Der UrlaUB
22. Kapitel
Charlotte lag zwei Wochen im Krankenhaus in Bremen. Man hatte sie unter starke Beruhigungsmittel gesetzt. Ihre Umgebung nahm sie nur wie durch einen Schleier wahr. Marion kam jeden Tag und besuchte sie. Sie wartete bis Heinz von der Arbeit nach Hause kam, damit sie Carla nicht mitnehmen musste, und war deshalb meistens erst am frühen Abend bei Charlotte. Wenn sie ihre Schwester in diesem elenden Zustand sah, war es ihr unmöglich ihre Tränen zurückzuhalten. Als Charlotte das an einem
Tag bemerkte, an dem sie in einer schmerzhaft wachen Verfassung war, wusste sie, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Entweder sie kämpfte sich in die Realität zurück oder sie ließ sich fallen mit einem immer währenden Nebel im Gehirn, um dann irgendwann in der Psychiatrie zu landen. Dann hätte Cora gewonnen. Sie entschied sich für die erste der beiden Möglichkeiten.
Heinz holte sie vom Krankenhaus ab und bemühte sich krampfhaft jede Bemerkung, die auf das Vergangene hindeuten konnte, zu vermeiden. Im Augenblick war sie ihm dankbar dafür, aber schon morgen würde sie mit Marion und Heinz über vieles reden müssen. Sie brauchte deren Hilfe. Allein
würde sie es nicht schaffen. Franks Beerdigung musste organisiert werden. Noch war er in der Gerichtsmedizin. Sie brauchte schnell eine eigene Wohnung, auch wenn Marion ihr angeboten hatte, so lange, wie nötig, bei ihr zu wohnen. Mit der Versicherung musste Kontakt aufgenommen werden. Es war viel zu tun.
Marion wartete schon auf dem Treppenabsatz. Ungeduldig hatte sie am Fenster nach dem Auto Ausschau gehalten. Sie führte Charlotte ins Kinderzimmer, das sie für sie hergerichtet hatte. Carla würde im Schlafzimmer bei ihren Eltern schlafen, wo auch ein großer Teil ihrer Spielsachen jetzt untergebracht war.
„Hier wirst du erst einmal wohnen“, sagte
sie und nahm Charlotte in den Arm.
„Alles andere wird sich finden.“
„Du lässt dir bei allem Zeit. Erst einmal musst du richtig gesund werden.“
Aber schon am nächsten Tag beim Frühstück durchforstete Charlotte die Wohnungsanzeigen in der Zeitung. Das tat sie jeden Morgen und nach einer Woche hatte sie die passende Wohnung gefunden. Nicht gerade in einer Gegend, die ihr zusagte, doch das spielte keine entscheidende Rolle. Wichtig war, dass sie die Miete auch bezahlen konnte.
Ihre finanzielle Situation konnte sie gegenwärtig noch nicht überblicken. Leider konnte sie erst in sechs Wochen dort einziehen. Außerdem war es sowieso nur eine
Übergangslösung, aber das sagte sie Marion nicht. Sie würde Bremen verlassen.
Charlotte war sehr erleichtert, dass sie Marion nicht für einen noch längeren Zeitraum zur Last fallen würde.
Ein Tag, vor dem ihr graute, lag noch vor ihr. Franks Beerdigung. Wissend, dass sie Franks Grab nicht würde pflegen können, hatte sie sich für eine Seebestattung entschieden. Sie schwor sich, wo sie auch sein würde, an seinem Todestag würde sie ihm eine Blume bringen. Irgendein Fluss, ein See, möglicherweise ein Gebirgsbach, würde in der Nähe sein, an den sie fahren und eine Rose ins Wasser werfen könnte.
Es war nicht einfach die Seebestattung zu organisieren. Weil Charlotte sich nicht für
Bremerhaven - den Vorschlag hatten Franks Eltern gemacht - sondern für Travemünde entschieden hatte, dauerten die Formalitäten etwas länger. Nach drei Wochen hatte sie diesen gefürchteten Tag überstanden. An diesem Morgen musste sie zu einem Beruhigungsmittel greifen. Das hatte sie nicht getan seitdem sie das Krankenhaus verlassen hatte. Auf einen Redner hatte sie verzichtet. Sie wollte sich mit ihren Worten von Frank verabschieden. Es kostete sie Überwindung, für Cora einige Worte des Gedenkens zu sprechen. Aber Marion und Heinz hätten überhaupt nicht verstanden und erst recht nicht Franks Eltern, wenn Cora von ihr nicht erwähnt worden wäre. Am Tag nach der Beerdigung spülte sie die restlichen
Tabletten, die sie noch hatte, abends in der Toilette runter.
