17. Kapitel
Das verregnete Frühjahr ging abrupt in einen zeitigen warmen Sommer über. Marion nutzte oft das schöne Wetter, um mit Carla zu Charlotte zu fahren. Sie hatte einen Schlüssel für das Haus bekommen und konnte schon vormittags den Kinderwagen, in dem Carla schlief, in den Garten stellen. Während der Zeit machte sie sich im Haus nützlich. Charlotte sah einem möglichen Zusammentreffen der beiden Kinder mit großem Unbehagen entgegen. Sie konnte dieses Gefühl nicht erklären, sie wusste auch
nicht, was genau sie befürchtete. Sie wusste nur, Carla war in Gefahr. Aber Marion fuhr meistens zeitig nach Bremen zurück. Cora kam erst später von der Schule. Dann war auch Charlotte schon zuhause.
Nach einem sehr heißen Juli begann der August mit Regen und kühleren Temperaturen. Es sah nicht so aus, als ob sich das Wetter in den nächsten Tagen ändern würde. Charlotte hoffte, dass wenigstens an Coras Geburtstag die Sonne scheinen würde, damit sie im Garten Kaffee trinken konnten. Sie hatten wirklich Glück. Wie auf Knopfdruck verzogen sich die Regenwolken an dem Wochenende, an dem Cora ihren neunten Geburtstag feierte.
Charlotte hatte im Garten eine schöne Kaffeetafel hergerichtet. Etwas entfernt stand ein kleiner Tisch, auf dem Coras Geschenke aufgebaut werden sollten. Einige Bücher lagen schon darauf. Die hatte sich Cora gewünscht. In der Mitte des Tisches stand ein Windlicht. Auf eine Kerze hatte Charlotte verzichtet. Stattdessen hatte sie es mit feinem Kies gefüllt, in den sie Trockenblumen gesteckt hatte. Auch auf der Kaffeetafel standen keine Kerzen.
Sie hatte überall auf dem Tisch kleine Schokoladenglückskäfer verteilt. Dass sie diese Geburtstagsvorbereitungen nur mechanisch verrichtete und keine Freude daran hatte, hätte sie vor einigen Jahren noch bestürzt. Jetzt war sie soweit, dass die
Resignation, die von ihr Besitz ergriffen hatte, sie weitaus mehr bestürzte. War das Coras Ziel? Charlotte fühlte mit jeder Faser ihres Körpers den Hass, den Cora für sie empfand. War ein Dritter zugegen, war Cora ein liebenswertes strahlendes Kind. Frank hatte es inzwischen vorgezogen Coras Eigenarten, zumindest die, die er bemerkte oder besser ausgedrückt, die ihm gestattet wurden, sie zu bemerken endgültig auf ihren Intellekt zu schieben. Gestützt wurde seine Sichtweise zusätzlich von Coras Lehrern, die erneut empfahlen, sie in einer Schule für hochbegabte Kinder anzumelden. Das nochmalige Überspringen einer Klassenstufe wäre für Cora an der von ihr gegenwärtig besuchten Schule nicht möglich. Und
außerdem stand Frank auf dem Standpunkt, was nicht rational erklärbar war, gab es nicht. Er wies Cora zwar bei Verhaltensauffälligkeiten schärfer zurecht, als er es früher getan hatte; aber dann war es für ihn erledigt. Niemals sah er das Lächeln auf ihrem Gesicht, wenn sie sich abwandte. Ab und zu gab sie ihm die Möglichkeit seine Autorität zu beweisen, aber vor allen Dingen kam es ihr darauf an, mögliche Zweifel an ihrer Normalität im Keim zu ersticken. Charlotte seufzte und ordnete die Gedecke auf dem Tisch noch etwas. Ein Hupen kündigte die ersten Gäste an. Der Wagen von Franks Eltern hielt vor dem Gartentor.
