19. Kapitel
Der Winter, der in diesem Jahr ungewöhnlich lange auf sich warten ließ, hatte sich doch noch entschlossen vorbeizukommen. Er kam in der Nacht vor Carlas erstem Geburtstag. Ein Blick aus dem Fenster am darauffolgenden Morgen genügte Frank, um zu erkennen, dass sie mit dem Auto nirgendwohin fahren konnten.
„Nun sieh´ dir das an“, rief er.
„Wir haben Glück, dass heute Sonnabend ist. Ich weiß nicht wie wir zur Arbeit und Cora in die Schule hätten kommen sollen. So viel
Schnee hatten wir noch nie seit wir hier wohnen. Das Gartentor muss ich erst frei schaufeln, sonst können wir es gar nicht öffnen.“
„Wir fahren aber trotzdem zu Carlas Geburtstag“, sagte Cora, die neben ihm stand.
Charlotte hielt die Luft an. Es war absolut nicht das Wetter bei dem Cora gern das Haus verließ.
„Wir werden sehen, wie die Situation am Nachmittag ist“, erwiderte Frank ausweichend.
„Notfalls können wir auch morgen gratulieren fahren.“
Es schneite fast den ganzen Tag.
Der leichte Wind ließ die Flocken tanzen und die schon vorhandenen Schneeverwehungen
an einigen Stellen auf mehr als einen halben Meter anwachsen. Erst am Abend hatten sich die Schneewolken verzogen. Doch in der Nacht setzte neuer Schneefall ein.
Die Schneebeseitigung erfolgte vorrangig auf den großen Straßen. Die Rundumleuchten der Räumfahrzeuge waren immer wieder in der Ferne zu sehen.
Endlich, am späten Sonntagnachmittag wurde ihre kleine Zufahrtstraße soweit geräumt, dass sie wenigstens von einem Auto befahren werden konnte. Man durfte nur nicht aus der Spur kommen. Ein Festfahren im zur Seite geschobenen Schnee wäre unvermeidlich. Würden sich zwei Autos entgegenkommen - ein Umstand der selten eintrat - müsste eines
zurücksetzen.
Schon am Sonnabend hatte Charlotte mit Marion telefoniert. Am Sonntag sagte sie den Besuch endgültig ab. Marion bekräftigte diese Entscheidung, weil die Verkehrssituation in Bremen ebenfalls katastrophal war. Cora kochte vor Wut. Aber das spürte, wie immer, nur Charlotte. Frank gegenüber erwähnte sie immer wieder, wie traurig sie sei, nicht zum Geburtstag ihrer Cousine fahren zu können. Natürlich wusste Cora, dass es unmöglich gewesen war, an diesen beiden Tagen mit dem Auto irgendwohin zu fahren. Sie hatte aber gehofft, nachdem ihre kleine Straße wieder befahrbar war, dass Frank, obwohl es schon recht spät war, doch noch nach Bremen
fahren würde.
Charlotte beobachtete Cora, die immer wieder bittend auf ihren Vater einredete. Cora, die Kälte, Eis und Schnee hasste und im Winter nur das Haus verließ, wenn es notwendig war, vergaß ihre Vorsicht und bedrängte Frank dermaßen, dass er schließlich ungehalten wurde und sie zurechtwies.
Cora drehte sich um und lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Erst zum Abendessen kam sie wieder hinunter. Gleich danach wollte sie schlafen gehen.
Frank ging in den Garten und schaufelte die Ausfahrt vom Carport frei. Die Außenlampe am Carport spendete nur spärliches Licht, so dass er immer wieder kontrollieren musste, ob
der weggeschaufelte Schnee nicht an anderer Stelle ein Hindernis darstellte.
„So das reicht für dieses Wochenende“, sagte er, als er nach einiger Zeit wieder das Haus betrat.
„Schau dir die Schneeberge rechts und links des Weges an. Wenn es weiter schneit, muss ich den Schnee mit der Schubkarre aufs Feld fahren.“
Während er sich die kalten Hände am Heizkörper wärmte, fragte er Charlotte, ob Cora eine neue Lampe in ihrem Zimmer hätte. Als Charlotte erstaunt den Kopf schüttelte, sagte er:
„Aus ihrem Fenster schien ein merkwürdiges Licht. Aber vielleicht habe ich mich auch geirrt.“
Dann schaute er in die Teekanne, die zu seinem Bedauern schon leer war, ging zum Herd und setzte den Wasserkessel auf.
„Ein heißer Tee wird mir jetzt gut tun“, meinte er.
In der Nacht wurde Charlotte wach.
