitnehmen zu können. Der Professor saß gleich hinter dem Fahrer und versuchte mit dem neben ihm sitzenden Mann ins Gespräch zu kommen. Das gestaltete sich offenbar als schwierig. Carla sah wie beide mit den Händen gestikulierten, was sie annehmen ließ, dass es Verständigungsprobleme gab. Der Professor hoffte, einige Informationen von den
Mitfahrenden über den Sengguhu, den sie aufsuchen wollten, zu erhalten.
Neben Carla - sie saß auf einem der hinteren Plätze - saß eine Frau mit einem Korb auf dem Schoß. Er war mit einem Tuch abgedeckt und geriet ab und zu in Bewegung. Dann lächelte die Frau und sagte etwas zu Carla, worauf diese ebenfalls freundlich lächelte, obwohl sie kein Wort verstanden hatte. Von den Mitfahrenden sprach wohl keiner Englisch. Oder wollte keiner? Vielleicht hielten sie sich zurück, nachdem sie mitbekommen hatten, dass der Professor nach dem Sengguhu gefragt hatte. Der Professor würde kein Glück haben, hier irgend etwas zu erfahren. Die Fahrgäste wechselten in schneller Folge, weil der Fahrer
überall dort hielt, wo jemand aussteigen wollte oder jemand am Straßenrand stand und zu verstehen gab, dass er mitfahren möchte. Entsprechend langsam kamen sie voran. Wenn ein neuer Fahrgast einstieg, brandete kurz ein Gespräch zwischen ihm und den schon Anwesenden auf, bevor es weiterging.
Die Autoscheiben im Bemo waren teilweise entfernt worden, die noch vorhandenen wurden von den Insassen heruntergekurbelt. Es herrschte ein kräftiger Durchzug. Trotzdem war Carla von Gerüchen umgeben, die in ihrer Kombination von zubereiteten Speisen, dem strengen Geruch von Hühnermist und Schweißausdünstungen, eine leichte Übelkeit bei ihr hervorriefen. Der
abenteuerliche Fahrstil des Fahrers trug auch nicht dazu bei, das flaue Gefühl in ihrem Magen unter Kontrolle zu bekommen. Ungeachtet irgendwelcher Verkehrsregeln überholte er Droschken und Mopeds dort, wo er gerade Platz hatte. Links oder rechts, wenn nötig, auf dem Gehweg. Auf der Ablage über dem Armaturenbrett stand ein kleines Opferkörbchen. Er musste seinen Göttern sehr vertrauen. Dass es nicht herunterfiel, hatte es offenbar einer besonderen Befestigungstechnik zu verdanken. Sie war froh, nach einer weiteren halben Stunde beängstigender Fahrt das Bemo verlassen zu können, weil es die gleiche Strecke wieder zurückfuhr. Das nächste Bemo, das der Professor und Carla bestiegen, um weiter in
Richtung Pekutatan zu fahren, stand dem vorigen in nichts nach. Auch hier scheiterte der Versuch des Professors mit den Fahrgästen ins Gespräch zu kommen, und so beschlossen sie, ihre Weiterfahrt beim nächsten Halt des Bemos, anders fortzusetzen. Offenbar sprachen die Leute seltener Englisch, je weiter man sich von den Touristenorten entfernte. Das beunruhigte auch den Professor ein wenig. Trotzdem sprach er Carla Mut zu. Den konnte sie auch gebrauchen, denn ihre morgendliche Entschlossenheit war in Zweifel umgeschlagen, ob sie das, was sie sich vorgenommen hatte, auch schaffen würde.