Sie kamen immer recht zeitig. Die Fahrt von Bremerhaven dauerte zwar nicht lange, aber
sie waren auch nicht mehr die Jüngsten und so fuhren sie immer früher als notwendig von zu Hause los, damit sie auch pünktlich waren. Frank und Cora waren zur Begrüßung zum Gartentor gegangen. Jetzt fehlten nur noch Marion, Heinz und Carla. Wie in den vergangenen Jahren kamen auch diesmal keine Kinder zu Coras Geburtstag. Franks Mutter hatte eine große Babypuppe für Cora mitgebracht. Sie bekam ihren Platz auf dem Geburtstagstisch. Irgendwann, wusste Charlotte, würde sie arg mitgenommen unter Coras Bett liegen, bis sie eines Tages ganz verschwunden sein würde. Während Frank und sein Vater noch zwei Sonnenschirme am Tisch aufstellten, holte Charlotte die beiden Thermoskannen mit dem bereits gebrühten
Kaffee. Franks Mutter sah sich inzwischen die Bücher an, die Cora sich gewünscht hatte.
„Die versteht sie doch noch gar nicht“, sagte sie zu Frank.
„Unser Sonnensystem“, las sie vor und schüttelte den Kopf.
„Oh, doch“, antwortete Frank.
„Sie versteht das.“
Charlotte wartete ungeduldig auf die letzten Gäste. Den ganzen Tag war sie unruhig gewesen und hatte eigentlich nur den Wunsch, dass der Geburtstag schon vorbei wäre. Diese Unruhe überlagerte sogar ihre Freude, dass sie Carla wiedersehen würde. Carla war jetzt ein halbes Jahr alt, konnte schon fast sicher sitzen und lachte einen mit ihren grünen Augen an. Dabei brabbelte sie
vor sich hin und tatschte nach allem, was sich bewegte. Auf dem Kopf hatte sich ein dunkler Flaum gebildet, den Marion immer zu einem Hahnenkamm hochbürstete. Jetzt hörte Charlotte das Auto und atmete erleichtert auf.
"Ich könnte jeden Tag Geburtstag feiern“, sagte Franks Vater und beugte sich zu Cora, die neben ihm saß. Dabei nahm er sich das dritte Stück Kuchen. Frank lächelte, denn er wusste, wie gern sein Vater Süßes mochte. Auch die anderen schmunzelten. Nur Franks Mutter drohte mit dem Finger. Cora hingegen antwortete:
„Wenn man sich das von ganzem Herzen wünscht, ist es vielleicht möglich.“ Alle
lachten. Nur Charlotte nicht.
„Man muss nur aufpassen, dass man keine Fehler macht“, sprach sie weiter.
„Irgendwann, auf jeden Fall rechtzeitig, muss man ´halt` sagen.“
Während die anderen erneut lachten, ließen diese Worte Charlotte zusammenzucken.
Charlotte schlug vor, nach dem Kaffeetrinken einen Spaziergang zu machen, stieß aber bei den anderen nicht auf Zustimmung. Franks Eltern war es zu warm. Sie wollten lieber an einem schattigen Plätzchen im Garten sitzen. Dafür hatte Charlotte auch Verständnis, denn der Wetterumschwung von kühlem Regenwetter zu hochsommerlicher Hitze machte auch ihr zu schaffen. Außerdem konnten Marion und Heinz nicht lange
bleiben, da Heinz noch für seine
Meisterprüfung lernen musste. Später, während Charlotte und Marion den Tisch abräumten - Franks Mutter hatte das kühle Wohnzimmer dem Garten vorgezogen und sah sich mit Cora die Bücher an, die diese geschenkt bekommen hatte - stellte Franks Vater seinen Stuhl in den Schatten der Korkenzieherweide, die Charlotte vor fünf Jahren gepflanzt hatte. Sie hatte in dieser doch relativ kurzen Zeit schon eine beachtliche Höhe erreicht. Carla, die zufrieden in ihrem Kinderwagen saß, nahm er mit. Frank und Heinz begutachteten den Carport, den sie gemeinsam vergrößert hatten und gingen dann in den Geräteschuppen, aus dem kurz danach
Werkzeuggeklapper erscholl.
