Der Junge streckte die Hand nach Mizusu aus. Doch anstatt sie zu packen, hoch er die schwarze Schatulle auf, die aus der Tasche der 16 – Jährigen gefallen war. Er ging behutsam mit dem Gegenstand um, was Mizusu nicht erwartet hatte. Der junge drehte die Schatulle und betrachtete sie von allen Seiten. „Da wo alles beginnt und alles endet“, sagte er, mehr zur Schatulle als zu Mizusu. Dann drückte er die drei Holzstifte unterschiedlich weit nach hinten und mit einem Klacken öffnete sich das Schloss. „Wo…woher kennst du den Code?“, fragte Mizusu mit zitternder
Stimme. Der Junge sah von der Schatulle auf, als hätte er vollkommen vergessen, dass sie noch da war. Er legte den Kopf schief und betrachtete sein Gegenüber. Dann zeigte er auf die Schatulle und auf Mizusu. „Sie gehört meinem Kumpel, Yuki“, antwortete die 16 – Jährige. Bei dem Namen ihres Freundes flammte Hoffnung in den Augen des Jungen auf. Er kam noch ein Stück dichter. „Kennst du ihn etwa?“, fragte Mizusu. Der Junge nickte. Er hatte die Schatulle neben sich auf den Boden gestellt und seine komplette Aufmerksamkeit war nun auf Mizusu gerichtet. Diese erklärte, dass Yuki hier in der Anstalt sei, jedoch niemand zu
ihm dürfe. Der Junge nahm die Schatulle und gab sie der 16 – Jährigen, dann richtete er sich auf, sah sich kurz um und verschwand in der leere der Korridore. Mizusu´s Herz schlug noch immer mit erhöhtem Puls. Wer war dieser Junge? Und warum hatte er Ohren wie eine Katze? Erst jetzt fiel der 16 – Jährigen ein, dass er die Schatulle hatte öffnen können. Hatte er sie Yuki hinterlassen? Mizusu öffnete den Deckel und betrachtete das Innere der kleinen Schachtel. Sie fand Briefe und alte Fotografien. Nach und nach nahm sie die Dokumente heraus und las sie. Es war eine schöne Handschrift, selbstsicher
und sauber. Jeder der Briefe war an Yuki Tsukiya adressiert, doch offenbar wurde keiner von ihnen je abgesendet. Die 16 – Jährige nahm den ersten Brief und begann ihn zu lesen: Mein geliebter Bruder, ich habe längst aufgegeben zu zählen, wie oft ich versucht habe, dir zu schreiben. Jedes Mal habe ich den Brief jedoch verworfen. Ich werde den Tag, an dem wir uns zuletzt gesehen haben, nie vergessen. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, aber wir sind wie immer geflohen. Falls es dir bis zu diesem Tag niemand erzählt hat, werde ich es tun. Sie haben dich angeschossen und du
warst kurz davor zu verbluten und hast das Bewusstsein verloren. Auch ich war verletzt, aber es war wichtiger, dich in ein Krankenhaus zu bringen. In der Notaufnahme bist du endlich aufgewacht, doch du konntest dich nicht mehr an mich erinnern. Weißt du, wie sehr es weh tut, wenn die einzige Person, die dir geblieben ist, dich nicht erkennt? Aber dich trifft keine Schuld. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages wieder sehen und du dich an mich erinnerst. Ich habe und werde dich nie vergessen. Bis zu dem Tag an dem wir uns wiedersehen werde ich immer an dich
denken. Akuma Mizusu ließ den Brief sinken. Er war Yuki´s Bruder? Es muss wirklich schlimm für ihn sein, dass Yuki sich nicht an ihn erinnert. Tränen rannen über das Gesicht der 16 – Jährigen. Sie wusste, wie es war, jemand wichtigen zu verlieren. Sie legte den Brief zur Seite und nahm ein altes Foto aus der Schatulle. Darauf war eine glückliche Familie abgebildet: eine Mutter und ihr Mann und vor ihnen zwei kleine Jungen, Zwillinge. Doch ein kleines Detail unterscheid die Familie von allen anderen: Sie waren alle Katzenmenschen.