In dem kleinen Ort, in dem sie sich jetzt befanden, war es gar nicht so einfach einen
Fahrer zu finden, der bereit war, eine doch relativ weite Strecke zu fahren. Als es ihnen endlich gelungen war, stellten sie erfreut fest, dass dieser wenigstens ein leidliches Englisch sprach. Die Frage des Professors nach einem Sengguhu, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Medewi leben sollte, wurde mit einem erstaunten Blick beantwortet. Carla befürchtete schon einen erneuten Misserfolg ihrer Bemühungen. Doch dann bekamen sie eine Antwort, die ihnen einerseits Hoffnung gab, zum anderen die Unsicherheit entstehen ließ, ob man ihnen überhaupt Auskunft geben würde.
„Ich kenne diesen Sengguhu nicht. Ich lebe an der Ostküste und bin nur zu Besuch hier“, sagte er etwas zögernd.
„Fragen Sie in Medewi nach dem Priester. Versuchen Sie nicht nur das Dorf, in dem er lebt, in Erfahrung zu bringen, sondern auch seine genaue Adresse. In seinem Heimatdorf wird man Fremden vielleicht seinen Aufenthaltsort nicht verraten.“
Dann erzählte er weitaus aufgeräumter von der Hochzeit seiner Schwester, die in drei Tagen stattfinden sollte.
Bisher waren sie die Küstenstraße entlang gefahren, mussten diese jedoch wegen Bauarbeiten kurz verlassen und eine Umleitungsstraße, die durch zwei kleine Dörfer führte, nehmen. Vor den einfachen Häusern wurde Reis getrocknet. Auf großen Stoffbahnen und riesigen Papierbögen, die oft bis auf die Fahrbahn reichten, lagen
braune und weiße Reiskörner. Sie kamen wieder nur sehr langsam voran, da der Wagen diesen Hindernissen ausweichen musste. Frauen, meist waren sie schon älter, saßen auf Stühlen vor den Häusern und vertrieben - entweder mit einer Rassel oder mit Händeklatschen - Vögel, die versuchten, sich an dieser üppigen Tafel niederzulassen. Einige Frauen trugen einen Reishut, andere hatten einen Regenschirm als Schutz gegen die Sonne aufgespannt. Interessiert blickte Carla auf dieses etwas erheiternde Schauspiel und wurde so etwas von ihren ängstlichen Gedanken abgelenkt.
Bald konnten sie wieder auf die Küstenstraße einbiegen und ohne weitere Verzögerungen weiterfahren. An einer für balinesische
Verhältnisse etwas größeren Straßenkreuzung in Pekutatan standen große und kleine Opferkörbe. Der Professor machte Carla darauf aufmerksam.
„Das muss wohl eine gefährliche Kreuzung sein, wenn so viele Menschen darum bitten, dass kein Unfall geschehen möge.“
Der Fahrer nickte zustimmend mit dem Kopf. Schon nach kurzer Fahrt verließen sie Pekutatan wieder.
„Noch fünfzehn Minuten“, kündigte er das Ende der Fahrt an.
„Dann sind wir in Medewi.“
Dort angekommen, standen sie zunächst etwas ratlos vor einem Laden, in dem von Surfbrettern über T-Shirts bis zu Gewürzen alles erhältlich war. Der Fahrer hatte sie
einfach hier abgesetzt. Auf ihre Frage, ob er sie später in das kleine Dorf fahren könne, hatte er verneinend den Kopf geschüttelt.
Er findet es sicher merkwürdig, dass Fremde einen Sengguhu aufsuchen wollen, dachte Carla. Sie sah den Professor an und ahnte, dass ihm der gleiche Gedanke gekommen war. Besorgt bemerkte sie die fahle Blässe in seinem Gesicht. Darüber konnte auch die von der Sonne etwas gebräunte Haut nicht hinwegtäuschen. Das ist alles viel zu anstrengend für ihn. Was hatte er für sie nicht alles auf sich genommen. Und natürlich für Charlotte. Er musste sie sehr lieben. Voller Dankbarkeit hätte sie gern seine Hand genommen, wagte es aber letztlich doch nicht, weil ihr diese Geste in diesem Moment
zu vertraut erschien.