„Ihr habt es Euch richtig schön gemacht“, sagte Marion und schaute dabei aus dem Küchenfenster zum Wintergarten.
„Wer hätte vor elf Jahren gedacht, dass es einmal so hier aussehen würde.“
Sie strich mit den Händen über die Arbeitsplatte der neuen Küche, die seit einem Jahr Charlottes ganzer Stolz war.
„Ja, wir sind auch sehr froh darüber, wie es jetzt ist“, stimmte Charlotte ihr zu.
Während Marion das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler räumte, deckte Charlotte den übriggebliebenen Kuchen mit Folie ab. Dabei fiel ihr auf, dass das Stimmengemurmel aus dem Wohnzimmer verstummt war. Unter einem Vorwand verließ
sie die Küche um nachzusehen. Franks
Mutter saß im Sessel und blätterte in einem Buch. Cora hatte das Zimmer verlassen. Charlotte blickte suchend aus dem Fenster. Franks Vater war eingeschlafen. Sein Kinn war ihm auf die Brust gesunken. Der Kinderwagen stand neben ihm. Carla war etwas zur Seite gerutscht und lachte Cora an, die neben dem Wagen stand. Cora hielt offenbar irgendetwas in der Hand, das Carlas Interesse weckte. Charlotte konnte nicht erkennen was es war, da Cora ihr den Rücken zuwandte. Alarmiert verließ Charlotte das Haus und näherte sich lautlos - wie sie glaubte - den beiden Kindern. Kurz bevor sie sie erreichte, drehte Cora sich um.
„Das Windlicht vom Geburtstagstisch ist
zerbrochen“, sagte sie und hielt Charlotte
eine große Scherbe entgegen. Einige Sonnenstrahlen, die durch das Laub der Weide fielen, brachen sich funkelnd in der Glasscherbe. Ihr innerliches Entsetzen verbergend wollte Charlotte behutsam die Scherbe aus Coras Hand nehmen. Doch Cora drückte die Scherbe mit einem Ruck - und es war keine Ungeschicklichkeit - in Charlottes Hand, wo sofort ein tiefer Schnitt klaffte. Charlottes Aufschrei weckte Franks Vater, der verwirrt auf die kleine Gruppe starrte. Dann bemerkte er Charlottes blutende Hand. Aufgeregt rief er nach Frank, der mit Heinz auch sofort herbeieilte. Auch Marion und Franks Mutter waren im Haus aufmerksam geworden und kamen
angelaufen. Charlottes Erklärung, dass sie
selbst an diesem Unfall Schuld sei, wurde von allen mit Bedauern aufgenommen. Nur Frank schaute sie nachdenklich an.
Der Geburtstag fand ein vorzeitiges Ende, denn Frank musste Charlotte ins Krankenhaus fahren. Der Schnitt war so tief, dass er genäht werden musste. Marion fuhr mit ihrer kleinen Familie nach Hause, und Franks Eltern blieben bei Cora während Charlotte und Frank im Krankenhaus waren.
Auf dem Weg ins Krankenhaus grübelte Charlotte, wie es möglich war, dass Cora ihr Näherkommen bemerkt hatte. Charlotte hatte sich lautlos genähert. Außerdem dämpfte der Rasen zusätzlich ihre Schritte. Und was war
das für eine Hitze, die von Cora ausging,
sobald man neben ihr stand.
„Falsch“, schoss es ihr durch den Kopf.