Sie wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Dann spürte sie die Wärme im Zimmer. Ein leichter Schweißfilm bedeckte ihren ganzen Körper. Sie tastete nach dem Schalter der kleinen Lampe auf dem Nachttisch und stieß dabei den vorsintflutlichen Wecker um, der mit einem scheppernden Geräusch auf dem Teppichläufer landete. Als das Licht brannte, blickte sie zu Frank hinüber, der durch die entstandene Unruhe wach geworden war.
Seine Bettdecke war auf den Boden gerutscht. Vielleicht hatte er sie aber auch im Schlaf zur Seite geschoben, weil ihm warm war. Er blinzelte Charlotte verwirrt an.
„Es ist so warm im Zimmer“, sagte sie.
„Das ist doch nicht normal.“
Jetzt war Frank richtig wach.
„Ja, du hast recht“, erwiderte er und sprang aus dem Bett.
Prüfend legte er die Hand an den Heizkörper. Er war kalt. Wie fast immer. Im Schlafzimmer wurde kaum geheizt. Nur wenn strenger Dauerfrost herrschte, aktivierte Frank die Nachtfrostheizung.
„Was bedeutet denn das?“, murmelte er.
Auch Charlotte war inzwischen aufgestanden. Sie hob den Wecker auf, der ein Erbstück von
Franks Oma war, und stellte ihn wieder auf den Nachttisch. Unbeirrt tickte er weiter. Es war drei Uhr. Beide betraten den Flur, der genauso warm war, wie das Schlafzimmer.
Aufgeregt lief Frank die Treppe hinunter, um die anderen Räume zu kontrollieren. Charlotte betrat Coras Zimmer und prallte zurück. Sie hatte eine merkwürdige Hitze in diesem Zimmer schon öfter erlebt, aber was ihr jetzt entgegenschlug nahm ihr den Atem. Im Dunkeln tastete sie sich zu Coras Schreibtisch und knipste die darauf stehende Lampe an. Sie blickte zu Cora, die im Schlaf heftig das Gesicht verzog. Ihre Augenlider zuckten. Was mochte Cora träumen, dachte Charlotte. Oder träumte sie überhaupt? Dann ging sie zum Fenster, um es weit zu
öffnen. Sofort trieb der Wind feine Flocken ins Zimmer. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Einen Augenblick blieb Charlotte am Fenster stehen und atmete die kalte Luft ein. Cora bewegte sich unruhig im Bett. Leise schloss Charlotte das Fenster soweit, dass ein kleiner Spalt offen blieb, aber kein Schnee mehr ins Zimmer treiben konnte.
Bevor sie zu Frank hinunterging überprüfte sie noch den Heizkörper. Auch er war kalt.
Frank hatte inzwischen die anderen Räume inspiziert. Alle Heizkörper waren kalt.
„Es scheint alles in Ordnung zu sein“, sagte er ratlos.
„Vielleicht hat sich die Tagheizung später abgeschaltet, als sonst. In zwei Stunden müsste sie sich wieder einschalten.
Wo kommt denn nur diese verflixte Wärme her? Das ist ja kaum auszuhalten. Ich werde vorsichtshalber doch in den Heizungskeller gehen und mir die Anlage ansehen.“
Charlotte öffnete währenddessen alle Fenster. Es war ihr im Augenblick egal, dass der Schnee hinein stob. Sie wollte nur frische Luft und etwas Abkühlung im Haus.
Sie hatte sich in der Küche gerade ein Glas Wasser eingegossen, als sie Frank die Kellertreppe hochkommen hörte. Als er jedoch nach einiger Zeit immer noch nicht die Küche betreten hatte, ging sie nachsehen, was ihn davon abgehalten hatte. Er war gerade dabei ein kleines Heizungsrohr, das im Flur unter der Treppe verlief zu kontrollieren.
„Es ist alles so, wie es sein soll“, sagte er als er fertig war und richtete sich auf.
„Trotzdem werde ich morgen eine Firma beauftragen, die komplette Anlage zu überprüfen.“
Charlotte machte sich ihre eigenen Gedanken. Die Firma würde auch nur feststellen, dass mit der Heizungsanlage alles in Ordnung war.
Im Haus hatte es sich inzwischen etwas abgekühlt, so dass Charlotte die Fenster bis auf einen kleinen Spalt wieder schließen konnte. Als endlich beide wieder ins Bett gingen, war es vier Uhr. In zwei Stunden würde der Wecker klingeln. Kaum hatte Frank die Bettdecke über sich gezogen, war er auch schon eingeschlafen. Charlotte wälzte
sich von einer Seite auf die andere. Ihre Gedanken kreisten um Cora.