Wenige Schritte von ihnen entfernt hatte eine Frau auf einem langen Tisch farbenprächtige Stoffe ausgebreitet. Sie sah Carla an. Vielleicht hoffte sie, dass diese ihr etwas abkaufen würde. Carla trat an den Tisch und begutachtete einige Stoffe. Prüfte auch mit der Hand deren Qualität und kam erstaunlich schnell mit der Frau in ein Gespräch. Doch als sie nach dem Sengguhu fragte, schüttelte die Frau den Kopf. Frustriert blickte sie sich nach dem Professor um, der gerade im Gespräch mit einem jungen Mann war, der gerade sein Moped auf den Gehweg schob. Sie sah, dass der junge Mann die Schultern hob und ebenfalls den Kopf schüttelte.
„Vielleicht habe ich die falsche Taktik des
Fragens“, sagte Carla während sie mit dem Professor in eine kleine Nebenstraße einbog.
„Nein, nein, Sie machen das ganz richtig. Erst das Gespräch suchen, lobende Worte finden und dann langsam an die eigentliche Frage herantasten. Bloß nicht mit der Tür ins Haus fallen.“
Sie betraten wieder eine etwas breitere Straße, in der sich mehrere Läden aneinanderreihten. Touristen mit Surfbrettern unter dem Arm, versuchten Platz in einem Bemo zu bekommen. Andere schlenderten die Straße entlang oder verschwanden in einem der Läden. Carla schlug vor, in einen größeren Laden zu gehen und einen Verkäufer zu fragen. Doch auch dort waren sie erfolglos.
„Ich hätte hier weniger Touristen erwartet“, sagte Carla.
„Dabei finde ich diesen Ort gar nicht besonders interessant. Herr Kogler könnte uns sicher sagen, was ihn für Touristen so anziehend macht.“
„Die Gegenwart der vielen Fremden ist für uns von Vorteil“, erwiderte der Professor.
„Dadurch sprechen hier mehr Balinesen Englisch.“
„Bis jetzt hat uns das nicht weitergeholfen“, erwiderte sie enttäuscht.
Wieder bogen sie in eine kleine Straße ein, die in eine noch kleinere mündete, in der gerade einmal zwei Leute aneinander vorbeigehen konnten. Ärmliche Häuser standen dicht beieinander, deren Türen meist
geöffnet waren und somit Einblick in das düstere Innere gewährten. Touristen begegneten ihnen hier nicht. Hin und wieder erschien eine Gestalt in den offenen Türen, die jedoch sofort wieder verschwand. Wahrscheinlich war man in allen Häusern mit der Zubereitung von Essen beschäftigt. Der Geruch von gebratenem Fisch und der Duft von Koriander und Curry verband sich leider mit dem Gestank des Mülls, der im Rinnstein schwamm. Aber gerade hier bekamen sie einen Hinweis. Ein alter Mann saß auf einem Stuhl vor seinem Haus und versperrte damit fast die Straße. Carla und der Professor begrüßten ihn freundlich. Offensichtlich erfreut über die unerwartete Abwechslung, begann er sofort ein Gespräch. Leider sprach
er nur balinesisch, Bahasa, wie der Professor Carla erklärte. Mit höflichem Kopfnicken und mehreren Verbeugungen lauschten sie seinen Worten. Der Professor suchte in seiner Tasche nach einem Kugelschreiber und zog einen zusammengefalteten Brief aus der Brusttasche seines Hemdes, überprüfte schnell einige Zeilen und schrieb dann auf den Rand des Briefes mit großen Buchstaben den Namen des Sengguhu. Der Mann schaute darauf und schwieg. Sie nahmen schon an, dass er vielleicht nicht lesen könne oder seine Augen zu schwach waren, das Geschriebene zu erkennen. Dann stand er auf, ging in das Haus und kam mit einer sauberen, aus einem Schreibblock herausgerissenen Seite, wieder hinaus. Mit
einer Verbeugung und einer Geste bat er um den Kugelschreiber und schrieb mit ungelenker Hand in noch größeren Buchstaben als die, die der Professor geschrieben hatte, ebenfalls einen Namen, tippte mit dem Finger darauf und nannte den Namen des Ortes. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und lächelte sie an, wobei er eine lückenhafte Zahnreihe freilegte. Mit mehreren Verbeugungen bedankten sich Carla und der Professor. Carla war inzwischen genauso geübt darin wie der Professor. Jetzt mussten sie einen Fahrer finden, der sie mit seinem Auto zu ihrem endgültigen Ziel bringen sollte.