Einige Tage später bekam sie die niederschmetternde Nachricht von der Versicherung, dass das Haus unterversichert war. Die ihr zustehende Versicherungssumme war so niedrig, dass sie kaum die Kosten für den Abriss der Brandruine deckten.
Charlotte wusste, dass sie für diesen Fehler selbst verantwortlich waren. Als sie das Haus bezogen hatten, schlossen sie sofort eine Gebäudeversicherung ab. Der Versicherungsvertreter, der sich zu diesem Zeitpunkt das Haus angesehen hatte, schüttelte nur den Kopf und meinte, wenn ein Erdbeben käme, würden sie wenigstens die Abrisskosten sparen. Dem entsprechend
gering war die Versicherungssumme. Nachdem das Dach fertig war hatten sie zwar die Versicherungssumme erhöht, danach eine Anpassung immer wieder verschoben, weil Frank der Meinung war, dass erst nach Fertigstellung des Hauses eine endgültige Erhöhung sinnvoll wäre. Doch es dauerte Jahre bis sie mit dem Haus fertig waren. Und dann hatten sie es einfach vergessen. Bei der nächsten Zahlung des Beitrages wäre es ihnen schon aufgefallen. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr.
Die Brandruine und den Carport ließ Charlotte abreißen. Den Geräteschuppen, dessen eine Wand rußgeschwärzt war, ließ sie auf Wunsch des Bauern, der das Grundstück kaufen wollte, stehen. Er
bewirtschaftete die umliegenden Felder. Vielleicht wollte er Mais auf ihrem ehemaligen Rosenbeet anbauen. Bevor der Carport abgerissen wurde, verkaufte sie noch Franks Auto.
Das war das letzte Mal, dass sie an diesem Ort war.
Vom Erlös des Grundstückverkaufs, der Versicherungssumme für den Hausstand und dem Geld, das sie für das Auto bekommen hatte, konnte sie sich Möbel für ihre neue Wohnung kaufen und es blieb sogar ein Polster auf dem Konto. Ein viertel Jahr nachdem sie ihre kleine Wohnung bezogen hatte, starb Franks Mutter. Sie legte sich abends, ohne Anzeichen einer Krankheit, zum Schlafen ins Bett und wachte nicht mehr
auf. Drei Tage später bekam Franks Vater einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Er starb nach einem Jahr im Pflegeheim. Der schreckliche Tod ihres einzigen Sohnes und der Enkeltochter war wohl zu viel für die alten Leute.
Charlotte arbeitete wieder im Kaufhaus. Neun, manchmal zehn Stunden am Tag. Was sollte sie allein in ihrer Wohnung. Wenn das Wetter es erlaubte, machte sie lange Spaziergänge, obwohl die Gegend, in der sie wohnte, nichts Sehenswertes bot. Nach einiger Zeit wusste sie wer eine neue Gardine am Fenster hatte, dass der junge Mann, der im ersten Stock eines Hauses in einer der kleinen Nebenstraßen wohnte, und eine Zigarette am offenen Fenster rauchte,
offenbar nur zu diesem Zweck seine Vorhänge aufzog. Sie bemerkte wer eine neue Grünpflanze im Fenster zu stehen hatte, und dass die Frau mit den tiefschwarz gefärbten Haaren wieder ihre Fenster putzen wollte, da die geschmacklosen Nippesfiguren, die immer auf dem Fensterbrett standen, weggeräumt waren.
An den Wochenenden hätte sie größere Ausflüge unternehmen können. Aber dazu fehlte ihr noch die Kraft.
Zu Marion fuhr sie selten. Zwei Wochen bevor sie bei Marion ausgezogen war - sie spielte gerade mit Carla - durchfuhr sie ein so glühend heißer Schmerz, dass ihr die Magictafel, auf der sie bunte Tiere für Carla hervorgezaubert hatte, aus der Hand fiel.
Erschrocken zog sie Carla an sich. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass das die falsche Reaktion war. Der Schmerz wurde noch schlimmer. Als sie leise aufschrie, fing Carla zu weinen an. Und doch war es ein anderes Empfinden, wie sie es in Coras Nähe verspürte. Es schmerzte zwar - doch empfand sie keine Angst.
