Der Urlaub
21. Kapitel
Es war fast dunkel geworden. Auf dem Tisch lagen mehrere eng beschriebene Seiten, die von Carlas Kaffeetasse beschwert wurden, damit sie nicht davonfliegen konnten. Trotzdem waren, ohne dass sie es bemerkt hatte, einige Seiten hinunter geweht und hatten sich im Geäst eines Strauches verfangen. Ein leichter Wind war aufgekommen, der jedoch keine Abkühlung brachte. Carla konnte nicht sagen, ob der Tag so warm gewesen war, oder ihr beim Lesen des Briefes warm geworden war. Einige
Seiten hielt sie noch in der Hand. Sie blickte erneut auf die letzten Zeilen, in denen Charlotte sie inständig bat, sich von Imre helfen zu lassen und seinen Ratschlägen Folge zu leisten. Immer wieder griff sie zu dieser oder jener Seite, um die offenbar mit zittriger Hand geschriebenen Zeilen, noch einmal zu lesen.
Meine liebe Carla, las sie, meine Schwester hat die Tochter bekommen, die ich mir gewünscht habe ...
Die Gefühle, die Carla durchströmten, bewegten sich zwischen Mitgefühl, Trauer, Ungläubigkeit, aber vor allem Entsetzen. Wie konnte ihre Tante jahrelang mit dem Wissen leben, dass ihre Tochter mit Fähigkeiten ausgestattet war, die nur Unheil
hervorbrachten? Sich niemandem anvertrauen, noch nicht einmal andeutungsweise.
„Aus Angst“, beantwortete sie sich ihre Frage sofort selbst.
„Angst davor, für verrückt erklärt zu werden“.
Hatte sie selbst sich denn bisher jemandem anvertraut, hinsichtlich ihrer vorausschauenden Fähigkeiten? Noch nicht einmal mit Simone hatte sie darüber gesprochen. Zum ersten Mal akzeptierte sie diese, wenn auch ungeliebte Gabe.
Passagen des Briefes, die sie besonders aufgewühlt hatten, hatte sie dem Professor erzählt. Seine zustimmenden Worte bestätigten das Gelesene. Er wusste
Bescheid.
Sie legte die zuletzt gelesenen Seiten zu denen, die schon auf dem Tisch lagen und stand auf. Nachdem sie die Seiten am Strauch aufgesammelt hatte, lief sie ein paar Schritte auf und ab. Sie musste sich bewegen. Doch ihre Beine wollten ihr einfach nicht gehorchen. Ihre hölzernen Bewegungen wurden jedoch von ihrer innerlichen Verkrampfung übertroffen.
Der Professor hatte sich diskret zurückgezogen und sortierte offenbar die Unterlagen, die Carla auf seinem Bett liegen gesehen hatte. Ein Blick durch die offene Terrassentür bestätigte ihre Vermutung.
„Gibt es so etwas?“
Es war ihr gar nicht bewusst, dass sie die
Worte laut gesprochen hatte. Auch die Gedanken, die durch ihren Kopf wie vom Wind getriebene Blätter wirbelten, machten sich in geflüsterten Worten Luft:
„Ein abgrundtief böses Kind - oder war es dämonisch - mit erkennbar telekinetischen Fähigkeiten ... - vielleicht sah Charlotte jetzt im Alter und in der Erinnerung an das Unglück, das sie getroffen hatte, alles wie in einem verzerrten Spiegel. Nein, das tat Charlotte nicht, war sie sich sicher.
Und warum habe ich Cora gesehen? Mehrmals. Sie ist jetzt achtundzwanzig Jahre tot. Habe ich vielleicht frühkindliche Erinnerungen? So etwas soll es ja geben. Unsinn! Ich war noch nicht einmal zwei Jahre alt, als Cora ums Leben kam. Außerdem kann
ich meinen Augen trauen.“
Sie blickte auf ihre geröteten Hände, die den Beweis lieferten, dass das gestrige Erlebnis real war. Wieder überflutete sie Angst. Ein Gefühl, das sie viel zu oft in letzter Zeit verspürte.
Der Professor war zu ihr getreten und berührte leicht ihren Arm. Schweigend gingen sie zum Tisch und setzten sich wieder. Er machte keine Anstalten das unterbrochene Gespräch fortzusetzen. Geduldig wartete er bis Carla sich soweit gesammelt hatte, bis sie selbst die ersten Worte fand.