„Das ist ganz eindeutig der Name eines Mannes, der uns Auskunft geben kann“,
sagte der Professor.
„Und der Ort ist derselbe, den auch mein Freund in seinem Brief erwähnt hat. Wir sind auf dem richtigen Weg.“
„Aber warum sagt er uns nicht gleich, wo genau wir den Sengguhu finden können?“, murmelte Carla vor sich hin.
„Egal“, setzte sie dann etwas lauter fort.
"Wir haben jedenfalls den ersten konkreten Hinweis.“
Endlich waren sie wieder auf der etwas belebteren Straße, in der sie ihre Suche begonnen hatten. Sie hielten Ausschau nach einem parkenden Auto, in dem der Besitzer saß, und vielleicht auf Fahrgäste wartete. Doch bevor sie ihre Umgebung richtig in Augenschein nehmen konnten, sprach ein mit
einem dunkelroten Sarong und einem weißen Hemd bekleideter junger Mann sie an und fragte, ob sie einen Fahrer benötigten. Froh, dass dieses Problem so schnell gelöst war, folgten sie ihm zu einem erstaunlich gut erhaltenen und gepflegten Wagen. Er stand vor einem Laden, in dem Reis- und Strohhüte, Korbwaren und einfache Holzschnitzarbeiten angeboten wurden. Der Professor bat den Fahrer fünf Minuten zu warten, da er im Laden noch etwas kaufen wollte. Während der Professor in den Laden trat und sich nach einem passenden Strohhut umsah, nutzte Carla die Gelegenheit in dem daneben befindlichen Restaurant nach einer Toilette zu fragen. Freundlich wies man ihr den Weg auf den
Hof. Sie hatte zwar keine polierten Fliesen oder chromblitzende Armaturen erwartet, doch der Bretterverschlag, dessen Tür sie zögernd öffnete, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Zum Glück hatte sie Erfrischungstücher in der Tasche, denn Wasser gab es nicht. Es bedurfte akrobatischen Geschicks sich auf den beiden Brettern zu platzieren, zwischen denen der Eimer stand. Während ihrer Bemühungen eine Position zu finden ohne die Bretter ins Rutschen zu bringen, wurde die Tür, die keinen Riegel hatte, von einem kleinen Jungen aufgerissen, der ihr mit einer höflichen Verbeugung eine Rolle Toilettenpapier reichte. Als sie dem Professor davon erzählte lächelte er amüsiert.
„Da haben wir Männer es einfacher. Aber hier ist das für Frauen auch kein Problem. Ein einsames Plätzchen hinter einem Busch genügt den Frauen schon. Und niemand nimmt daran Anstoß. Sie hatten noch Glück, Carla. In abgelegenen Dörfern gibt es oftmals gar keine Toilette und schon gar kein fließendes Wasser aus einer Wasserleitung. Ein Brunnen versorgt das ganze Dorf. Fließt ein Fluss oder ein Bach in der Nähe, wird er abends aufgesucht, um Körperpflege zu betreiben.“
Geduldig hatte der Fahrer auf sie gewartet und öffnete ihnen die Wagentüren. Der Professor hatte seinen neuen Strohhut schon aufgesetzt und ließ sich etwas erschöpft auf dem Rücksitz nieder. Besorgt
schaute Carla ihn an, aber er winkte lächelnd ab.
„Es geht schon“, beruhigte er sie.
