Der Urlaub
18. Kapitel
Das neue Jahr hatte mit Regen und Sturm begonnen. So wie das alte aufgehört hatte. Schnee war nicht in Sicht. Charlotte stand am Badfenster und blickte zum wolkenverhangenen Himmel hoch.
Sie dachte an das vergangene Weihnachtsfest. Dass an den Feiertagen keine Festtagsstimmung aufgekommen war, hatte nicht nur an dem trüben Wetter gelegen, das nun schon seit drei Wochen anhielt, nicht nur an Charlottes innerlicher
Erschöpfung oder an Franks unverkennbar schlechter Laune. Schuld daran war auch die
triste Atmosphäre, die überall im Haus zu spüren gewesen war. Die von ihr mit Geschick angefertigten Weihnachtsdekorationen aus Tannen- und Kiefernzweigen hatten schon nach wenigen Tagen den Wegwerfstatus erreicht.
Das Adventsgesteck, dass sie für Coras Zimmer extra aus Konifere angefertigt hatte, bestand schon einen Tag nachdem sie es auf eine Ecke von Coras Schreibtisch gestellt hatte, aus braunen vertrockneten Zweigen, an denen die kleinen bunten Nussknacker und die mit Goldbronze bemalten Walnüsse grotesk aussahen. Den Weihnachtsbaum musste sie sofort nach den Feiertagen
abputzen, da schon der geringste Luftzug die Tannennadeln zum Rieseln gebracht hatten.
Das Familientreffen fand am zweiten Weihnachtsfeiertag bei Charlotte statt. Der Mittagstisch war festlich gedeckt und trotzdem nörgelte Marion, dass Kerzen fehlten. Als Charlotte ihr sagte, dass sie keine Kerzen im Haus habe, erwiderte Marion:
„Wo gibt es denn so etwas? Weihnachten und keine Kerzen im Haus. Habt ihr an den Adventssonntagen auch keine Kerzen angezündet?“
Dabei blickte sie sich suchend nach einem Adventskranz um. Er stand auf dem Tisch im Wintergarten, jedoch ohne Kerzen.
„Nein, haben wir nicht“, antwortete Charlotte kurz. Es tat ihr sofort leid. Sie
musste sich zusammenreißen. Was konnte Marion dafür, dass Charlotte das Gefühl hatte, auf eine Katastrophe zuzusteuern.
„Immer wieder liest und hört man von Bränden während der Adventszeit...“, versuchte sie das Fehlen von Kerzen zu erklären.
„... und wenn ein Kind im Hause ist. Ich bin da eben sehr ängstlich.“
Den zweifelnden Blick von Marion übersah sie geflissentlich. Einer weiteren Diskussion dieses für Charlotte leidigen Themas wurden beide enthoben, da Frank mit dem Braten das Zimmer betrat. Anders als in den vergangenen Jahren, hatten sie sich dieses Mal für einen Schweinebraten mit schöner Kruste entschieden, den Frank ganz allein
zubereitet hatte. Von der obligatorischen Weihnachtsgans hatten sie Abstand
genommen. Charlotte hatte sich um den Rotkohl und das Dessert gekümmert. Als sie in die Küche eilte, um Kartoffeln, Soße und Gemüse zu holen, war Franks Mutter gerade dabei, die schon gefüllten Schüsseln und die Sauciere auf ein Tablett zu stellen.
„Warum ist Marions Schwiegervater nicht mitgekommen?“, fragte Franks Mutter.
„Du hattest ihn doch eingeladen.“
„Er war Heiligabend und gestern bei Marion und Heinz. Heute wollte er zu Hause bleiben. Marion hat den Verdacht, dass er jemanden kennengelernt hat. Das wäre schön. Dann wäre er nicht mehr allein. Seine Frau ist ja schon vor sieben Jahren
gestorben.“
Auch während des Essens, das vorzüglich gelungen war, wie alle lobend bemerkten,
wollte keine rechte Stimmung aufkommen. Nur Carla, die auf Marions Schoß saß, und ab und zu einen Löffel mit Kartoffeln und Soße in den Mund geschoben bekam, brabbelte zufrieden vor sich hin.
Nach dem Essen wurde Carla zum Mittagsschlaf in Charlottes Bett gelegt. Franks Mutter erbot sich sofort auf die Kleine aufzupassen und legte sich kurz entschlossen neben sie auf Franks Bett. Charlotte und Marion verließen schmunzelnd das Zimmer.
„Die Mittagsruhe kommt ihr bestimmt sehr entgegen“, sagte Marion.
„Warum auch nicht“, erwiderte Charlotte.
„Sie ist auch nicht mehr die Jüngste. Ich bin froh, dass Frank noch seine Eltern hat. Auf
eine große Verwandtschaft konnte er nie verweisen. Genau wie wir beide.“
Dabei blickte sie ihre Schwester an, legte den Arm um sie, und drückte sie kurz an sich.