Auf den Wecker war Verlass. Schrill meldete er sich um sechs Uhr zu Wort. Charlotte war in einen unruhigen Halbschlaf verfallen und schreckte hoch. Auch Franks erste Worte nach dem Wachwerden entbehrten einem gepflegten Konversationsstil. Während er im Bad war, bereitete Charlotte das Frühstück vor. Dann schloss sie alle Fenster im Haus. Zuletzt ging sie in Coras Zimmer um sie zu wecken. Sie war schon wach und saß auf dem Bett. Das Fenster hatte sie schon geschlossen.
„Es ist alles wie es sein soll“, sagte Frank als er die Küche betrat. Er hatte erneut die
Heizkörper kontrolliert. Sie waren inzwischen warm.
„Die Heizung hat sich pünktlich eingeschaltet. Und die Temperatur im Haus ist auch normal.“
Charlotte wollte dieses Thema jetzt nicht ausweiten, zumal Cora gerade in die Küche gekommen war, und nickte nur mit dem Kopf.
„Und du beeilst dich ein bisschen“, wandte er sich an Cora.
„Du fährst nicht mit dem Bus zur Schule. Möglicherweise gibt es heute Probleme mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich bringe dich zur Schule.“
„Und ich hole sie nach Arbeitsschluss ab“, sagte Charlotte und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein, in der Hoffnung, dass er
ihre Lebensgeister etwas mobilisieren würde.
Das Frühstück wurde an diesem Morgen schnell beendet. Charlotte begleitete Frank und Cora zur Haustür - auch um zu sehen, wie viel Schnee in der Nacht noch gefallen war. Im Schein der Außenbeleuchtung am Haus sah sie Franks Fußspuren, die sich im Schnee abzeichneten. Eine knapp drei Zentimeter dicke Schneedecke lag auf dem am Vortag frei geschaufelten Weg. Cora stand noch im Türrahmen und blickte böse auf die Schneemassen im Garten. Ein kalter Wind streifte Charlotte. Fröstelnd zog sie ihre Jacke vor der Brust zusammen. Das Außenthermometer neben der Tür zeigte sieben Grad unter Null.
„Komm´ Cora“, rief Frank ungeduldig.
„Wir werden heute für die Fahrt etwas mehr Zeit brauchen.“
Zögernd verließ Cora das Haus. Auch sie hinterließ ihre Spuren im Schnee. Doch ihre Schritte hinterließen dunkle Flecken. Wo sie ihre kleinen Füße hingesetzt hatte, war der Schnee geschmolzen. Charlotte blickte ihr entsetzt hinterher. Sie schloss die Tür und lehnte sich im Flur zitternd an die Wand.
Der Winter hielt sich nicht sehr lange auf und machte einem kühlen und verregneten Frühling Platz. Das war ein Grund, warum Marion ihre für diese Jahreszeit geplanten Besuche bei Charlotte immer wieder verschob. Ein weiterer Grund war, dass Marion und Heinz sich mit
Umzugsvorbereitungen befassten. In sechs Wochen wollten sie in eine größere Wohnung ziehen. Charlotte waren diese Umstände außerordentlich recht. So fuhr sie, wie bisher, einmal in der Woche, wenn Cora in der Arbeitsgruppe war, auf einen kurzen Besuch bei Marion vorbei. Zuhause beim Abendessen berichtete sie dann, was es Neues gab. Natürlich berichtete sie auch von Carla. Sie freute sich über deren Fortschritte, erwähnte, wie drollig sie jetzt sei, und Marion ganz schön auf Trab hielt. Immer dann schob Cora ihren Teller beiseite, stand auf und verließ die Küche.
„Sie ist traurig, dass sie Carla nicht auch sehen kann“, meinte Frank einmal, als sie wieder von ihrem Besuch erzählte.
„Du musst sie einmal mitnehmen.“
Dabei wäre Cora durchaus in der Lage gewesen, allein zu Marion zu fahren. Darüber waren Charlotte und Frank sich im Klaren. Aber diesbezüglich hatte Frank ein striktes Verbot ausgesprochen. Heimlich zu fahren wagte Cora nicht. Sie wusste, dass Marion aus Sorge um Cora, sofort Frank oder Charlotte informieren würde. Und für Frank wollte sie immer die liebe Tochter sein, dachte Charlotte bitter.
„Das ist schwierig“, erwiderte Charlotte.
„Ich muss dann erst von der Arbeit nach Hause fahren um Cora abzuholen. Dann wieder zurück nach Bremen. Das wird zu spät.“
Sie merkte selbst, wie abweisend sie reagiert
hatte und fuhr einlenkend fort:
„Wir können ja am Wochenende alle zusammen zu Marion fahren. Dann können wir gleich absprechen, wie wir beim Umzug helfen können."