„Nur wenn ich neben ihr stehe. Andere hatten das noch nie bemerkt“, grübelte sie. Charlotte hatte Angst. Sie musste mit jemandem reden. Nur, mit wem? Wer würde ihr glauben?. Sie blickte zu Frank hinüber, der schweigend das Auto lenkte. Franks nachdenklicher Blick, als sie ihre Version des Unfalls schilderte, ließ sie hoffen, endlich mit ihm über ihre Befürchtungen hinsichtlich Coras Verhalten sprechen zu können. Es würde schwer werden, denn Coras Kräfte waren rational nicht zu erklären. Doch während sie noch überlegte wie sie das Gespräch beginnen könnte, sagte er zu ihr:
„Schatz, es ist schlimm, dass du dich so
verletzt hast. Trotzdem können wir nur froh sein, dass die Kinder unversehrt geblieben sind. Nicht auszudenken, was geschehen hätte können, wenn dir die große Scherbe aus der Hand gerutscht und auf Carla gefallen wäre.“
Da wusste Charlotte, dass Frank ihre Schilderung des vermeintlichen Unfalls, die sie im Garten allen gegeben hatte, glauben wollte. Sie wusste auch, was sie künftig tun würde.
Sie würde Carla immer im Auge behalten, wenn Cora in der Nähe war.
Die Schiffssirene, der in den Hafen einlaufenden Fähre, riss Charlotte aus ihren
Gedanken. Wahrscheinlich kreuzten wieder
Urlauber mit ihren kleinen Booten die Fahrrinne der Fähre, denn normalerweise lief sie ohne Signal in den Hafen ein. Sie betrachtete ihre rechte Hand, über deren Handfläche sich eine blasse Narbe zog. Als sie auf ihre Uhr blickte, war sie doch erstaunt, wie lange sie hier gesessen hatte. Trotzdem hatte sie noch ausreichend Zeit. Sie würde rechtzeitig zuhause sein, um den Anruf von Imre nicht zu versäumen. Für die Rückfahrt brauchte Charlotte nur eine Stunde. In den Bergen hatte es aufgeklart, so dass sie bei strahlendem Sonnenschein den Encumada Pass überqueren konnte. Zuhause angekommen tauschte sie den sommerlichen Hosenanzug, den sie morgens
angezogen hatte, gegen eine bequeme weite
Hose und eine dünne Bluse, deren Farbe schon etwas verwaschen war. Dabei fiel ihr Blick in den großen Spiegel, der im Schlafzimmer über dem Toilettentisch hing. Ihr Haar war schon seit einigen Jahren schneeweiß und zu einer unkomplizierten Kurzhaarfrisur geschnitten. Jetzt stand es ihr etwas zerzaust an einigen Stellen vom Kopf ab.
Sie zupfte an einigen Strähnen, erzielte jedoch nicht den gewünschten Effekt.
Seufzend brach sie ihre Versuche ab. Seit Jahren besuchte sie den Friseur im Hotel Lisboa in Sáo Vicente. Sie hätte sich schon längst um einen Termin kümmern müssen, hatte aber im Moment nicht die nötige innere
Ruhe, das unablässige Geschnatter ihrer
ansonsten recht netten Friseurin über sich ergehen zu lassen.
Charlotte überlegte, ob sie in ihrem Kräuterbeet das Unkraut entfernen sollte, das schon die Petersilie und den Majoran überwucherte. Doch wie schon in den vergangenen Tagen, verschob sie diese Arbeit auf den Abend, da es dann kühler sein würde. Dass es nur eine willkommene Begründung war, sich selbst nicht aktivieren zu müssen, wusste sie sehr wohl. Seit Tagen verrichtete sie die absolut notwendigen Arbeiten abwesend und lustlos und versank immer wieder in Erinnerungen.
Diese schürten ihre Unruhe und Sorge noch zusätzlich.
Aus dem Kühlschrank holte sie sich eine
kleine Schale mit Erdbeeren, goss sich ein Glas Milch ein, schob das Telefon in ihre Hosentasche und ging dann in den Garten, wo sie sich in einen der beiden Korbsessel, die unter einem Tulpenbaum
standen, setzte. Er war der einzige große Baum, der in dem kleinen Garten wuchs.
In seinem Schatten saß sie oft mit Imre.