„Die Sonne brennt heute besonders heiß. Ich muss nur meinen Kopf etwas schützen.“
Carla gab ihm recht. Auch sie fand es heute außergewöhnlich warm. Sie zeigte auf einen Laden und bat den Fahrer dort kurz zu halten. Schnell flitzte sie hinein und kaufte zwei Flaschen Mineralwasser. Eine davon gab sie dem Professor und rutschte dann in die Ecke der Rückbank, darauf hoffend, dass sie bald am Ziel sein würden.
Die Straße, die sie befuhren, nachdem sie Medewi verlassen hatten, war von Schlaglöchern durchzogen und glich mehr einem etwas breiteren Schotterweg. Wieder
kamen sie nur langsam vorwärts. Doch sie waren dankbar, dass der Fahrer durch seine geschickte Fahrweise versuchte, das Durchrütteln seiner Fahrgäste zu vermeiden. Nach knapp zwanzig Minuten hatten sie das Dorf erreicht. Als Carla den Fahrer bezahlte den Preis hatte sie schon ausgehandelt, bevor sie in das Auto stiegen, bot er an, auf sie zu warten, damit er sie nach Medewi zurück fahren konnte. Der Professor und Carla lehnten dankend ab. Sie wussten ja nicht wie viel Zeit sie hier benötigen würden. Dem verwunderten Blick des Fahrers entnahmen beide, dass er sich wohl fragte, was sie in diesem kleinen unscheinbaren Ort wollten. Etwas beklommen sah Carla dem sich entfernenden Auto nach. Schon der
erste Blick genügte, um zu erkennen, dass es hier schwierig sein würde, einen Fahrer mit Auto für die Rückfahrt zu finden. Überschaubar reihten sich die Häuser fast kreisförmig um einen großen Platz in dessen Mitte ein Banyanbaum stand. Auf der einzigen Straße, die durch das Dorf führte standen zwei Droschken. Die dazugehörigen Pferde waren jedoch nirgends zu sehen. Man hatte sie wahrscheinlich irgendwo in den Schatten gebracht. Einige Mopeds standen am Straßenrand. Ein paar Kinder spielten auf der Straße. Ansonsten wirkte das Dorf wie ausgestorben. Einen größeren Kontrast zu Medewi konnte man sich kaum vorstellen. Wege zwischen den Häusern führten zu einer Reihe weiterer Gebäude, von denen Carla
nicht hätte sagen können, ob sie auch Wohnzwecken dienten. Ein wunderbarer Duft, nicht verfälscht durch andere Gerüche, zog in Carlas Nase. Unverkennbar waren Gewürznelkenbäume in der Nähe.
Das große Blatt Papier in der Hand, auf dem der Name des Mannes stand, der ihnen vielleicht würde helfen können, steuerte der Professor auf die Kinder zu. Carla folgte ihm und sofort waren sie von diesen umringt. Sie mussten mehrmals den Namen des Mannes wiederholen, bevor ihnen ein größerer Junge zu verstehen gab, dass sie ihm folgen sollten. Das Haus, zu dem er sie führte, lag fast am Ende des Dorfes, direkt an der Straße und unterschied sich von den anderen Häusern nur durch eine größere
Eingangstür. Er rief etwas durch die geöffnete Tür und sofort erschien ein Mann im Türrahmen, der etwas erstaunt den Professor und Carla ansah. Nach der üblichen höflichen Begrüßung, mehreren Verbeugungen und lobenden Worten über die Sauberkeit des Dorfes, die tatsächlich auffallend war, trug der Professor seinen Wunsch vor, den Sengguhu aufsuchen zu wollen. Korrigierte sich aber dann, und wies darauf hin, dass es eigentlich Carla war, die den Sengguhu zu sprechen wünschte. Der Junge, der immer noch neben ihnen stand, verfolgte aufmerksam das Gespräch. Doch Carla bezweifelte, dass er etwas verstand. Erst als der Mann einige Worte zu ihm sagte, drehte er sich um und verschwand hinter der
nächsten Hausecke. Eine etwas rundliche Frau war aus dem Haus getreten - von der Carla annahm, dass sie die Ehefrau des Mannes war - die neugierig das Geschehen beobachtete, aber wie es schien, kein Wort verstand. Nachdem der Mann ihr offenbar eine Erklärung gab, grüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und verschwand wieder im Haus.