Marion bat sie, wenigstens an den Wochenenden zu ihr zu kommen.
Mit der Ausrede, dass sie die ganze Woche bis spät abends arbeiten würde, dann bräuchte sie das Wochenende zur Erholung, meinte Charlotte, eine glaubwürdige Entschuldigung gefunden zu haben, die Einladungen nicht annehmen zu müssen.
Zwei Jahre später zog sie nach München.
Später als sie geplant hatte. Vom Norden in den Süden. Dort fühlte sie sich immer fremd. München war ihr zu laut und die Mentalität der Menschen entsprach so gar nicht dem ruhigen und manchmal sogar etwas rauem Wesen der Menschen, die bisher zu ihrem Umfeld gehörten. Aber sie hatte eine gut bezahlte Arbeit und sie war, wie sie hoffte, weit genug weg von Carla.
Hier tat sie allerdings das, wozu sie sich in Bremen nicht aufraffen konnte. Sie fuhr an den Wochenenden in die nähere Umgebung von München, manchmal sogar etwas weiter. Sie kannte inzwischen Bad Tölz, bewunderte die Lüftlmalerei in Oberammergau und bestaunte die Olympiaschanze in Garmisch- Partenkirchen. An einem Sonnabend, als sie
am Staffelsee saß und auf das sich ihr bietende Panorama schaute, beschloss sie, in ihrem nächsten Urlaub an den Achensee zu fahren. Sie war noch nie in Österreich gewesen. Und die Berge mochte sie inzwischen.
„Und dort haben wir uns kennengelernt“, beendete der Professor seine Erzählung.
Carla hatte gespannt den Worten des Professors gelauscht und dachte noch über das eben Gehörte nach, als der Professor weitersprach.
„Es war nicht leicht gewesen Charlottes Vertrauen zu gewinnen, obwohl sie immer das Gegenteil behauptet hat. Meine vielen Reisen standen einer dauerhaften Beziehung immer im Wege. Aber mit Charlotte hatte ich
jemanden kennengelernt, der meine Arbeit in den Hintergrund drängte.“
„Als Charlotte Ihnen das erste Mal von Cora erzählte haben Sie ihr sofort geglaubt?“, fragte Carla.
„Ja“, antwortete er, ohne eine weitere Erklärung zu geben.
„Ein Jahr später zog Charlotte zu mir nach Wien und jetzt leben wir schon zwölf Jahre auf Madeira und das gedenken wir auch weiterhin zu tun.“
Gerne hätte Carla gefragt, ob Charlotte doch noch glücklich geworden ist. Aber das wäre wohl zu persönlich gewesen. Außerdem hätte diese Frage nur aus der Sicht des Professors beantwortet werden können.
In diesem Moment betraten die Holländer das
Restaurant. Sie blieben am Eingang stehen und blickten in ihre Richtung. Einen Augenblick befürchtete Carla, dass sie an ihren Tisch kommen würden. Ihr war einfach nicht danach eine oberflächliche Konversation zu führen, auch wenn sie vielleicht nur kurz gewesen wäre. Die beiden nickten jedoch nur kurz mit dem Kopf in ihre Richtung und wählten dann einen Tisch in ihrer Nähe. Der Professor blickte ihnen unauffällig hinterher.
„Sie ist eine beeindruckende Erscheinung.“
Carla sah ihn an und lächelte amüsiert.
„Ich bin zwar alt, meine Hüfte schmerzt hin und wieder, auch die Beine streiken öfter, als mir lieb ist, aber meine Augen funktionieren noch recht gut.“
Sie sah wirklich phantastisch aus. Der leuchtendblaue mit silbernen Fäden durchwirkte Sari, den sie trug, passte zu ihr, als ob er nur für sie gemacht worden wäre. Dazu trug sie flache silberne Sandalen und eine passende Clutch. Mut gehörte schon dazu, ein so landestypisches Gewand, das vornehmlich Inderinnen trugen, als Europäerin mit solcher Selbstverständlichkeit zu tragen. Doch als die Frau mit herablassender Gebärde die Speisekarte von der zierlichen Balinesin entgegennahm, hatte sie die Pluspunkte, die sie gerade bei Carla gesammelt hatte, gleich wieder verloren.