Am Sonnabend nach dem Frühstück brachen alle auf. Vor dem Besuch bei Marion wollten sie noch einen Einkaufsbummel machen. Charlotte kaufte bunte Bausteine für Carla, die Cora ihr schenken sollte. Sie bummelten durch die Sögestraße und Charlotte genoss es, von ihren ständig um Cora kreisenden Gedanken abgelenkt zu werden. Am liebsten wäre Frank noch ins Cafe Knigge gegangen. Doch Charlotte drängte, dass sie jetzt zu Marion fahren sollten.
Vor dem Haus stand das Motorrad von Rolle. Er war Heinz bester Freund. Die beiden kannten sich schon aus Kindertagen. Charlotte und Frank hatten Rolle, eigentlich Roland König, schon bei mehreren Gelegenheiten gesehen. Er war nicht verheiratet und lebte in einer Einzimmerwohnung, die nur das Nötigste an Einrichtungsgegenständen enthielt, aber blitzblank gehalten wurde, wie Heinz ihnen erzählt hatte.
Seine große Liebe war sein Motorrad. Jede freie Minute nutzte er zu ausgiebigen Fahrten. An den Wochenenden schwang er sich auf sein Gefährt und fuhr einfach los. Meistens war er selbst überrascht, wo er dann landete. Er kannte jeden Winkel
Deutschlands. Seinen Urlaub nutzte er ausschließlich dazu, vielen Ländern Europas einen Besuch abzustatten. Äußerlich bediente er das Klischee eines Motorradfreaks. Lange schwarze Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, ein sorgfältig geschnittener Vollbart und der obligatorische Ohrring. Von Montag bis Samstag allerdings ging er einer recht bürgerlichen Tätigkeit als Filialleiter eines Elektronikmarktes nach. Frank bezeichnete ihn als komischen, aber ungemein sympathischen Kauz.
„Kommt ´rein, Rolle ist auch da“, sagte Heinz, als er ihnen die Tür öffnete.
„Wir haben sein Motorrad schon gesehen“, erwiderte Frank.
Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und Charlotte konnte vom Flur sehen, wie Rolle mit Carla schäkerte, die sich gerade am Tischbein hochzog. Cora flitzte ins Zimmer und sofort fing Carla zu weinen an. Als Cora sich ihr näherte, um ihr die Bausteine zu geben, artete ihr Weinen in ein fast hysterisches Schreien aus. Alle waren erschrocken. Carla ließ sich auch nicht beruhigen, obwohl Marion sie auf den Arm genommen hatte.
Rolle verabschiedete sich nach kurzer Zeit und beim Hinausgehen sagte er leise etwas zu Heinz, der ihn zur Tür begleitete. Charlotte sah, dass Heinz verwundert die Augenbrauen hochzog, ihm aber dann lachend auf die Schulter klopfte. Marion, die mit Carla kurz in
der Küche gewesen war, weil sie glaubte, sie dort beruhigen zu können, betrat wieder das Wohnzimmer. Carlas Gesicht war inzwischen puterrot vom Weinen und Marion wurde langsam nervös, da sie keine Erklärung für deren Verhalten fand. Außerdem geisterte ihr noch die Bemerkung von Rolle im Kopf herum. Heinz hatte ihr in der Küche davon erzählt.
„Deine kleine Nichte ist mir unheimlich“, hatte er gesagt.
„Rolle spinnt“, hatte sie nur geantwortet.
„Erzähl´ das nur nicht Charlotte“, hatte sie ihm noch zugeflüstert.
Auch Charlotte und Frank dehnten ihren Besuch nicht mehr lange aus. Über die angebotene Hilfe beim bevorstehenden
Umzug freuten sich Heinz und Marion. Sie konnten sie gebrauchen. Absprachen dazu wollten sie telefonisch treffen. Als sich Charlotte verabschiedete, stand für sie fest, dass sie alles vermeiden würde, was ein weiteres Zusammentreffen der Kinder bedeuten würde. Carla hatte Angst vor Cora. Charlotte wusste, dass ihr das nicht gelingen konnte, ohne den Kontakt zu ihrer Schwester zu minimieren. Die Traurigkeit, die sie bei diesem Gedanken überfiel, bereitete ihr fast körperliche Schmerzen.
Auf jeden Fall würde sie nach ihren Besuchen bei Marion nicht mehr von Carla berichten. Jedenfalls nicht in Coras Beisein.
Eine Woche später brachte Heinz mit einem Transporter, den er sich in seiner Werkstatt
ausgeliehen hatte, die Palme, die Charlotte sich während des Einkaufsbummels in einem Blumenladen ausgesucht hatte. Ungeachtet Marions Warnung, erzählte er Charlotte, was Rolle zu ihm gesagt hatte. Er dachte Charlotte würde genauso darüber lachen, wie er selbst.
Charlotte lachte nicht.