Dass der Mann sie jedenfalls verstand, ließ Carla aufatmen.
„Sie werden den Sengguhu finden“, sagte der Mann zu Carla.
„Aber zuerst seien Sie bitte meine Gäste“, wandte er sich dann an beide.
Überrascht folgten Carla und der Professor dem Mann ins Haus, nicht ohne vorher ihre
Schuhe auszuziehen. Sie betraten einen Raum, der nur durch das hereinfallende Sonnenlicht der geöffneten Tür erhellt wurde. Er bot Platz für eine zweisitzige Rattanbank, zwei Stühle aus dem gleichen Material und einen Resopaltisch. Ganz offensichtlich das Wohnzimmer, dachte Carla. Ihr Bad in Berlin war größer. Die Bank stand an der Rückseite eines großen Schrankes, der als Raumteiler fungierte. Hinter dem Schrank hörte Carla Geschirr klappern und emsiges Rumoren, was sie annehmen ließ, dass sich dort der Küchenbereich befand. Kaum hatten sie sich gesetzt, kam ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren und brachte ihnen eine Schüssel mit kaltem Wasser und ein Tuch. Der Professor, wie von Carla erwartet, mit den Sitten
vertraut, tauchte seine Hände ins Wasser und rieb sie dann mit dem Tuch trocken. Kaum war Carla seinem Beispiel gefolgt, brachte die Frau drei mit einer klaren etwas wässrig aussehenden Suppe gefüllte Tassen. Auf dem Tassengrund versuchten sich drei grüne Erbsen zu verstecken. Anschließend stellte sie eine Schale, die mit Reis gefüllt war, auf den Tisch. Jeder bekam noch eine kleine Holzschale mit einem winzigen Holzlöffel. Dann verschwand die Frau wieder hinter dem Schrank. Ihr Gastgeber forderte sie auf die Suppe zu essen, was Carla sehr gerne tat, denn außer ihrem Frühstück hatte sie heute nichts gegessen. Dem Professor ging es offenbar ebenso. Carla bedauerte, den Professor nicht wenigstens zu einem
kleinen Imbiss in Medewi eingeladen zu haben.
Die Suppe war kalt, was nicht ungewöhnlich für die hiesige Küche war, schmeckte aber vorzüglich. Aus was sie letztlich bestand konnte Carla nicht ergründen. Kaum waren die Tassen gelehrt, wurden sie von der Frau geholt, und erneut gefüllt wieder auf den Tisch gestellt.
„Jetzt müssen sie einen Anstandsrest in der Tasse lassen“, gab ihr der Professor leise einen Hinweis.
So unauffällig, wie es ihr möglich war, hatte Carla ihren Gastgeber betrachtet. Sie schätzte ihn zwischen vierzig und fünfzig Jahre. Gern hätte sie ihm einige Fragen gestellt, aber das Essen wurde schweigend
eingenommen.
Der Mann sagte etwas in Bahasa zu seiner Frau, die sofort mit einem größeren Löffel hinter dem Schrank hervorkam. Nun löffelte er Reis aus der größeren und gab ihn in die vor ihm stehende kleine Schale. Mit den Fingern entnahm er dieser kleine Portionen und schob sie langsam in den Mund. Seinen kleinen Löffel beachtete er nicht. Carla und der Professor folgten auch jetzt seiner Aufforderung und taten es ihm gleich. Dabei hätte Carla am liebsten ihre linke Hand festgebunden, damit sie nicht versehentlich mit dieser in die Schale griff. Das hatte sie irgendwo gelesen, dass die linke Hand beim Essen keine Speisen berühren durfte. Die Höflichkeit gebot es, nur mit der rechten die
Speisen zu berühren, da die linke Hand als unrein galt.