„Das ist furchtbar, was Charlotte durchleben musste. Aber was hat das alles mit dem zu tun, was mir hier widerfahren ist?“
Dann setzte sie leise hinzu:
„Eigentlich seitdem ich diese Reise angetreten habe. Nein, schon viel früher - als dieser Wunsch nach Indonesien zu reisen, fast übermächtig wurde."
„Was glauben Sie?“, erwiderte der Professor.
„Ich weiß es nicht.“
Sie stand wieder auf um ein paar Schritte zu gehen. Als sie sich setzte stellte sie die Frage, die ihr schon während sie den Brief von Charlotte gelesen hatte, immer wieder durch den Kopf gegangen war.
„Warum haben meine Eltern mir nie erzählt, dass ich eine Cousine hatte, die mit ihrem Vater bei einem Brand ums Leben gekommen ist?“
„Diese Frage lässt sich am kürzesten beantworten“, erwiderte der Professor.
„Sie waren an ein Versprechen gebunden. Nach Franks Beerdigung, beschwor Charlotte ihre Eltern, nie wieder Coras Namen zu erwähnen, ganz besonders Ihnen gegenüber nicht, Carla. Auch wie Frank ums Leben gekommen ist, sollten sie nie wieder erwähnen.“ Nachdenklich blickte der Professor vor sich hin. Dann setzte er fort:
„Ihre Eltern haben das Versprechen gehalten. Sie sind davon ausgegangen, dass Charlotte niemals mehr im Leben auf das Vergangene angesprochen werden wollte, auch nicht zufällig von jemandem, der über das Geschehene Bescheid wusste, da die Erinnerungen zu schmerzlich für sie waren.
Der eigentliche Grund, ihre Eltern um dieses Versprechen zu bitten, war, dass Charlotte glaubte, wenn sie Cora aus dem Gedächtnis der Menschen verbannen konnte, die sie kannten, und demzufolge keine Gespräche mehr über sie stattfanden, Cora keine Angriffspunkte mehr haben würde.“
Seufzend lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sagte leise:
„Aber sie hatte sich geirrt. Sogar die örtliche Trennung von den Menschen, die ihr soviel bedeuteten, und dass sie die Verbindung zu Marion nur auf wenige Telefonate beschränkte, konnten Cora nicht täuschen. Jetzt ist sie hier. Auf dieser Insel der Götter und Dämonen wird sie ihre Kraft und ihre Macht einsetzen. Gegen Sie, Carla.
Cora mochte nie Kinder. Besonders nicht, wenn diese außerordentlich geliebt wurden. Und Sie, Carla, wurden geliebt. Als Sie noch ein Kind waren, kam Cora unbeobachtet nicht an Sie heran. Immer stellte sich Charlotte schützend dazwischen. Das versetzte Cora zwar in unbändige Wut, trotzdem hätte sie niemals Charlotte getötet, denn sie war das Bindeglied zu Ihnen. Charlotte zu peinigen, ihr Schmerzen zuzufügen, sie zu ängstigen, bereitete ihr einfach Freude. Und ob Frank wirklich sterben sollte, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Ihr Ziel war, die Reise auf diese griechische Insel zu verhindern. Denn noch mehr als Kinder, hasste sie das Wasser. Vielleicht war etwas außer Kontrolle geraten.“
Carla hatte ihm fassungslos zugehört.
„Herr Professor, wollen Sie mir sagen, dass Coras Geist oder was auch immer, hier auf der Insel ist? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Sie sind Wissenschaftler. Für Sie zählen Beweise, keine phantastischen Vermutungen.“
„Welche Beweise wollen Sie noch, Carla?“
„Wenn die Wissenschaftler nicht immer wieder vor Unerklärlichem und Unbekanntem stehen würden, hätten sie nichts mehr zu erforschen. Vielleicht hat sich Cora auch in Ihnen manifestiert als Sie noch sehr klein waren." Der Professor zögerte bevor er weitersprach.
"Nur Sie haben Cora bisher gesehen - und sie wird versuchen sie zu Handlungen zu
zwingen, die Sie das Leben kosten könnten. Es wird darauf ankommen, wer stärker ist."
Ungläubig blickte Carla auf den Professor.
"Wollen Sie damit sagen, ich sei schizophren?"
"Das wäre viel zu einfach", seufzte der Professor.
"Es besteht eine Verbindung zwischen Ihnen und Cora. Welcher Art auch immer."