Als Carla wieder den Professor ansah, bemerkte sie seinen angespannten und
besorgten Blick. Sie wusste, was ihn bewegte. Noch bevor sie ihm sagen konnte, wie froh sie war, dass er hier war, wie dankbar sie ihm für seine Fürsorge war, fragte er:
„Was werden Sie tun, Carla? Nehmen Sie meine Hilfe an? Haben Sie erkannt welches Ziel Cora verfolgt? Ihr Leben ist in Gefahr!“
Dass diese Fragen kommen mussten, hatte Carla gewusst. Doch jetzt, da sie ausgesprochen waren, wurde ihr deren schwerwiegende Bedeutung erst richtig klar. Jede Faser ihres Körpers spürte diese Gefahr, aber sie wehrte sich immer noch zu glauben, das etwas mit dem Verstand nicht Greifbares, diese Gefahr bedeutete. Unsicher knetete sie ihre Finger und
erwiderte dann etwas kleinlaut:
„Wie sieht denn die Hilfe aus? Brauchen wir einen Zauberstab?“
Sie entschuldigte sich sofort für diese alberne Frage und griff über den Tisch nach der Hand des Professors. Begütigend legte er seine andere Hand auf ihre und nickte dann entschlossen mit dem Kopf.
„Wir werden alles tun, was mein Freund aus Jakarta mir geraten hat. Morgen machen wir uns auf die Suche nach einem Sengguhu. Die Zeit wird knapp.“
Als Carla ihn verständnislos ansah, erklärte er ihr, dass ein Sengguhu ein Priester sei, der die Dämonen der Unterwelt bekämpft.
„Sein besonderes Verhältnis zu Vishnu, dem Bewahrer oder Gott des Lebens, der ihm
die dafür notwendigen Fähigkeiten verliehen hat, gibt ihm die Kraft, gegen das Böse anzutreten. Davon sind die Hindus überzeugt.“
Er erzählte ihr auch, dass Charlotte, als sie von Carlas Absicht nach Lombok zu reisen, erfuhr, sofort wusste, in welcher Gefahr sie schwebte. Darauf hatte Cora gewartet. Charlotte hatte immer befürchtet, dass Carla nach Afrika, Südamerika oder in die Karibik in den Urlaub fahren würde. Länder in denen noch immer heidnische Rituale praktiziert werden. Wenn Marion ihr dann berichtet hatte, dass Carla wieder einmal an die Nordsee gefahren war, beruhigte sie das ungemein. Selbst Carlas Australienreise rief keine unguten Gefühle in ihr wach. Aber als
Charlotte Indonesien hörte, schrillten ihre Alarmglocken. So bezeichnete es der Professor zumindest. Er hatte sofort seinen Freund, einen Altphilologen, der an der Universitas Indonesia tätig ist, angerufen, und ihm kurz geschildert worum es ging. Dieser war selbst Anhänger des Hinduismus, gehörte der Kaste der Brahmanen an und war sofort bereit gewesen, zu helfen. Seitdem standen sie in regelmäßigem Kontakt. Die nach dem ersten Gespräch folgende Fülle von Briefen und Faxschreiben, die zunächst in Berlin und dann hier auf Bali eintrafen, gaben zwar wertvolle Hinweise, bezogen sich aber auf das von Charlotte Erlebte. Erst an diesem Vormittag, nachdem Carla dem Professor von ihren Begegnungen mit Cora
und den anderen merkwürdigen Dingen berichtet hatte, konnte er seinem Freund etwas über die gegenwärtige Situation sagen.
„Während Sie Charlottes Brief lasen, habe ich mit ihm telefoniert. Er hat mir den Namen des Priesters mitgeteilt. Es wird nicht leicht sein, diesen Sengguhu zu finden. Diese Priester leben sehr zurückgezogen. Wir müssen morgen nach dem Frühstück aufbrechen.“
In Carlas Kopf kreisten die Gedanken wie in einem Karussell. Charlotte hatte vor langer Zeit auch in Erwägung gezogen zu einem Geistlichen zu gehen. Es ist nie dazu gekommen. Jetzt stand sie vor einer ähnlichen Situation. Was sollte sie nur tun? Nervös schob sie die Kerze, die auf dem Tisch
stand, etwas zur Seite. Doch schon nach kurzer Zeit schob sie sie auf den vorigen Platz zurück.
„Wir treffen uns morgen nach dem Frühstück am Hoteleingang“, sagte sie.
„Hoffentlich habe ich bis dahin meine Gedanken etwas geordnet.“
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013