Hier hatte sie ihm viel erzählt. Von ihrem Leben mit Frank und Cora. Meistens von Cora. Von Coras Kräften, von der Macht, die sie besaß - und dem Bösen, von dem sie beherrscht wurde. Und Imre war ein geduldiger Zuhörer gewesen. Auch wenn sie - weil sie nach Antworten suchte - sich wiederholte. Aber viel wichtiger als sein
aufmerksames Zuhören war - er glaubte ihr.
Schon nach dem sie sich beide am Achensee kennengelernt und einige Male getroffen hatten, fand sie den Mut, ihm Einzelheiten aus ihrem Leben zu erzählen.
Charlotte hatte sich zu dieser Zeit oft gefragt, ob es mit seinem Beruf zusammenhing oder mit dem, was er in seinem Leben schon gesehen hatte, dass er sie nicht als überdrehte Phantastin oder noch schlimmer, als Verrückte einstufte. Aber wer Zeuge von Geburtsritualen der Eipo-Frauen in Neuguinea war, die ihr Kind tanzend zur Welt brachten, wer gesehen hatte, wie in einem brasilianischen Eingeborenenstamm die Ehemänner sich selbst mit dem Messer entsetzliche Wunden zufügten, während ihre
Frauen das Kind gebaren, wer Zeuge ritueller
Kindstötungen in einem Indianerstamm in Brasilien war, der glaubte einiges für das es keine Erklärung gab.
Viel später erzählte er ihr von einem Erlebnis, das er als Mitglied einer Expedition in Benin hatte. Ein junger Mann der Somba, einer dort lebenden Bevölkerungsgruppe, war gestorben. Der italienische Arzt, der ebenfalls Mitglied der Expedition war, stellte unzweifelhaft den Tod des Mannes fest. Nachdem der Arzt die Hütte, in der der Tote lag, verlassen hatte, betrat ein alter Mann die Hütte. Als er sie wieder verließ, machte er den draußen Wartenden ein Zeichen, dass sie hineingehen sollten. Dann verschwand er. Die Mitglieder der Expedition haben ihn nie
wieder gesehen. Als sie die Hütte betraten,
saß der für tot erklärte Somba auf seiner bescheidenen Schlafmatte und sah sie erstaunt an. Der Arzt war fassungslos.
Die Expeditionsmitglieder fragten überall nach dem alten Somba-Mann. Sie stießen nur auf Schweigen.
"Mein Leben wird nicht ausreichen, um das Unerklärliche, das es immer noch gibt, zu erforschen und vielleicht sogar zu verstehen", hatte er damals zu ihr gesagt.
"Warum also, sollte ich dir nicht glauben?"
Sie sog die Erzählungen von seinen Erlebnissen, seinen Erfahrungen in sich auf wie ein Schwamm das Wasser, weil er ausgetrocknet und hart, lange Zeit vergessen in einer dunklen Ecke gelegen
hatte.
Charlotte griff nach ihrem Glas. Eigentlich mochte sie keine Milch. Aber ihren Knochen würde sie gut tun, hatte ihr Arzt gesagt. Sie blickte auf die Blumenpracht im Garten und die leuchtend gelb blühende Bougainvillea.
Dieser Ort war ihre Heimat geworden. Hier hatte sie nach den schrecklichen Ereignissen wieder gelernt, sich an Schönem zu erfreuen, zu lachen und sich einem Menschen zu öffnen. Dabei hatte Imre mit seiner Fürsorge, seinem Verständnis und seiner Liebe geholfen.
In einer Zeit, in der ihr Leben nur von Verzweiflung beherrscht wurde, sie nur noch funktionierte, ohne zu leben, hatte sie einen Menschen kennengelernt, dem sie vertraute,
den sie lieben konnte. Anders als sie Frank
geliebt hatte. In Frank hatte sie sich sofort verliebt, als sie ihn kennenlernte. Bei Imre war es ein vorsichtiges Herantasten. Ihre Gefühle wurden von Selbstzweifeln bestimmt. Sie traute diesen Gefühlen nicht. Vielleicht war es Dankbarkeit dafür, dass ihr jemand mit Interesse zuhörte, ihr glaubte - und nicht Liebe, die sie zu ihm hinzog. Imre ließ ihr Zeit.