Carla war wieder aufgestanden. Sie erinnerte sich an den Silvesterabend vor zehn Jahren. Überall auf der Welt wurde der Beginn des neuen Jahrtausends gefeiert. Selbst ihr Vater hatte sich überreden lassen auf eine große Silvesterparty zu gehen. Onkel Rolle wollte mitkommen und ein befreundeter Kollege ihres Vaters mit seiner Familie. In Torsten,
den älteren seiner beiden Söhne, war sie damals ein bisschen verknallt gewesen. Zwei Tage vor dem Jahreswechsel hatte ihr Vater eine schlimme Grippe bekommen. Einen Tag später war sie selbst krank geworden. Am Silvestertag hatte ihr Vater im Bett, sie in eine Decke gewickelt im Wohnzimmer auf der Couch gelegen und frustriert durch die Fernsehprogramme gezappt. Ihre Mutter hatte Punsch gemacht.
„Wir müssen doch wenigstens anstoßen", hatte sie gesagt.
Doch weder ihr noch ihrem Vater hatte der Sinn nach Alkoholischem gestanden. Also hatten sie das neue Jahr mit Pfefferminztee begrüßt. Ihre Mutter jedoch hatte den ganzen Abend dem Punsch mehr zugesprochen als
sie gewohnt war. Sie hatte sie in die Arme genommen und gesagt :
„Alles Gute im neuen Jahr, meine Carla. Niemals soll dir etwas Schlimmes widerfahren. Es ist furchtbar, wenn das eigene Kind leiden muss oder man es sogar verliert.“
Die Wahl der Worte hatte sie auf die Weinseligkeit ihrer Mutter zurückgeführt. Heute bekamen diese Worte eine bestürzende Bedeutung.
Carla war aufgewühlt. Die irrwitzigsten Gedanken schossen durch ihren Kopf. Vielleicht war sie in einem nicht enden wollenden Albtraum und würde hoffentlich endlich aufwachen. Eine leichte Berührung am Arm ließ sie zusammenzucken. Der
Professor war ebenfalls aufgestanden und neben sie getreten.
„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber einen Rat möchte ich Ihnen noch geben. Vertrauen Sie auf Ihre Empfindungen. Glauben Sie das, was Sie gesehen haben. Die zerbrochenen Gläser. Sie waren Warnungen. Sie haben sich nicht an ihnen verletzt. Sie empfanden nur Verwunderung. Die Begegnungen mit Cora, die Verbrennungen und die unerklärlichen Hitzeeinwirkungen jedoch lösten Angst aus. Und Angst ist ein Signal für Gefahr. Sie sehen viel mehr, als Ihre Augen wahrnehmen, Carla. Blicken Sie tief in sich hinein.“
Er zögerte bevor er fortsetzte:
„Versuchen Sie, sich an Ihre Träume zu erinnern.“
Bei den letzten Worten des Professors wurde Carla mit sie in Erstaunen versetzender Deutlichkeit bewusst, dass sie hier noch nicht einmal geträumt hatte. Und noch etwas geisterte durch ihren Kopf - noch nicht fassbar, nicht ausgereift. Sie blickte auf den
Professor. Er hatte sich wieder gesetzt. Carla sah den erschöpften Ausdruck auf seinem Gesicht. Wieder fiel ihr die fast durchscheinende Blässe auf. Er tat ihr leid und spontan sagte sie:
„Herr Professor, wir hatten beide einen emotional anstrengenden Tag. Was halten Sie davon, wenn wir ins Hotelrestaurant gehen und uns ein richtig gutes Abendessen
gönnen?“
Tatsächlich hatte sie weder Hunger noch Appetit.
„Ich mache mich etwas frisch und hole Sie dann in einer Stunde wieder ab.“
„Es ist noch vieles unausgesprochen, so viel zu erklären“, erwiderte er zögernd.
„Die Zeit läuft uns davon. Aber vielleicht haben Sie recht. Wir brauchen beide eine Pause.“
Carla legte die Seiten von Charlottes Brief zusammen und steckte sie mit Coras Bild in den großen Umschlag. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrer Villa, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und dem Professor zuzuwinken.
Als sie aus dem kleinen Lichtkegel der
Außenbeleuchtung des Lanais trat - der Professor hatte sie schon vor geraumer Weile eingeschaltet - umfing sie Dunkelheit. Doch ihre Augen gewöhnten sich schnell an die veränderte Situation. Mit wenigen schnellen Schritten überquerte sie die kleine Rasenfläche und betrat den Seitenweg, den kleine Lampen ausreichend erhellten. Erst als sie den Hauptweg betrat, ging sie langsamer, darauf bedacht, den großen Fackeln nicht zu nahe zu kommen. Je näher sie der Villa kam, desto lauter hörte sie wieder das Meer. In der etwas abgeschiedenen Region des Hotelparks, in der der Professor wohnte, war es kaum zu hören gewesen.
