Der Urlaub
14. Kapitel
Das Telefon klingelte. Als der Professor mit einer Entschuldigung aufstand und ins Lanai ging, blickte Carla ihm noch vollkommen verwirrt von dem eben Gehörten nach. Das Gespräch des Professors schien etwas länger zu dauern. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken dem Gespräch zu lauschen. Deshalb stand sie auf und ging zu dem kleinen künstlich angelegten Teich, der nur wenige Schritte entfernt war. Sie blickte auf die Lotosblumen, die auf dem Wasser schwammen, konnte sich jedoch nicht wie
sonst an ihnen erfreuen.
Ein fremder Mensch erzählt mir Dinge aus dem Leben meiner Tante, die ich eigentlich von meiner Mutter wissen sollte, dachte sie.
Obwohl es ihr schwer gefallen war, hatte sie den Professor mit keinem Wort unterbrochen. Es fiel ihm sichtlich nicht leicht die nötige Distanz zu seinen eigenen Worten zu finden. Wie oft mochte er diese oder ähnliche Worte schon von Charlotte gehört haben, grübelte Carla. Doch was sie wirklich ängstigte, war die Tatsache, dass sie das Kind auf dem Foto schon mehrmals gesehen hatte. Sie versuchte eine rationale Erklärung dafür zu finden, aber ihre Gedanken drehten sich nur im Kreise. Als sie bemerkte, dass der Professor die Terrasse betrat, ging sie
beunruhigt zu ihrem Stuhl zurück. Sie ahnte, dass er mit seiner Erzählung noch lange nicht am Ende war und diese ihr nicht gefallen würde.
„Das war mein Kollege aus Jakarta“, sagte der Professor kurz.
„Außerdem habe ich uns einen kleinen Imbiss bestellt. Ich glaube, der wird uns beiden recht gut tun.“
Carla dachte daran die Koglers zu informieren wo sie sich aufhielt. Frau Kogler hatte bestimmt wieder nach ihr schauen wollen und wunderte sich vielleicht, dass sie in der Villa niemanden antraf. Sie teilte ihre Absicht dem Professor mit, denn sie hatte ihm von der mitfühlenden Hilfe Frau Koglers erzählt. Da sie ihr Handy nicht mitgenommen
hatte, wollte sie zum Strand gehen, um Bescheid zu sagen. Aber der Professor bot ihr sofort das Telefon im Lanai und sein Handy an. Da sie den Zettel mit den Telefonnummern auch nicht mitgenommen hatte, ließ sie sich vom Haustelefon über die Rezeption mit der Villa der Koglers verbinden. Sie hatte Glück. Herr Kogler hob ab. Während des kurzen Gespräches schaute sie auf das Bett des Professors.
Es war übersät mit losen Seiten auf denen die unterschiedlichsten Tempel zu sehen waren. Auf einigen Seiten erkannte Carla Szenen, die offenbar Rituale darstellten. Als Carla auf die Terrasse zurückkam, sah sie, dass der Professor ein pralles Briefkuvert in der Hand hielt, das er, als sie an den Tisch
trat, neben den großen Umschlag, aus dem er das Foto von Cora genommen hatte, legte. Sichtlich bewegt, aber auch entschlossen, begann er den Rest der Geschichte zu erzählen. Jedenfalls den Teil, um den ihn Charlotte gebeten hatte.
Die ersten Monate mit Cora verliefen ereignislos. Sie weinte nicht, nahm ihre Mahlzeiten problemlos, schlief während der Nacht und gewährte damit auch ihren Eltern den nötigen Schlaf. Ihre Entwicklung schritt schnell voran. Zu schnell, dachte Charlotte. Im zweiten Winter nach Coras Geburt, den diese jetzt schon bewusst wahrnahm - sie war noch nicht einmal eineinhalb Jahre alt - merkte Charlotte, dass diese Jahreszeit von
Cora abgelehnt wurde.
