Der Urlaub
15. Kapitel
Der Professor schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Sichtlich angespannt ging er einige Schritte hin und her. Als er stehen blieb und Carla ansah kamen seine Worte sehr leise über seine Lippen.
„Vor vielen Jahren habe ich diese Geschichte sehr oft gehört. Ich hatte gehofft, dass sie irgendwann der Vergangenheit angehören würde. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt.“
Carla schob ihren Teller zurück. Die Reste der kleinen Mahlzeit, die der Professor
bestellt hatte, standen noch auf dem Tisch. Carla goss dem Professor noch etwas Tee ein.
Sie selbst nahm sich den Rest Kaffee. Auch diesmal hatte sie den Professor mit keinem Wort in seiner Erzählung unterbrochen. Was hätte sie auch sagen sollen?
Das Gehörte war so abstrus, dass sie ihre Gedanken und Empfindungen erst einmal sortieren musste. Sie blickte auf ihre stark geröteten Handflächen. Es waren keine sichtbaren Anzeichen einer Verbrennung zu erkennen. Aber ein unangenehmes Kribbeln zeugte davon, wie nahe sie gestern dem Grillrost gekommen war. Sie dachte über das, was ihr der Professor erzählt hatte nach. Warum hatte ihre Mutter nie von Cora
gesprochen? Sie zog kurz in Erwägung den Professor darauf anzusprechen. Verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Sie würde es noch heute erfahren. Da war sie sich sicher.
Der Professor hatte sich wieder hingesetzt. Offensichtlich hatte er sich gefangen.
Es war schon ungewöhnlich diesen ruhigen besonnenen Mann so emotional berührt zu sehen. Carla wappnete sich innerlich gegen das, was sie noch hören würde.
„Erzählen Sie bitte weiter“, bat sie den Professor.
Cora war acht Jahre alt. Sie ging in die dritte Klasse. Ihre schulischen Leistungen waren exzellent, so dass man Frank und Charlotte
geraten hatte, Cora die zweite Klasse überspringen zu lassen. Sogar den späteren Besuch einer Schule für Hochbegabte schlug die Direktorin der Schule Frank und Cora vor. Aber Frank wollte davon nichts wissen. Das wäre mit einem Internatsaufenthalt verbunden gewesen. Dafür schien ihm Cora noch zu jung. Charlotte hätte nichts dagegen gehabt. Vielleicht hätte eine Trennung das Verhältnis zwischen Cora und ihr entspannt. Aber eigentlich wusste Charlotte, dass sie nur einem Wunsch hinterher lief, der sich nie erfüllen würde. Und wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie keine liebevollen Gefühle mehr für Cora hatte. Cora war ihr unheimlich geworden. Aber nur ihr fielen Coras Besonderheiten auf.
„Nein, das ist nicht ganz richtig.“
Verzweifelt hatte sie diese Worte vor sich hin gemurmelt.
Nur ihr sollten sie auffallen. Alle, die Cora kannten, fanden freundliche Worte für sie. Ihr hübsches Gesicht strahlte Sympathie aus. Und weil sie klug war, fiel es ihr leicht, ihre einnehmende Ausstrahlung richtig einzusetzen. Auch bei den Lehrern war sie außerordentlich beliebt. Nur ein älterer Lehrer, der kurz vor seiner Pensionierung stand, beobachtete sie sehr aufmerksam. Er unterrichtete in Coras Parallelklasse und kannte sie nur aus Vertretungsstunden, die er in ihrer Klasse gab. Während seiner Pausenaufsichten auf dem Schulhof war sie ihm jedoch mehrfach aufgefallen. Durch Zufall
wurde er Zeuge eines Gespräches zweier Mädchen. Dabei fielen die Worte:
„Cora ist böse.“
Nur diese Worte hätten ihn nicht aufmerken lassen. Kinder sagten schnell einmal etwas, wenn sie sich gezankt hatten. Aber wie die Mädchen es sagten, machte ihn stutzig. In ihren Worten schwang Angst mit. Als er sie fragte, wie sie ihre Worte gemeint hatten, blieben beide stumm. Während die meisten Lehrer Coras Abneigung gegen Freundschaften mit anderen Kindern auf ihren Intellekt schoben, der es für Cora schwierig machte, mit Gleichaltrigen Kontakte zu knüpfen, wunderte er sich, dass nicht nur von Cora diese Distanz ausging, auch die Kinder mieden sie ganz offensichtlich.