Die Beleuchtung an der Pforte zum Innenhof
war eingeschaltet. Im Innenhof aber war es dunkel. Nur ein diffuser Lichtschein drang durch die zugezogenen Vorhänge an der Schiebetür. Das Personal hatte das Licht einer kleinen Lampe brennen lassen, frische Handtücher bereitgelegt und das Bett schon aufgedeckt. Eine Annehmlichkeit, die Carla zu schätzen gelernt hatte, denn das Aufdecken des Bettes war mit einer akrobatischen Leistung verbunden. Zum einen war die Überdecke aus sehr schwerem Stoff und in kunstvollen Drapierungen über das Bett gelegt und demzufolge sehr groß, zum anderen musste man erst auf die Stufe steigen, die sich um das Bett zog und aufs Bett klettern. Erst dann hätte sie die Decke zusammenraffen können. Es war eine sehr
umständliche Angelegenheit.
Carla legte den prall gefüllten Umschlag auf den Tisch. Eigentlich hätte sie sich jetzt gern noch einmal mit dem Inhalt des Briefes von Charlotte befasst. Doch sie hatte dem Professor versprochen, ihn zu der zwischen ihnen vereinbarten Zeit abzuholen. Und sie wollte pünktlich sein. Als sie die Terrassentür öffnete, wehte ihr eine frische Brise entgegen. Das Tosen des Meeres wirkte sofort beruhigend auf sie. Wenn es den ganzen Tag so unruhig gewesen war, konnten die Koglers wieder nicht ins Wasser gehen, dachte sie. Was sollte sie ihnen überhaupt sagen? Am Morgen ging es ihr noch so schlecht, und trotzdem war sie den ganzen Tag beim Professor gewesen. Die
beiden hatten eine Erklärung verdient. Am besten die Wahrheit, zumindest einen Teil davon. Und das würde sie sofort tun - und zwar persönlich.
Sie schloss die Terrassentür wieder und eilte zu den Koglers, deren Villa ja in unmittelbarer Nähe lag. Die Pforte war nicht verschlossen, trotzdem klingelte Carla, betrat aber sofort den Innenhof. Frau Kogler stand schon in der geöffneten Tür der Villa und kam ihr entgegen. Herr Kogler kam ihr in ein Badetuch gewickelt hinterher.
„Wo waren Sie denn, Frau Bern?“, rief sie etwas aufgeregt.
„Waren Sie die ganze Zeit beim Professor?“
„Und vor allen Dingen, wie geht es
Ihnen?“, setzte Herr Kogler hinzu.
„Mir geht es wieder gut“, beruhigte sie die beiden.
Wenn es doch nur so wäre, dachte Carla.
Dann berichtete sie, dass der Professor und sie entfernt verwandt seien. Sie waren zufällig bei ihrer Unterhaltung darauf gestoßen. Das hatte natürlich ausgiebigen Gesprächsstoff gegeben.
„Siehst du, Marcus, ich sage ja immer, die Welt ist ein Dorf“, sagte Frau Kogler zu ihrem Mann.
„Das freut mich aber“, wandte sie sich dann an Carla.
„Dass sich das zufällig herausgestellt hat, ist ja fast ein Glücksfall. Es hätte ja auch sein können, dass Sie beide wieder nach Hause
geflogen wären, ohne dass Sie es erfahren hätten.“
Diese Gefahr hat wohl nie bestanden, dachte Carla bitter.
„Jetzt wollen wir noch gemeinsam im Hotelrestaurant etwas essen, denn es gibt immer noch viel zu erzählen.“
„Wir wollen auch ...“, sagte Herr Kogler, wurde aber von seiner Frau unterbrochen indem sie fortsetzte
„... in das neue Restaurant, das gestern in unmittelbarer Nähe des Hotels eröffnet hat, essen gehen.“
Carla verabschiedete sich und als sie fast an der Pforte war, rief ihr Frau Kogler hinterher.
„Wir fahren morgen nach Denpasar.“
„Was unternehmen Sie morgen?“
Carla antwortete wahrheitsgetreu, dass sie das noch nicht wisse.