„Ja, du hast recht. Heinz hat ja auch nur noch seinen Vater. Seit dem Tod seiner Frau ist er etwas sonderbar geworden. Früher, sagt Heinz, als seine Mutter noch lebte, war er anders. Ich habe sie ja nicht mehr kennengelernt. Nur wenn er sich mit Carla beschäftigt, lebt er auf. Deshalb fanden wir es auch schade, dass er gestern schon wieder nach Hause gefahren ist obwohl er
sich Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag wohl bei uns gefühlt hat.“
Charlotte warf einen Blick ins Wohnzimmer. Dort hatte sich Franks Vater den Sessel
etwas näher an den Fernseher gezogen. Es lief eine Sendung über heimisches Wild, wie Charlotte schnell erkannte. Sie wusste, es würde nicht lange dauern, bis sein Kopf nach vorn sinken und ein leises Schnarchen zu hören sein würde. Cora saß auf der Couch und las eines ihrer neuen Bücher. Und im Wintergarten hatten Frank und Heinz es sich gemütlich gemacht.
Das typische Familienidyll nach einem Weihnachtsessen, dachte Charlotte etwas ironisch. Ein erneuter Blick auf Cora holte sie in die Wirklichkeit zurück. Cora warf ihr einen
so eisigen Blick zu, dass sie erschauerte.
Schnell ging sie in die Küche, wo Marion schon angefangen hatte, etwas Ordnung zu schaffen.
„Frank hat heute keine besonders gute Laune“, bemerkte Marion.
Sie öffnete eine Schranktür hinter der sich der Abfalleimer befand und warf die benutzten Papierservietten hinein.
„Gibt es Ärger?“
„Nein, aber er tut sich mit seiner eigenen Entscheidung schwer, Cora nun doch auf eine andere Schule mit Internatsaufenthalt zu schicken“, erwiderte Charlotte.
„Vor den Weihnachtsferien hatte die Direktorin von Coras Schule uns zu einem Gespräch gebeten und eindringlich darauf
hingewiesen, dass Cora in der jetzigen Schule unterfordert wäre. Erneut machte sie darauf aufmerksam, dass das der Grund für ihre fehlenden sozialen Kontakte zu anderen
Kindern sei. Coras Klassenlehrerin, die bei dem Gespräch dabei war, erwähnte sogar, wenn auch etwas zögernd, dass sie manchmal glaube, Cora müsse über eine richtige Antwort gar nicht nachdenken. Sie weiß es einfach.“
Nachdenklich sah Marion Charlotte an.
„Ja, das Gefühl habe ich auch manchmal. Es ist schon fast unheimlich. Was sagt Cora denn zu einem Schulwechsel?“
„Wir haben noch nicht mit ihr gesprochen. Erst einmal müssen wir Erkundigungen einziehen. Die Direktorin, die uns dabei
unterstützt, meinte, dass es nicht einfach sein würde eine passende Schule zu finden, weil Cora noch so jung ist. Sie wird doch erst zehn. Frank wird Anfang des neuen Jahres
eine Schule in Braunschweig anschreiben und sich Informationsmaterial schicken lassen. Außerdem spielt die Höhe des Schulgeldes eine große Rolle. Wer weiß, ob wir uns das leisten können.“
„Ich könnte Carla nicht so weit wegschicken“, erwiderte Marion.
„Aber das sagt sich jetzt so einfach“, relativierte sie dann. Wenn es für das Kind gut ist, trifft man wahrscheinlich Entscheidungen, die man nicht für möglich gehalten hätte.“
Entschlossen hatte sie sich den Abfalleimer
gegriffen und die Küche verlassen, um ihn in der Mülltonne, die hinter dem Carport stand, zu entleeren.
Charlotte sah ihr nach. Sie wusste, sollte es
zu einem Schulwechsel von Cora kommen, würde sich nichts an ihrem Verhalten ändern. Sie würde auch an der neuen Schule mit ihrem Wissen den anderen Kindern voraus sein, weit voraus. Ihr Nachschlagen in Büchern diente nur einem Zweck. Sie wollte in der Lage sein, Erklärungen zu geben. Sie wusste, dass es Ebbe und Flut gibt, dass Mond und Erdanziehungskraft eine entscheidende Rolle dabei spielen, dass es 88 Sternbilder einschließlich der Tierkreiszeichen gibt. Über das Tierkreiszeichen Löwe wusste sie bestens
Bescheid. Es war ihr Tierkreiszeichen. Dass bestimmte Sternbilder nur von einer Seite der Erdkugel gesehen werden können, dass der Mond keine Atmosphäre hat und vieles
andere. Dieses Wissen zwang Charlotte und Frank sich selbst über Dinge zu informieren, die bisher nicht ihr Interesse hatten. Für Cora waren das Gegebenheiten, die keiner weiteren Erklärung bedurften. Doch damit hatte sie eine Aufmerksamkeit erregt, die sie nicht beabsichtigt hatte und auf keinen Fall wollte. Wenn sie das, was sie wusste, in einer unbedachten Art und Weise zum Ausdruck brachte, konnte sie immer sagen, dass sie es gelesen hatte. Und ihre anderen Kräfte würden stärker werden.