Viel Zeit. Bis er an einem Abend, sie saßen in einer kleinen Gaststätte in München bei einem Glas Wein zusammen, zu ihr sagte:
"Wir sind nicht mehr jung genug um Zeit zu verschenken."
Imre kratzte an ihrer verhärteten Oberfläche bis alles, was verschlossen gewesen war, wieder zum Vorschein kam. Wärme,
Sehnsüchte und vor allem Gefühle. Und die
brachte sie ihm entgegen. Mit einer Intensität, die sie nicht mehr für möglich gehalten hätte. Sie war glücklich mit Imre. In den vielen Jahren verschwand ihre Sorge um Carla. Trotzdem ließ sie sich von ihrer Schwester immer berichten, wie es Carla ging, was sie tat. Charlotte hatte ihren Frieden gefunden.
Doch seit einigen Monaten wusste sie, dass diese Zeit des Friedens trügerisch gewesen war.
Von ihrem Platz hatte Charlotte einen herrlichen Blick auf den Atlantik. Sie konnte bis Port Moniz blicken.
Gestern war sie dort gewesen und hatte eine weiße Rose ins Meer geworfen. Wieder
versank sie in Erinnerungen.
Während im Oktober strenge Nachtfröste den Blättern der Ahornbäume keine Zeit ließen, sich rot und golden zu färben, weil sie zusammengerollt raschelnd auf den Boden fielen, brachte der Dezember Schmuddelwetter. Regen, Sturm und Temperaturen um die 10 °C über Null ließen keine vorweihnachtliche Stimmung aufkommen. Mitunter wurde es gar nicht richtig hell. Schon am frühen Nachmittag schaltete Charlotte im Haus das Licht an.
Nach Coras Geburtstag besuchte Charlotte
ihre Schwester fast nur noch allein. Frank arbeitete nach Büroschluss oft noch zu Hause. Er saß dann im Wintergarten, um sich
herum Akten und Baupläne ausgebreitet. Cora war nicht allein und war versorgt. Zum Abendessen war Charlotte dann immer zu Hause. Besuche von Marion und Carla im Herbst und im Winter gab es nicht. Im Garten konnte man sich nicht mehr aufhalten, da blieb sie lieber in Bremen. Und da Charlotte einmal in der Woche einen Besuch bei ihr machte, hatte sie auch keinen Grund gerade im Winter bei schlechten Straßenverhältnissen zu ihr zu fahren. Außerdem war sie eine miserable Autofahrerin. Eine Tatsache, die Heinz oftmals den Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Erschwert wurden ihre Besuche zusätzlich durch das Vorhandensein nur eines Autos. Sie hätte sich immer mit Heinz abstimmen
müssen. Meistens brauchte er das Auto. Und sich mit dem Kinderwagen in den Bus zu drängeln war auch nicht so angenehm. Eine Erfahrung, die sie bereits im Sommer gemacht hatte. Marion bedauerte, dass die beiden Kinder keinen Kontakt hatten. Charlotte war jedoch war mit dieser Situation zufrieden. Das durfte Marion natürlich nicht wissen. Mit der Aussicht auf das nächste Frühjahr, wenn die Gartensaison wieder begann - dann würde Carla auch schon laufen können - tröstete Charlotte ihre Schwester. Insgeheim suchte sie schon jetzt nach einer Lösung, wie sie diese Besuche
verhindern konnte. Doch ihr war klar, dass ein Zusammentreffen der beiden Kinder nicht zu vermeiden war. Einen der
Weihnachtsfeiertage, die immer näher rückten und die Charlotte am liebsten aus dem Kalender gestrichen hätte, verbrachten die Familien immer zusammen, es gab die Geburtstage und die unvorhersehbaren Ereignisse, die Charlotte am meisten fürchtete. Wie an dem schönen Herbsttag vor sechs Wochen, als Cora einen Ausflug mit ihrer Klasse machte, um sich die historische Mühle in Bremen anzusehen. Als die Klasse auf dem Heimweg war, sah Cora Marion im Park. Sie ging mit Carla dort spazieren. Cora machte ihre Lehrerin sofort darauf aufmerksam, dass dort ihre Tante sei
und lief zu ihr hin. Sie brauchte nicht lange betteln, um Marion zu überzeugen mit ihr mitkommen zu dürfen. Und nach einigem
Zögern stimmte die Lehrerin zu. Marion versprach der Lehrerin sofort Coras Mutter zu benachrichtigen, damit diese nach Arbeitsschluss Cora abholen konnte.