Wieder zurück in ihrer Villa, öffnete Carla erneut die Terrassentür und setzte sich auf die Terrasse. Sie blickte in die Dunkelheit und lauschte dem Tosen des Meeres. Natürlich war ihr aufgefallen, dass Frau Kogler den begonnenen Satz ihres Mannes in eine andere Richtung gelenkt hatte. Die beiden hatten bestimmt auch ins Hotelrestaurant gehen wollen. Frau Kogler befürchtete sicher, dass sie heute stören würden. Carla war ihr dankbar für diese Rücksichtnahme. Sie kniff die Augen zusammen und sah angestrengt zum Strand, der sich ein wenig heller, von der sie umgebenden Finsternis abzeichnete.
Schemenhaft waren dort einige Schatten zu erkennen, die sich in eine Richtung bewegten. Die Hunde hatten ihren abendlichen Spaziergang begonnen.
Sie sehnte sich danach, von ihrer Mutter in den Arm genommen zu werden, sie sehnte sich nach ihren Freunden, nach ihrer kleinen gemütlichen Wohnung und sogar nach der unfreundlichen Kassiererin im Drogeriemarkt. Sie sehnte sich einfach nach Normalität.
Bedauernd, dass sie nicht länger sitzen bleiben und noch einmal in Ruhe über alles nachdenken konnte, stand sie auf, nahm schnell eine Dusche und zog sich an. Eine leichte Bluse und ein passender Rock waren nicht unbedingt das passende Outfit für ein Abendessen im Hotelrestaurant, aber mehr
Sorgfalt für ihre Garderobe konnte sie heute einfach nicht aufbringen. Ihr Haar bekam an diesem Tag nicht die gewohnte Pflege. Ein kurzes Bürsten, ein Haarband, mit dem es im Nacken zusammengebunden wurde, war der ganze Aufwand, der ihm zuteil wurde. Sie griff nach der Tasche, nicht ohne den Umschlag vom Tisch zu nehmen und ihn hineinzustecken, schloss die Terrassentür, löschte das Licht und machte sich auf den Weg zum Professor. Die Außenbeleuchtung der Villa hatte sie schon eingeschaltet, als sie zu den Koglers gegangen war.
Obwohl mehr Gäste als bei ihrem ersten Besuch im Restaurant waren, fanden Carla und der Professor einen Tisch, der sich direkt an der offenen Seite des Raumes
befand. Der warme Wind, der hineinwehte, verursachte zwar ein leichtes Flackern der Kerze, die auf dem Tisch stand, störte aber nicht weiter. Carla blickte hinaus auf den Hauptweg. Auch die Fackeln loderten vom Wind bewegt hin und her. Die kleine Bar auf der anderen Seite des Weges war noch leer. Der Barkeeper war mit dem Polieren von Gläsern beschäftigt. Es war wohl noch zu früh für Gäste. Als der Kellner den Teller hinstellte und der leckere Duft des Lamms im Kräutermantel in ihre Nase drang, merkte sie doch, wie hungrig sie war. Dem Professor schien es ähnlich zu gehen. Er hatte sich für Hühnerfleisch in Rahmsoße entschieden. Die Fülle von Kräutern und Gewürzen verbreitete einen Duft, der sie ihr Essen mit
unerwartetem Appetit verzehren ließen. Einer stillschweigenden Übereinkunft folgend, schnitten beide das sie so bewegende Thema während des Essens nicht an. Erst als der Professor mit einem bedauernden Blick die Reste auf seinem Teller betrachtete, der offenbar etwas zu üppig gefüllt gewesen war, sich zurücklehnte und Carla aufforderte, die sie noch bewegenden Fragen zu stellen, knüpfte sie an das vormals unterbrochene Gespräch an.
„Charlotte hat in ihrem Brief über einen langen Zeitraum ihres Lebens berichtet, aber nichts über die Zeit nach diesem entsetzlichen Ereignis. Hat sie nicht wenigstens dann einmal versucht sich ihrer Schwester anzuvertrauen?“
„Nein, warum sollte sie. Sie hatte den Menschen verloren, den sie am meisten geliebt hatte, sie hatte kein Heim mehr, ihre bisherige Welt war zusammengebrochen. Warum sollte sie Marion eine Geschichte erzählen, die diese nicht glauben würde. Vor allem zu einer Zeit, in der ihre Nerven vollkommen zerrüttet waren, so dass wiederum die Gefahr bestand, dass ihr gegenwärtiger Gemütszustand für diese Geschichte als Ursache gesehen werden konnte.“
Carla schob ihren Teller zur Seite, beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorn, legte ihre Unterarme, so gar nicht den guten Manieren folgend, auf den Tisch, und sah den Professor abwartend an. Er erwiderte ihren
Blick und nickte dann mit dem Kopf.
„Der Rest ist schnell erzählt“, sagte er.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013