Anfang April fiel die Entscheidung, dass Cora nicht auf eine andere Schule gehen würde. Frank hatte die zwei Schulen, die für Cora in Frage gekommen wären, angeschrieben und um Informationsmaterial gebeten. Beide Schulen nahmen Kinder erst ab dem zwölften Lebensjahr auf. Frank ärgerte sich, dass die Direktorin von Coras Schule diese Hinweise
nicht schon in den stattgefundenen Gesprächen gegeben hatte.
Gegenwärtig zog die Schule doch in Erwägung, Cora nochmals eine Klassenstufe überspringen zu lassen. Die übergeordnete Schulbehörde, deren Zustimmung erforderlich war, hatte sich dazu noch nicht geäußert.
Cora nahm diese Entscheidung auf, wie es von ihr erwartet wurde. Wie es von Frank erwartet wurde. Sie freute sich, dass sie nun nicht von zuhause weg musste. Ebenso angepasst hatte sie reagiert, als Frank und Charlotte mit ihr über einen möglichen Schulwechsel gesprochen hatten. Trauer, Tränen, schluchzend gestammelte Worte, dass sie dann allein sein und Heimweh
bekommen würde, verfehlten nicht ihre Wirkung auf Frank. Was wäre passiert, wenn alle Voraussetzungen für einen Schulwechsel gegeben gewesen wären, fragte sich Charlotte.
Die Besuche bei ihrer Schwester erwähnte Charlotte nicht mehr in Coras Gegenwart. Erst wenn sie mit Frank abends allein im Wohnzimmer oder im Wintergarten saß - Cora war in ihrem Zimmer und las eines ihrer vielen Bücher, manchmal schlief sie auch schon - erzählte sie das Neueste. Und trotzdem schien Cora zu wissen, wenn Charlotte bei Carla war. An diesen Tagen verbreitete sich eine spannungsgeladene Atmosphäre im Haus, die Frank ungewöhnlich reizbar machte und Charlotte
mit Hitzeschüben überrollte. Das steigerte sich noch seit dem Tag, an dem Charlotte und Frank ihre Urlaubsreise buchten.
Charlotte hatte einen Tag frei genommen. Mittags wollte sie sich mit Frank in Bremen treffen, um dann gemeinsam ein Reisebüro, das ihr von einer Kollegin empfohlen worden war, aufzusuchen. Anschließend wollten sie in ein nettes Cafe gehen und dann gemeinsam Cora von der Arbeitsgruppe abholen. Bevor sie Frank treffen würde, wollte sie noch zu Marion fahren und ihr die Kleidungsstücke von Cora bringen, die sie vor Jahren auf den Speicher gebracht hatte. Am Vorabend hatte sie sich die Sachen noch einmal angesehen. Es waren gute Sachen.
Sie mussten nur noch einmal kurz gewaschen
werden. Marion würde sich freuen. Der Umzug und die neue Wohnung hatten ein schönes Loch in ihre Haushaltskasse gerissen. Vor kurzer Zeit hatte Marion erwähnt, dass sie Carla auch in den Kindergarten geben wollte, wenn sie drei Jahre alt war. Es war ihr wichtig, dass Carla Kontakt zu anderen Kindern hatte, aber genauso wichtig war, dass sie wieder arbeiten gehen konnte, um ihr Haushaltsbudget etwas aufzubessern.
Charlotte hatte den Karton mit den Sachen abends in den Flur gestellt und wollte ihn später noch in den Kofferraum ihres Autos bringen, damit Cora ihn am nächsten Morgen nicht sah. Aber es war so ein schöner Abend gewesen, den sie bei einem Glas Wein mit
Frank verbracht hatte, dass sie es einfach vergessen hatte. Sie hatten im Wintergarten gesessen und Reisekataloge gewälzt. Über das Umfeld ihres Reisezieles waren sie sich absolut einig. Ein ruhiges kleines Hotel, eine reizvolle Landschaft und vor allen Dingen keinen Touristenrummel. Für Griechenland hatten sie sich schon vor fast einem Jahr entschieden.