Es war wieder Winter. Charlotte versuchte mit einem Handtuch die Feuchtigkeit aus dem Teppich im Wohnzimmer aufzusaugen. Immer wieder wrang sie das Tuch über einem Eimer, der neben ihr stand, aus. Ab und zu blickte sie möglichst unauffällig zu Cora. Auf einer bunten Decke, die Charlotte unmittelbar an der Heizung auf den Boden gelegt hatte, saß Cora und blickte mit erhobenem Kopf aus dem Fenster. Draußen schneite es. Das war auch der Grund warum Cora plötzlich ihr Gesicht Charlotte zuwandte und sie mit einem bösen Blick bedachte. Charlotte wusste, dass Cora Kälte und Schnee nicht
mochte, war jedoch, wie schon so oft, erschrocken über die Intensität dieses Blickes. Schon wenn sie Coras Jacke und Stiefel holte und damit erkennbar war, dass sie das Haus verlassen wollten, schrie Cora und schlug um sich. Die Kraft, die sie dabei entwickelte, überraschte Charlotte jedes Mal. Nur wenn Frank zu Hause war, lief die Prozedur des Anziehens einigermaßen glimpflich ab. Charlotte warf das Tuch in den Eimer und brachte ihn in die Küche. Wegräumen würde sie später. Die Scherben der zerbrochenen Vase hatte sie schon in den Müll geworfen und die Blumen erst einmal in die Spüle in der Küche gelegt. Sie würde sie später in eine andere Vase stellen. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie Cora nicht
lange unbeaufsichtigt lassen durfte. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam blickte Cora wieder aus dem Fenster. Das Märchenpuzzle, das auf der Decke lag, beachtete sie nicht. Die beiden Bücher mit Abbildungen von Tierkindern, die Charlotte ihr noch vor kurzem dazugelegt hatte, hatte sie sofort zornig von der Decke geschoben. Als Charlotte sich jetzt zu ihr setzte, schenkte Cora ihr keine Beachtung. Sie muss Kontakt zu anderen Kindern haben, dachte Charlotte. Hoffentlich bekam sie den Kindergartenplatz, für den sie Cora angemeldet hatte. Dann könnte sie Cora schon in vier Wochen morgens dort abgeben und am zeitigen Nachmittag wieder abholen. Und sie könnte wieder arbeiten gehen - wenigstens halbtags.
Während sie die Kleine betrachtete überlegte sie, wie es möglich war, dass die Vase vom Couchtisch fallen konnte. Sie hatte das Zimmer nur verlassen, um in der Küche die Herdplatte auszuschalten.
In dieser Zeit konnte Cora unmöglich aufgestanden sein und die Vase vom Tisch geworfen haben. Außerdem hätte sie dann vor Schreck geweint.
„Nein, das hätte sie nicht“, stellte Charlotte mit erschreckender Klarheit fest. Dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte, war ihr gar nicht bewusst. Cora hat noch nie geweint, wenn etwas kaputt gegangen war, an dem sie vielleicht die Schuld trug, sinnierte Charlotte. Und es waren immer Dinge, die ihr viel bedeuteten, wie diese Vase eben, die eines
der letzten Geschenke von ihrer Mutter war, bevor diese starb.
Charlotte hörte das Öffnen der Haustür und wunderte sich, dass Frank schon so zeitig von der Arbeit kam. Auch Cora hatte Frank gehört. Ein Lächeln überzog ihr hübsches kleines Gesicht. Frank betrat strahlend das Wohnzimmer und begrüßte liebevoll Charlotte, bevor er sich Cora zuwandte. Das Lächeln verschwand kurz von Coras Gesicht, kehrte aber nachdem Frank sie auf den Arm genommen hatte, zurück.
„Jetzt liest du mir die Geschichte vom Mädchen mit den Schwefelhölzchen vor“, sagte sie zu Frank und schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals.
Für ihre zweieinhalb Jahre sprach sie weitaus
besser als andere gleichaltrige Kinder. Ihr umfangreicher Wortschatz entsprach ebenfalls nicht ihrem Alter. Selbst der Kinderarzt, bei dem Charlotte Cora in regelmäßigen Abständen vorstellte, schüttelte jedes Mal verwundert den Kopf. Ihre gesamte Entwicklung war so schnell fortgeschritten, dass altersgerechtes Spielzeug für sie nicht mehr in Frage kam. Außerdem war sie erstaunlich selbständig.
Diese Selbständigkeit bemerkte jedoch nur Charlotte. Wenn Frank zu Hause war, war Cora immer das kleine hilflose Mädchen. Jetzt lächelte er und sagte:
„Nein Cora, ich bin extra zeitig nach Hause gekommen, damit wir heute rodeln gehen können. Es liegt so viel Schnee. Wir fahren
zum Osterdeich und bevor wir wieder nach Hause fahren, schauen wir uns noch die Bremer Stadtmusikanten am Rathaus an.“
Coras Blick verdüsterte sich. Charlotte sah in welchem Widerstreit Cora sich befand. Einmal wollte sie nicht in die Kälte hinaus, zum anderen wollte sie Franks gute Laune nicht verderben. Charlotte war gespannt, wie Cora sich weiter verhalten würde.