Carla bemerkte, dass der Professor sie heimlich beobachtete und dann fast unmerklich mit dem Kopf nickte. Offenbar machte sie alles richtig.
Carla hatte Mühe nach dem Essen ihre Ungeduld zu zügeln, da weder der Professor noch ihr Gastgeber erkennen ließen, dass sie ein Gespräch führen wollten. Beide saßen zurückgelehnt auf ihren Plätzen, wirkten entspannt und demonstrierten Zufriedenheit. Endlich stand der Professor auf, bedankte sich wortreich für das schmackhafte Essen, nicht ohne seinem Bedauern Ausdruck zu geben, dass er kein Geschenk für den Gastgeber hatte. Nachdem
auch Carla sich bedankt hatte, bat der Professor, ihnen den Aufenthalt des Sengguhu mitzuteilen.
„Einen Moment“, sagte der Mann und verließ das Haus. Nach wenigen Minuten kam er mit dem Jungen, der sie hergeführt hatte, zurück.
„Er zeigt Ihnen den Weg.“
Mit erneuten Verbeugungen verabschiedeten sich Carla und der Professor.
Die Fragen, die Carla auf der Zunge lagen, wurden nicht gestellt. Doch eines wusste sie. Ohne den Professor wäre sie nicht so weit gekommen.
Ohne sich zu ihnen umzusehen lief der Junge vor ihnen und führte sie aus dem Dorf hinaus. Sie betraten einen staubigen Weg, an
dessen Seiten Gewürznelkenbäume standen. Dann kamen sie an einen Trampelpfad, an dem der Junge stehen blieb. Mit der Hand deutete er den Pfad entlang, verabschiedete sich und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Der Professor berührte Carla am Arm.
„Jetzt müssen Sie allein weitergehen, Carla.“
Sie glaubte sich verhört zu haben. Sie konnte doch nicht mit dem Sengguhu allein sprechen. Sie würde alles falsch machen. Vollkommen entmutigt lehnte sie sich an einen Baum.
„Es geht nicht anders. Sie wollen die Hilfe des Priesters erbitten. Also können auch nur Sie ihn aufsuchen und mit ihm sprechen. An
diese Regeln müssen wir uns halten.“
„Und wenn er kein Englisch spricht“, versuchte sie, wohlwissend, dass diese Begründung fadenscheinig war, den Professor zu bewegen, sie doch zu begleiten.
„Dann könnte ich Ihnen auch nicht helfen“, antwortete er.
„Aber haben Sie keine Sorge. Er wird Sie verstehen.“
Er gab ihr noch einige Hinweise und sagte ihr dann, dass er sich einen schattigen Platz unter einem Baum suchen und dort auf sie warten würde.
Der Pfad, den Carla zögernd betrat, schlängelte sich durch hohes trockenes Gras. Dazwischen wuchs hier und da eine Aloe. In größeren Abständen standen auch
hier Gewürznelkenbäume. Wenn sie nicht gerade in den Schatten dieser Bäume trat, brannte die Sonne auf sie herunter. Mit dem Handrücken wischte sie über ihre Stirn. Schweißperlen hatten sich auf ihr gebildet. Nach zehn Minuten blieb sie unter einem Baum kurz stehen. Sie trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und ließ ihren Blick prüfend umherschweifen. Dann trat sie wieder in die erbarmungslose Sonne. Jetzt führte der Pfad durch Bambussträucher, die einen ungehinderten Blick nicht mehr zuließen. Etwas entfernt sah Carla die Krone eines sehr großen Baumes und beschloss, dort eine kurze Pause einzulegen. Wieder änderte der Pfad die Richtung und gab den Blick auf den Baum frei.
Dann sah sie den Sengguhu.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013