Als Cora am nächsten Morgen den Karton sah, verlor sie kein Wort über ihn. Nach dem Frühstück griff sie ihre Schulmappe und verließ wortlos das Haus. Eine Überraschung war dieser Abschied für Charlotte nicht. Und einen Abschiedskuss bekam sie sowieso nur, wenn Frank dabei war. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Im gleichen
Augenblick hörte Charlotte ein lautes Klirren. Sie lief ins Wohnzimmer, konnte jedoch nichts entdecken. Als sie den Wintergarten betrat, konnte sie kaum fassen, was sie sah. Die Glasplatte des Tisches lag in mehrere Teile zerbrochen auf den Bodenfliesen. Dazwischen lagen die Scherben der Keramikschale, die auf dem Tisch gestanden hatte. Cora gab sich nicht mehr mit Gläsern, Vasen oder Glaskrügen zufrieden. Es gab natürlich auch nicht mehr viel von diesen, nachdem Charlotte zu Keramikartikeln gewechselt hatte. Was würde Frank dazu sagen? Charlotte konnte, nachdem sie es aufgegeben hatte ihn auf bestimmte Eigenheiten Coras hinzuweisen, nun nicht sagen:
„Das war Cora!“
Während sie im Wintergarten die Scherben beseitigte, kreisten immer wieder die gleichen Gedanken in ihrem Kopf. Ich muss mit jemandem reden. Aber mit wem? Zu einem Psychologen brauchte sie nicht zu gehen. Der würde sie nach ihren Erzählungen wahrscheinlich sofort in die Psychiatrie einweisen. Und sollte er sich Cora wirklich ansehen, würde er ein überdurchschnittlich intelligentes, liebenswertes und hübsches Kind kennenlernen. Das würde ihn in seiner Meinung über Charlotte zusätzlich bestärken. Zudem war sie sich sicher, dass Cora genau wusste, in welcher Lage sich Charlotte befand. Zum ersten Mal dachte Charlotte daran einen Geistlichen aufzusuchen.
Eigentlich sträubte sich alles in ihr dagegen. Sie gehörte keiner Konfession an und hatte eine recht distanzierte Haltung zur Institution Kirche. Das hatte jedoch nichts damit zu tun, dass sie gläubige Menschen nicht achtete oder respektierte. Sie erinnerte sich noch gut daran - sie war sieben Jahre alt - als ihr Großvater zur Großmutter sagte:
„Mit dem lieben Gott kannst du auch zuhause reden. Dazu brauchst du keinen Pfarrer und keine Kirche.“
Diese Worte hatten sich ihr eingeprägt, obwohl sie diese damals nicht verstand. Oder vielleicht gerade deswegen.
Vier Jahre später - ihr Vater hatte beschlossen sich ohne Frau und Töchter, Marion war gerade zwei Jahre alt, ein anderes
Leben aufzubauen - hatte ihr Großvater zu ihrer Mutter gesagt:
„Glaub an dich selbst und deine Kraft. Du schaffst das mit deinen beiden Mädchen.“
Das hatte sie verstanden. Vielleicht hatte es ihre Mutter zu viel Kraft gekostet und sie war deshalb so früh gestorben. Charlotte hatte kaum noch Kraft und keine Ahnung, an wen sie sich wenden konnte. Sie schob diese Gedanken erst einmal beiseite und blickte sich prüfend im Wintergarten um.
Alle Spuren der Zerstörung waren beseitigt. Nur der Tisch wies darauf hin, dass auf ihm demnächst nichts abgestellt werden konnte. Seufzend schloss sie die Tür des Wintergartens.
Was erhoffte sie sich eigentlich von einem
Gespräch mit einem Geistlichen? Charlotte kam von dem eben aufgekeimten Gedanken nicht los. Vielleicht Hilfe?
„Nein“, beantwortete sie die Frage sofort selbst. Es sollte ihr nur einmal jemand zuhören, ohne sie gleich für verrückt zu erklären.
Entschlossen verbannte sie letztlich alle Überlegungen darüber aus ihrem Kopf und begann die noch notwendigen Dinge im Haus zu erledigen bevor sie sich auf den Weg zu Marion machte. Die Freude auf den heutigen Tag, die sie gestern empfunden hatte, war einem Gefühl angstvoller Vorahnungen gewichen.
Anders als eigentlich geplant, holte Charlotte Cora von der Schule ab, während Frank eine
Glaserei aufsuchte, um abzusprechen, wann er den Tisch vorbeibringen könne, damit eine neue Glasplatte eingesetzt werden konnte. Im Cafe hatte Charlotte ihm berichtet, dass sie ein lautes Klirren in der Küche gehört hatte. Im Wintergarten hatte sie dann das Chaos gesehen.
„Aber so eine Glasplatte zerbricht doch nicht von allein“, sagte er ungläubig.“
„Vielleicht hatte sie einen Sprung, den wir nicht bemerkt haben, und irgendeine Erschütterung hat dann den endgültigen Bruch ausgelöst.“
Charlotte merkte selbst wie fadenscheinig ihre Erklärung ausfiel. Aber Frank war so zufrieden über die Buchung ihrer Reise, dass er das Thema schnell beendete und nur noch
sagte:
„Ich kümmere mich um die Reparatur.“
Er freute sich sehr auf diese erste große Reise.