Den warmen Luftzug, der an ihr vorbeizog, registrierte sie nur im Unterbewusstsein. Plötzlich hörten sie ein lautes Geräusch aus der Küche. Erschrocken lief Charlotte in die Küche. Frank folgte ihr, nachdem er Cora auf die Decke gesetzt hatte. Das Glas mit eingemachten Erdbeeren, welches Charlotte schon zum Öffnen bereitgestellt hatte, war in
zwei Teile zersprungen. Die Früchte hatten sich auf dem Tisch ausgebreitet und der rote Saft tropfte auf den Boden. Beide schauten verwundert auf das Chaos. Frank deutete auf die in der Spüle liegenden Blumen und den noch in der Küche stehenden Eimer und blickte Charlotte fragend an. Sie hob die Schultern und sagte leise:
„Heute ist kein guter Tag.“
„Jetzt muss sauber gemacht werden“, sagte Cora.
Sie stand in der Türöffnung und sah Charlotte und Frank mit ihren dunklen Augen an.
Im gleichen Augenblick fiel im Wohnzimmer die kleine Tiffanylampe, die Frank Charlotte letzte Weihnachten geschenkt hatte, von der
Fensterbank und zerbarst in tausend Scherben. Die kleinen Glassplitter waren überall im Zimmer verteilt.
Als Charlotte und Frank mit dem Aufräumen und Reinigen fertig waren, setzte bereits die Dämmerung ein. Der Ausflug fiel an diesem Tag aus.
Cora ging seit drei Monaten in den Kindergarten. Die Erzieherinnen liebten das hübsche intelligente Mädchen. Zu den anderen Kindern hatte Cora keinen Kontakt. Sie spielte immer allein. Deshalb saß oft eine Erzieherin bei ihr, die sich mit ihr beschäftigte. Da sie lieb und folgsam war, taten sie es gern. Nur wenn es ans Hände oder Gesicht waschen ging, wehrte sie sich
mit aller Kraft. Wasser lehnte Cora grundsätzlich ab. Auch Charlotte hatte ihre Kämpfe mit ihr, wenn es um das abendliche Bad ging. Jetzt hatte Frank diese Aufgabe übernommen. Die Prozedur lief zwar etwas ruhiger ab, hatte aber zur Folge, dass Cora nach dem Bad kein Wort mit Charlotte sprach. Wenn Charlotte sich über sie beugte, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben, wandte sie wortlos den Kopf zur Seite. Unglücklich schaute Charlotte dann auf das kleine Kindergesicht, drehte sich dann aber um und verließ das Kinderzimmer.
Ihr Verhältnis zu Cora wurde immer komplizierter. Wenn sie mit Frank darüber sprechen wollte, nahm er sie liebevoll in seine Arme und sagte:
„Das wird sich schon ändern. Sie ist eben ein kleiner Trotzkopf.“
Charlottes Mutter hätte Rat gewusst. Aber die war vor einem Jahr gestorben. Und ihre Schwester Marion war noch so jung. Mit ihr wollte sie darüber nicht sprechen. Marion liebte die Kleine abgöttisch. Die beiden alberten und kuschelten, wenn sie zusammen waren. Kein Wunder, dass Marion vernarrt in sie war. Charlotte konnte sich mitunter des Gefühls nicht erwehren, dass Coras Verhalten durchdacht und planvoll war. Dabei hätte jetzt alles so schön sein können. Charlotte hatte wieder Arbeit in ihrem Beruf gefunden.