Doch wenn diese Schatulle Yuki´s Vergangenheit sein sollte, hieße das, dass auch er ein Katzenmensch war. Doch er hatte nicht die Ohren einer Katze oder einen Schwanz. Er sah aus, wie ein normaler Mensch.
Die 16 – Jährige packte alles zurück in die Schatulle, schloss den Deckel und stand auf. Sie musste zurück zu Yuki und ihm alles erklären. Dies war die Antwort, nach der er die ganze Zeit gesucht hatte.
Der Nebel hatte mich in seine Arme geschlossen. Alles um mich herum schien auf einmal irreal und verworren. Kein Geräusch drang zu mir durch und den Konturen war die Härte genommen. Plötzlich glaubte ich vor mir die Gestalt von zuvor zu erkennen. Ich ging auf ihn zu, darauf bedacht unentdeckt zu bleiben. Zwar war er wie ich, doch es war nicht sicher, ob er ein Freund oder ein Feind war. Ich war schon weit in den Wald vorgedrungen und es bestand keine Möglichkeit, dass die Pfleger und Ärzte der Anstalt mich einholen könnten. Da trat die schattenhafte Gestalt aus dem
Nebel. Ihre Konturen wurden schärfer und ich konnte seine Gesichtszüge schwach erkennen. „Aku, bist du das?“, fragte eine seltsam vertraute Stimme. Ich wusste nicht warum, doch ich hatte diese Stimme schon einmal gehört. Doch sie hatte sich mit dem Alter verändert. Aus Reflex nahm ich eine abwehrende Haltung ein. Der Schatten trat nun endgültig aus dem Nebel und ich glaube, ich träumte. Der Junge sah aus, als sei er mein Spiegelbild. Nur das seine Haare von blauen Strähnen durchzogen waren. Ich legte den Kopf schief. „Aku, ich bin es. Yuki“, erklärte der Junge sanfter Stimme.
Wir liefen durch die dunklen Gänge des Hauses. Unsere Schritte waren unbedacht und laut. Yuki lief vor mir davon, hinaus in den Garten und um die großen Bäume herum. Plötzlich stolperte ich und fiel der Länge nach hin. Schmerz schoss durch meinen gesamten Körper und Tränen liefen über meine Wangen. Yuki kam zurück und hockte sich neben mich. „Bist du wieder hingefallen?“, fragte er und strich mir über den Kopf. Mutter und Vater waren tot, also war er es, der sich um mich kümmerte. Er nahm meinen Kopf und legte ihn auf seinen Schoß. Er wusste,
dass er mich so beruhigen konnte, Mutter hatte es damals genau so getan. Er war dichter gekommen und streckte eine Hand nach mir aus. Mein erster Impuls verlangte, nach der Hand zu schlagen, doch ich war zu neugierig und schnupperte daran. Er war es wirklich. Dieser unverkennbare Geruch unseres zu Hauses haftete an ihm. Ich maunzte und stupste mit der Nasenspitze gegen seine Handfläche. Yuki strahlte über das ganze Gesicht und kraulte meinen Kopf. Das hatte man lange nicht mehr bei mit getan. Dann zog Yuki mich an sich und hielt mich so fest er konnte. „Ich habe´ dich endlich gefunden, Aku“, schluchzte
er und vergrub sein Gesicht in meiner Schulter. Er hatte also nach mir gesucht. Dieser Gedanke überwältigte mich. Es hatte tatsächlich in all diesen Jahren jemanden gegeben, der sich um mich gesorgt hatte. Ich maunzte und schmuste mich an meinen Bruder. „Aber du kannst immer noch nicht sprechen. Nach fast 100 Jahren“, stellte Yuki mit Tränen in den Augen und einem Lachen im Gesicht fest. Ich sah ihn verdutzt an und mauzte ein zweites Mal. „Na komm erst einmal mit. Ich glaube sie suchen nach uns“, meinte Yuki und tatsächlich konnte man in der Ferne die ersten Stimmen hören.