„Ich bin gespannt, was Cora sagen wird, wenn wir ihr nachher sagen, wo sie ihren Geburtstag dieses Jahr verleben wird.“
Er trank einen Schluck Kaffee und sinnierte vor sich hin.
„Ob sie aufgeregt sein wird, wenn sie das erste Mal mit dem Flugzeug fliegt?“
Charlotte wusste es nicht. Cora liebte zwar die Wärme, hasste aber das Wasser. Die freundliche Angestellte im Reisebüro hatte Leros empfohlen, eine Insel in der Ägäis, die touristisch noch nicht so erschlossen war, aber alles das bot, was Charlotte und Frank
sich wünschten. Sie waren sich sofort einig. Genau dort wollten sie hin.
Schon eine Stunde später, nachdem Charlotte mit Cora zu Hause eingetroffen war, kam Frank.
„Morgen früh um sieben Uhr holt ein Mitarbeiter der Glaserei den Tisch ab“, rief er zufrieden als er den Flur betrat, wo Charlotte gerade Coras schmutzige Schuhe auf eine Zeitung stellte, weil sie sie putzen wollte. Dann ging er in den Wintergarten. Kopfschüttelnd betrat er wieder den Flur.
„Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte“, murmelte er vor sich hin und rief dann nach Cora. Sie war sofort, nach dem sie nach Hause gekommen waren, in ihr Zimmer gegangen und auch nicht, wie sonst,
wenn Frank nach Hause kam, ihm strahlend entgegengeeilt. Jetzt kam sie die Treppe hinunter und begrüßte Frank mit einem Kuss. Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer. Frank setzte sich in den Sessel und zog Cora auf seinen Schoß.
„Wir haben eine Überraschung für dich. Deinen Geburtstag feiern wir in Griechenland. Zuerst fliegen wir nach Athen und von dort nach Leros. Wir wohnen in einem hübschen kleinen Hotel und du kannst in schönem warmen Wasser baden. Und im Flugzeug bekommst du den Fensterplatz.“
Cora rutschte von seinem Schoß.
„Warum müssen wir auf eine der kleinsten Inseln Griechenlands fliegen? Dann können wir auch ein Zelt nehmen und auf Paxos
Urlaub machen. Mehr passt auf diese Insel nicht rauf. Sie ist noch kleiner.“
Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„An zwei Tagen haben wir Leros in alle Himmelsrichtungen abgelaufen. Wenn ihr schon auf eine Insel wollt, warum nicht Kreta. Dort ist es wärmer als auf Leros.“
Sie zögerte kurz bevor sie weitersprach.
„Ich will nicht auf diese Insel“, sagte sie dann mit Nachdruck und blickte Charlotte an, die an die Kommode gelehnt, Cora aufmerksam beobachtet hatte. Charlotte blickte auf Frank, der sprachlos und enttäuscht zu Cora sah, die inzwischen zur Tür des Wintergartens gegangen war. Bevor sie die Tür öffnete blickte sie sich zu Frank
um und murmelte kaum verständlich:
„Bis August sind es ja noch drei Monate.“
Charlotte wusste nicht, was Cora damit meinte. Frank jedoch glaubte, dass Cora bis zum Beginn der Reise ihre Meinung ändern würde.
Cora betrat den Wintergarten und rief:
„Was ist denn mit dem Tisch passiert?“
„Er ist kaputt gegangen“, antwortete Charlotte kurz.
„Ganz allein? So etwas gibt es doch gar nicht.“ Bei diesen Worten sah sie zu Charlotte. Das spöttische Funkeln in Coras Augen war nicht zu übersehen. Dann lief sie aus dem Zimmer. Als sie an Charlotte vorbei kam, flüsterte sie vor sich hin - aber immerhin so laut, dass Charlotte es hören konnte:
„Ich werde nicht nach Leros fliegen. Und ihr auch nicht.“
Frank saß immer noch im Sessel.
„Woher weiß Cora soviel über Leros?“, murmelte er.
„Ich habe im Reisebüro das erste Mal etwas über diese Insel erfahren.“
„Ich auch“, erwiderte Charlotte.
„Und wo zum Teufel ist Paxos?“
Charlotte zuckte mit den Schultern. Cora wusste eben vieles.