Der Klassenlehrerin, mit der er über seine Beobachtungen sprach, war das ebenfalls aufgefallen. Sie maß dem jedoch keine Bedeutung bei. Er nahm sich vor mit Coras Eltern darüber zu sprechen. In zwei Wochen würde der nächste Elternabend sein. Bis dahin würde er weiterhin ein Auge auf Cora haben. Zum Elternabend ging nur Charlotte. Frank blieb zu Hause bei Cora. Wie erwartet, kamen keine Klagen über Cora. Bestnoten in allen Fächern. Als sie gerade gehen wollte, sprach sie auf dem Schulflur der ältere Lehrer an. Charlotte hatte den Eindruck, dass er auf sie gewartet hatte. Sie kannte ihn nur vom Sehen, aber er wusste, wer sie war. Das bewiesen seine ersten Worte.
„Sie sind Coras Mutter, nicht wahr.“
Nachdem er sich vorgestellt hatte, berichtete er von seinen Beobachtungen. Er hatte auf Erklärungen gehofft, aber Charlotte bedankte sich nur für die Hinweise. Sie würde mit ihrem Mann darüber reden, setzte sie noch hinzu. Mit dem Versprechen ihn wieder zu kontaktieren verabschiedete sie sich. Was sollte sie ihm auch sagen? Dass ihr Hausrat an Glasgegenständen in den vergangenen Jahren sehr geschrumpft war, Lampen zersprangen, Kerzen, die sie gelöscht hatte, kurze Zeit später wieder brannten, obwohl niemand im Raum gewesen war. Sollte sie ihm erzählen, dass das Kätzchen, das halb verhungert an der Bushaltestelle gesessen und das sie mit nach Hause genommen hatte, eine Woche später mit blutenden
Pfoten von ihr im Werkzeugschrank gefunden wurde.
Eine Kollegin hatte das Kätzchen gern genommen. Was würde er wohl sagen, wenn sie ihm erzählte, dass den Menschen, zu denen sie ein besonders gutes Verhältnis hatte, merkwürdige Missgeschicke passierten. Eigenartiger Weise war ihre Schwester nicht davon betroffen. Wenn sie zu Besuch kam, war die Freude bei Cora immer riesengroß. Selbst Frank räumte inzwischen ein, dass irgendetwas vorging. Er versuchte eine rationale Erklärung für das Zerspringen von Gläsern, Karaffen und anderen Gegenständen aus Glas zu finden. Vorsichtig hatte Charlotte angedeutet, dass Cora möglicherweise an diesen sonderbaren
Dingen beteiligt sein könnte. Sein entgeisterter Blick verfolgte sie noch lange.
„Was soll das jetzt? Glaubst du etwa, Cora wirft Gläser und Krüge um? Warum sollte sie das tun? Noch nie haben wir derartiges beobachten können.“
Er war aufgebracht aus dem Zimmer gegangen.
Wenn es so einfach wäre, hatte Charlotte gedacht. Sie hatte seitdem nie wieder mit ihm über ihre Vermutungen gesprochen. Er würde ihr nicht glauben. Aber sie wusste es. Cora war böse. Das Kind, auf das sie sich so gefreut hatte, besaß eine Macht, der Charlotte ohne Hilfe nicht gewachsen war. Aber wer sollte ihr helfen. Man würde sie für verrückt erklären.
Auf dem Heimweg von der Schule grübelte sie darüber nach. Kam aber zu keinem Ergebnis. Kurz zog sie in Erwägung, mit ihrer Schwester darüber zu sprechen. Aber Marion war seit vier Monaten verheiratet und erwartete ihr erstes Kind. Ein so beunruhigendes Gespräch wollte sie ihr jetzt nicht zumuten. Außerdem war Marion so bodenständig und praktisch. Unerklärliches gab es für sie nicht. Als sie einmal Marion gegenüber ihre Albträume erwähnte, und ihre daraus resultierende Angst, dass etwas Furchtbares passieren würde, nahm diese sie in die Arme und sagte:
„Du bist eine alte Unke. Was soll denn passieren? Du bist nur überarbeitet. Du und Frank habt viel geleistet in den vergangenen
Jahren.“
Charlotte hielt vor dem Grundstück und blieb noch einen Augenblick im Auto sitzen. Mit einem Seufzen stieg sie aus. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Es war kühl. Der Geruch des nahenden Herbstes lag in der Luft. Als sie die Küche betrat, sah sie, dass Frank schon fürsorglich ihr Abendessen bereitgestellt hatte. Die Teekanne stand auf dem Stövchen und der Brotkorb war mit einer Serviette abgedeckt. Sie brauchte nur noch den Teller mit dem Aufschnitt aus dem Kühlschrank nehmen.