Charlotte wollte nicht mehr an die vergangenen Tage denken und ging zurück zum Waschbecken, um die von ihr ungeliebte Putzarbeit im Bad fortzusetzen. Während sie
das Handwaschbecken scheuerte, blickte sie kurz in den Spiegel und bereute es sogleich. Durch ihr fast schwarzes Haar zogen sich feine silberne Fäden. Frank fand, dass sie sehr interessant damit aussah. Charlotte nannte es bitter vorzeitiger Alterungsprozess.
Am nächsten Tag würde die Schule wieder beginnen und sie selbst würde wieder zur Arbeit gehen. Ein Umstand, den Charlotte herbeisehnte. Sie hatte während Coras Weihnachtsferien Urlaub genommen und war nun froh, dass das Zusammensein mit Cora, das sich über den ganzen Tag erstreckte, sich
dem Ende neigte. Wenn Frank endlich aus dem Büro nach Hause kam, atmete sie immer auf. Ein größeres Projekt machte es ihm unmöglich, zuhause daran zu arbeiten. Mit Cora allein im Haus zu sein beunruhigte sie nicht nur, es versetzte sie in einen Zustand absoluter Anspannung, die sie manchmal daran hinderte, die einfachsten Verrichtungen zu tun. Dabei gab es keine Besonderheiten in der letzten Zeit, die Anlass gegeben hätten, Charlotte zu ängstigen. Außer am Silvestertag.
Frank hatte trotz Charlottes Widerspruch Silvesterfeuerwerk gekauft. Cora hatte ihn so umschmeichelt und gebettelt, dass er schließlich bengalische Feuer und drehende Sonnen gekauft hatte. Am Vormittag hatte er
schon die notwendigen Befestigungsvorrichtungen für das Feuerwerk im Garten vorbereitet. In der Dunkelheit wollte er sich damit nicht abmühen. Cora hätte an diesem Tag erst
nach Mitternacht ins Bett gehen müssen. So lange wollte sie nicht warten. Sie bat Frank nach dem Abendessen das Feuerwerk anzuzünden. Anschließend wollte sie schlafen gehen.
Cora stand still und sah auf das rote, grüne und gelbe Farbenspiel des bengalischen Feuers. Ihre dunklen Augen nahmen einen Ausdruck von Verzückung an. Um ihre kleine Gestalt bildete sich eine Aura der Kraft, die Charlotte, da sie neben ihr stand, einen Schritt zurücktreten ließ.
Entsetzt blickte sie auf ihre Tochter.
Während Frank mit dem Anzünden der Sonnen beschäftigt war, näherte sich Cora gefährlich nahe dem Bengalischen Feuer. Charlotte war wie erstarrt und in diesem
Moment nicht fähig Cora mahnend zurückzurufen oder gar zu ihr zu gehen, um sie festzuhalten. Und dann glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Bevor das Feuer erlosch neigte es sich Cora zu. Charlotte versuchte sich einzureden, dass ein Windstoß dieses Phänomen hervorgerufen hatte. Am Morgen hatten noch Sturmböen die tief hängenden Wolken vor sich hertrieben, doch jetzt wehte kein Lüftchen. Das war die Voraussetzung für Frank gewesen das Feuerwerk abzubrennen.
Cora liebte das Feuer. Liebte das Feuer sie auch?
Charlotte war ins Haus gegangen und sah dem Abbrennen der Sonnen vom Fenster zu. Frank stand mit Cora an der Hand in
gebührender Entfernung des Funkenregens.
Charlotte versuchte die Erinnerungen an den Silvesterabend aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie wechselte gerade die Handtücher, als oben die Tür von Coras Zimmer geöffnet wurde.
Cora lief mit schnellen Schritten die Treppe hinunter und blieb im Flur offenbar regungslos stehen. Kurze Zeit später glitt das Licht der Scheinwerfer von Franks Auto am
Badfenster entlang. Charlotte atmete auf. Als er das Haus betrat hörte sie Coras helle Stimme, die Frank munter mit einem Wortschwall begrüßte. Wie konnte sie nur so zeitig wissen, dass Frank kommen würde?
© KaraList
Erstveröffentlichung des Gesamtausgabe 09/2013