Seit diesem Tag rechnete Charlotte mit allen möglichen schrecklichen Ereignissen. Aber nichts geschah. Nur die Atmosphäre im Haus knisterte vor Spannung. Manchmal war die Hitze in den Räumen so unerträglich, dass Frank und Charlotte ihre Badesachen
anzogen, in den Garten gingen und sich gegenseitig mit dem Gartenschlauch bespritzten. Der Juni neigte sich dem Ende und es hatte seit drei Wochen nicht geregnet. Die Tage waren heiß und die Luft flimmerte vor Hitze. Die Nächte brachten kaum Abkühlung. Vielleicht staute sich deswegen die Hitze im Haus, versuchte sich Charlotte zu beruhigen. Der Bauer, der besorgt seine Maisfelder inspizierte, orakelte:
„Das wird ein Dürresommer!“
Cora zog sich noch öfter in ihr Zimmer zurück, als sie es bisher schon getan hatte. Sie fragte auch nicht mehr nach Carla. Wenn Frank mit ihr über den Urlaub sprechen wollte, schlang sie die Arme um seinen Hals und sagte:
„Jetzt nicht, Papa. Ein anderes Mal.“
Sie sammelt ihre Kräfte, dachte Charlotte. Irgendetwas wird passieren. Charlottes Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Sie schlief schlecht. Oft stand sie nachts auf und schlich im Dunkeln die Treppe hinunter, setzte sich in die Küche und trank ein Glas warme Milch - obwohl sie die nicht mochte - in der Hoffnung, dass sie dann besser einschlafen würde können. Auch Frank fiel auf, dass sie elend aussah. Er nahm sie liebevoll in die Arme, drehte dabei die weißen Strähnen in ihrem Haar und meinte:
„Noch vier Wochen - dann liegen wir in der Sonne und lassen uns bedienen. Um Haus und Garten brauchen wir uns auch keine Sorgen machen. Marion und Heinz wohnen ja
während wir weg sind hier.“
„Aber es ist noch so viel zu erledigen“, stöhnte Charlotte. Dabei dachte sie an den Garten. Sie musste noch aus den Blumenrabatten alle vertrockneten Stauden aus der Erde nehmen. Ihre Rosen, die Anfang Juni so dicke Knospen angesetzt hatten, sahen wie verdorrt aus. Als sie sich die Pflanzen angesehen hatte, war ihr klar, dass hier nichts mehr zu retten war. Sie mussten ebenfalls ausgegraben werden. Dabei verging kein Tag an dem nicht gewässert oder der Rasen gesprengt wurde. Der Rasen sah gelb aus. Er musste wahrscheinlich Dünger bekommen. Aber das würde Frank erledigen, nachdem er den Rasen gemäht hatte.
„Wir schaffen das schon“, sagte Frank zuversichtlich.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013
abschuetze Hallo Kara, auf Seite 18 habe ich Probleme mit den Namen :) Vielleicht irre ich mich ja auch ---lach--- ... und da denke ich immer, meine Jüngste sei schwierig gewesen.... puh LG von Antje |
KaraList Liebe Antje, das ist ja schön, dass Du wieder eingestiegen bist. Ich freue mich! Ein herzliches Dankeschön für Deine Lesezeit und das Taschengeld (Kap. 12) Du hast ja fleißig nachgeholt. :-) ... und so schwierig wie Cora, kann gar kein Kind sein ... Dein Hinweis bzgl. der Namen ist richtig - ich danke Dir dafür. Ich habe die Seite zweimal gelesen, bevor ich dahinter gekommen bin. Aus Marion muss Charlotte werden. Schon geändert! LG Kara |
Bleistift "Der Urlaub - Kapitel 19..." Mich wundert nur, dass die Eltern sich mit diesen paranormalen Aktivitäten abfinden und sie gemeinsam kein klärendes Gespräch mit ihrer Tocher suchen. Aber auch der Vater kann eigentlich so blind nicht sein, dass er nicht bemerken will, wer oder was diese unglaublichen Temperaturdifferenzen eigentlich verursacht und auch warum so ungewöhnlich viel Glas in der Wohnung zerbricht.... Wir werden es erfahren, denn spannend bleibt es allemal... smile* LG Louis :-) |
Moscito Nun ich denke, wir kommen des Rätsels Lösung immer näher. Und gespannt warte ich nun darauf, wie der Urlaub ins Wasser fällt.... Diese Göre wird immer unheimlicher und Carla hat schon recht, wenn sie der Meinung ist schreiend davon laufen zu wollen (nur kann sie es noch nicht, aber schreien ging schon mal gut) Die Ignoranz des Vaters beeindruckt mich immer noch sehr. Ich glaube fast, der sträubt sich auch mit allen Mitteln gegen die Erkenntnis, dass er keine kleine Prinzessin hat, sondern ein Monster in hübscher Gestalt - einen Satansbraten eben. Lieben Gruß Silke |
KaraList Das sind die kleineren Übel, die der Satansbraten verzapft. Das größere wäre, wenn er mich Dich als treue Leserin verlieren ließe. :-) Ich bin nicht so die ´Favosammlerin` - Leser sind mir wichtiger. Trotzdem freue ich mich, liebe Silke, und sage herzlich ´dankeschön`! LG Kara |