Als Charlotte bei Marion eintraf schien auf den ersten Blick alles in Ordnung zu sein. Cora öffnete ihr die Tür, lief aber sofort wieder in die Küche, wo sie sich ans Fenster setzte und in einem Buch blätterte. Marion stand mit mehligen Händen am Tisch und knetete einen Teig. Ihr Blick wechselte verwundert von Charlotte zu Cora. Ihr war die auffallend kühle Begrüßung zwischen den beiden aufgefallen. Als Charlotte sich
suchend nach Carla umsah, die normalerweise immer im Laufstall in Marions Nähe war, legte Marion den Finger auf den
Mund und sagte:
„Wir wollen ein bisschen leise sein. Carla ist gerade eingeschlafen. Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist. Seitdem wir zu Hause sind hat sie nur geweint. Außerdem ist sie glühend heiß, obwohl sie kein Fieber hat. Hoffentlich wird sie nicht krank.“
Die Ahnung, die Charlotte befiel, bestätigte sich, als sie beiläufig neben Cora trat. Die Hitzewelle traf sie mit einer Intensität, dass sie nur mit Mühe einen erschrockenen Ausruf unterdrücken konnte. Cora blickte mit kalten Augen zu ihr auf. Während Charlotte einen Schritt zurücktrat, bedurfte es ihrer vollen
Konzentration, um Marion beruhigend zu sagen, dass Kinder schnell einmal eine Unpässlichkeit haben, die dann am nächsten
Tag wieder vorbei ist. Sie wäre gern mit Cora aufgebrochen, doch Marion bat so inständig die Quarkbrötchen zu probieren, die sie gerade auf ein Backblech legte.
„Es dauert nur fünfzehn Minuten“, sagte sie und schob das Backblech in die Backröhre.
„Warm schmecken sie am besten.“
So blieb Charlotte länger als sie wollte. Endlich befand sie sich mit Cora auf dem Heimweg, der wie immer schweigend verlief.
Der Berufsverkehr in Bremen erforderte Charlottes volle Aufmerksamkeit. Sie konnte und wollte sich durch nichts ablenken lassen. Und doch kreisten ihre Gedanken wie wild im
Kopf. Was war das nur? Was ging hier vor? Diese Hitze, die von Cora ausging, trat immer
häufiger auf und wurde intensiver. Wenn sie sich ärgerte, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging, war es schon fast gefährlich in ihre Nähe zu kommen. Aber warum bemerkten die anderen das nicht?
„Weil sich Coras Hass nur gegen dich richtet“, hämmerte es in ihrem Kopf.
„Und gegen Carla“.
Endlich konnte sie von der Landstraße auf den Weg durch den Ahornhain einbiegen. Durch die fast kahlen Äste der Bäume schimmerte das Licht der Außenlampe am Carport. Erleichtert atmete sie auf. Frank war schon zu Hause. Auch wenn sich alles dagegen in Charlotte sträubte, musste sie
sich eingestehen, mit Cora nicht mehr gern allein im Haus zu sein.
Cora begrüßte Frank strahlend und ging dann in ihr Zimmer. Charlotte wartete darauf, dass irgendetwas im Haus zerbrach. Aber an diesem Tag zerplatzte weder eine Glühbirne noch zerbrach ein Glaskrug oder eine Vase. Aber Charlotte hatte sowieso nur noch wenige Gegenstände aus Glas. Ihr Gebrauchsgeschirr bestand jetzt größtenteils aus Keramik.