Er hatte ihr das Gedeck mit dem Mohnblumendekor, das sie so mochte, hingestellt. Es passte zwar besser auf den Frühstückstisch, aber Charlotte sah die Liebe
in dieser Geste. Unwillkürlich traten ihr die Tränen in die Augen. Schnell wischte sie die Tränen ab, als sie Frank die Treppe hinunterkommen hörte. Nachdem er sie begrüßt hatte, setzte er sich an den Küchentisch und goss ihr gutgelaunt mit übermütigem Schwung Tee in die Tasse.
„Cora schläft schon“, sagte er.
„Wir haben gemeinsam gegessen und dann wollte sie gleich ins Bett gehen. Und nun erzähle. Was gibt es in der Schule Neues? Ich habe auch eine Neuigkeit.“
Charlotte blickte ihn überrascht an. Er ist so gut gelaunt, dachte sie, dass es wohl eine gute Neuigkeit ist. Ihr kam kurz der Gedanke, nichts von dem Gespräch mit dem Lehrer zu erzählen, um ihm nicht seine gute Laune zu
verderben. Aber letztlich erzählte sie doch alles, was in der Schule über Cora gesagt wurde. Als von dem Gespräch mit dem älteren Lehrer berichtete, wurde Frank sehr nachdenklich.
„Mir gefällt das auch nicht, dass Cora keinen Kontakt zu anderen Kindern hat. Vielleicht gibt es einen Lese-Klub für Kinder, in dem wir sie anmelden können. Sie liest doch so gerne. Wenn sie Kinder mit gleichen Interessen kennenlernt, schließt sie sicher auch Kontakte.
Und dass die anderen Kinder sie als böse bezeichnen ist doch nicht verwunderlich. Sie können bestimmte Eigenschaften noch nicht differenziert einordnen. Cora ist ihnen vom Intellekt überlegen, und das verunsichert sie.“
Charlotte hob den Kopf und lauschte. Sie glaubte ein Geräusch gehört zu haben. Den Finger auf den Mund legend bedeutete sie Frank still zu sein. Beide lauschten. Aber alles war ruhig.
„Wir können uns ja erkundigen“, antwortete sie, obwohl sie sich sicher war, dass Cora in keinen Lese-Klub gehen würde. Sie las ihre Bücher lieber allein. Vor einiger Zeit war sie noch von feuerspeienden Drachen begeistert. Gestern jedoch hatte Charlotte ein Buch mit Erzählungen von E.A. Poe bei ihr entdeckt. Cora hatte es sich aus der Schulbibliothek geliehen. Als Charlotte ihr sagte, dass sie dafür noch zu klein sei, und es ihr wegnahm, sah Cora sie mit einem Blick an, dass es ihr eiskalt den Rücken
hinunterlief. Als Charlotte ihr Abendessen beendet hatte und aufstand um den Tisch abzuräumen, drückte Frank sie wieder auf den Stuhl. Er holte zwei Weingläser. Die Flasche Wein hatte er schon vorher geöffnet.
„Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen, die sich sehen lassen kann“, sagte er freudestrahlend.
„Jetzt können wir endlich den Wintergarten bauen. Bis zum Spätherbst ist alles fertig.“
Charlotte freute sich. Einmal würde der Wohnbereich damit vergrößert werden, zum anderen hätten sie dann einen freien Blick auf ihren inzwischen schön angelegten Garten. Immer wieder musste diese letzte Baumaßnahme verschoben werden, weil andere Dinge wichtiger waren. Das neue Auto
vor drei Jahren hatte ein großes Loch in ihren Geldbeutel gerissen. Aber es war notwendig gewesen. Die Reparaturen an dem alten Auto hatten sich von Jahr zu Jahr gehäuft. Dass es überhaupt so lange durchgehalten hatte, war ein Wunder. Den Carport hatte Frank selbst gebaut. Das Material dafür war auch nicht billig gewesen. Wieder glaubte Charlotte ein Geräusch von oben zu hören. Aber da Frank nichts gehört zu haben schien, und begeistert Vorschläge für den Bau des Wintergartens machte, hörte sie wieder aufmerksam zu.
Zu einem weiteren Gespräch mit dem älteren Lehrer kam es nicht mehr. Zwei Wochen nach dem Elternabend stürzte er beim
Aussteigen aus dem Bus so unglücklich, dass er sich die Hüfte brach. Nach langer Krankheit wurde er vorzeitig pensioniert. Von dem Unfall berichtete Cora zu Hause. Sie war im gleichen Bus. Seit kurzem fuhr sie allein die wenigen Stationen zur Schule in Heiligenrode.
In einem Lese-Klub konnte Cora nicht angemeldet werden. Aber das lag einfach daran, dass keine derartige Einrichtung in unmittelbarer Nähe war.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013