Als sie später die Tür zu Coras Zimmer öffnete, um sie zum Abendessen zu holen, schlug ihr eine Hitze entgegen, die sie zurückprallen ließ. Wortlos öffnete sie das Fenster. Während sie die kalte Oktoberluft gierig einsog, sah sie zu Cora, die an ihrem
Schreibtisch saß und, wie so oft, in einem Buch las. Charlotte ordnete noch einige
Sachen in Coras Zimmer, obwohl das überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, denn das Zimmer war immer absolut in Ordnung. Als ob niemand dort wohnte, den Raum mit Leben erfüllte, dort spielte. Aber Cora spielte nicht. Sie las Bücher. Bücher, die sie sich aus der Schulbibliothek mitbrachte, und die selbst bei Frank ein befremdetes Kopfschütteln bewirkten. Der afrikanische Kontinent hatte es ihr besonders angetan. Aber auch Südamerika hatte ihr Interesse offenbar geweckt. Charlotte hatte erst vor einigen Tagen einen Bildband über Brasilien auf Coras Schreibtisch liegen sehen.
Als Charlotte mit Cora das Zimmer verließ und
die Tür hinter sich schließen wollte, fiel ihr Blick auf das Fenster. Es war geschlossen.
Sie schickte Cora hinunter in die Küche. Ein Gefühl, als ob ihre Beine nachgeben würden, zwang sie, sich an den Türrahmen zu lehnen. Cora hatte die ganze Zeit am Schreibtisch gesessen. Da war sich Charlotte sicher. Oder war Cora unbemerkt von ihr aufgestanden und hatte das Fenster geschlossen? Unmöglich. Sie hatte Cora beobachtet. Aber dass sich das Fenster allein schloss und verriegelte war genauso unmöglich. Mit steifen Schritten ging sie zum Fenster und öffnete es wieder.
Beim Abendessen stocherte sie abwesend in dem Gemüseauflauf auf ihrem Teller herum und schob ihn dann weg. Auf Franks
besorgte Frage, ob es ihr nicht gut gehe, antwortete sie:
„Vielleicht sind mir Marions warme Quarkbrötchen nicht bekommen. Es ist nur eine leichte Magenverstimmung.“
Nach dem Abendessen räumten Frank und Cora den Tisch ab. Cora half sehr eifrig und sagte zu Frank:
„Wir machen das beide allein. Dann kann Mama sich ausruhen.“
Sie erntete ein großes Lob von Frank.
Charlotte war im Wohnzimmer als das Telefon läutete. Frank nahm das Gespräch entgegen. Es war Marion, die nur Bescheid sagen wollte, dass es Carla wieder gut ging.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013
Moscito Wieder sehr viel Information, aber wenig Neues :( Wollen wir mal sehen, wofür diese ganzen Nebensächlichkeiten noch gut sind. Habe manchmal das Gefühl, dass hier und da weniger mehr wäre, aber gern lasse ich mich eines besseren belehren. Nun will ich aber bald wissen was es mit Cora auf sich hat und was vor allem mit ihr passiert ist. Denn um als Kindergeist durch Carlas Leben zu geistern, muss sie ja nicht alt geworden sein... immer noch Fragen über Fragen und wenig antworten. Es wird langsam Zeit, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen, damit es weiter spannend bleibt. Lieben Gruß in deinen Sonntagabend Silke |
KaraList Wie schon bei Sabine und Louis Kritik an der ausführlichen Beschreibung des Alltags von Charlotte. Vielleicht liest Du meine Antwort an Louis. Diese weiterführenden Kommentare finde ich anregend, da sie andere Sichtweisen deutlich machen. Vielen herzlichen Dank also für Deinen Kommi und den Favo, liebe Silke. Lass´ das Wochenende schön ausklingen. LG Kara |