Sie brauchten sich finanziell nicht mehr so einschränken. Cora war tagsüber gut versorgt
und das Haus war auch fast fertig. Nur der Wintergarten, der vom Wohnzimmer betreten werden sollte - eine zweiflügelige Glastür hatte Frank beim Hausumbau schon einbauen lassen - fehlte noch. Dazu mussten sie jedoch noch etwas Geld ansparen. Sie hatte zwar noch die alte Küche, aber die würde irgendwann auch durch eine neue ersetzt werden. Jetzt war Charlotte auf dem Weg zum Kindergarten. Sie hatte heute etwas früher Feierabend gemacht. Die Leiterin des Kindergartens hatte sie zum Gespräch gebeten. Als Charlotte den großen Garten der Einrichtung betrat, kam ein kleiner Junge ungelenk auf sie zugelaufen und umklammerte ihre Beine. Er sah lachend zu ihr auf und brabbelte unverständliche
Worte. Als sie sich zu ihm hinunter beugte und ihm ebenfalls lachend übers Haar strich, wurde ihr wieder - wie so oft - bewusst, dass sie sich nach solchen spontanen Reaktionen und Gesten von Cora sehnte. Die Erzieherin, die herbeieilte, um den Kleinen wieder zu seiner Gruppe zu holen sagte:
„Er ist unser Jüngster und noch nicht lange bei uns. In der kurzen Zeit hat er es geschafft uns alle um den Finger zu wickeln.“
Sie griff nach seiner Hand und sagte herzlich:
„Komm´ Manuel, wir holen jetzt deine Schwester.“
Sie wandte sich noch einmal um und rief Charlotte zu:
„Seine Schwester ist in Coras Gruppe.“
Charlotte blickte den beiden nach und
entdeckte dabei Cora in einer Gruppe von Kindern, die Cora aber nicht in ihr Spiel einbezogen. Ohne erkennbare Anzeichen ihr entgegenzulaufen blickte sie zu Charlotte. Mit einem Seufzen betrat Charlotte das Gebäude. Die Kindergartenleiterin schlug Charlotte vor, Cora in eine Gruppe mit älteren Kindern zu geben, da sie erkannt hatte, dass das Kind in der jetzigen Gruppe unterfordert war. Charlotte stimmte sofort zu, insgeheim hoffend, dass sich diese Veränderung positiv auf das Verhalten Coras auswirken würde. Stolz berichtete Cora zu Hause, dass sie jetzt zu den ´Großen` gehören würde. Sie bekam natürlich lobende Worte von Frank. Von ihm unbemerkt warf sie einen kalten Blick auf Charlotte. Aber
Charlotte bemerkte ihn und zuckte betroffen zusammen.
Für den oberflächlichen Beobachter schien das Verhalten Coras entspannter zu sein. Aber Charlotte, die inzwischen äußerst sensibel auf bestimmte Verhaltensmuster von Cora reagierte und einen ´siebten Sinn` für Katastrophen entwickelt hatte, stand fest, dass es in Cora brodelte.
Der dritte Geburtstag von Cora stand bevor. Auf ihrem Geburtstagstisch sollten viele Kerzen stehen. Das hatte sie sich gewünscht. Tante Marion sollte kommen. Sie brachte immer schöne Geschenke mit. Als Frank fragte, welche Kinder sie denn einladen möchte, schüttelte sie ablehnend den Kopf.
Charlotte schlug vor, den kleinen Manuel einzuladen. Er könnte mit seiner älteren Schwester kommen, versuchte Charlotte, Cora zu überreden. Die einzige Reaktion auf Charlottes Vorschlag war ein trotzig verzogener Mund und ein eiskalter Blick.
Diesen bemerkte diesmal auch Frank. Er wies Cora scharf zurecht und schickte sie in ihr Zimmer. Da Charlotte aber unruhig wurde, wenn Cora längere Zeit unbeaufsichtigt war, suchte sie nach einem Vorwand in Coras Zimmer zu gehen. Sie holte einen Wäschekorb aus der Kammer neben der Küche und betrat das Kinderzimmer. Sie fand es sehr warm im Raum. Aber es war auch ein heißer Tag gewesen. Cora saß auf dem Bett und würdigte Charlotte keines Blickes. Auf
dem Schoß hatte sie ein Märchenbuch. Die Seite, die sie aufgeschlagen hatte, zeigte eine Illustration. Mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand zeichnete sie die Konturen des Bildes nach. Dabei bewegte sie trotzig die Lippen. Aus der Entfernung konnte Charlotte nicht erkennen, was das Bild darstellte. Charlotte kniete vor der Kommode, in der Coras Pullover und Shirts lagen. Die Sachen, aus denen Cora herausgewachsen war, legte sie in den Wäschekorb. Sie würde sie in einen Karton packen und diesen auf den Speicher stellen. Aus der Küche drang das laute Klappern von Geschirr. Frank bereitete das Abendbrot zu. Offenbar war er immer noch ärgerlich auf Cora und griff deshalb etwas robuster nach dem Geschirr.
„Ach, du meine Güte“, hörte sie ihn plötzlich rufen.
Charlotte lief schnell hinunter in die Küche und sah Frank verwundert am Herd stehen. Den Topf mit den Nudeln musste er gerade von der heißen Herdplatte genommen haben, denn er hielt noch die Topflappen in der Hand. Auf dem bereits gedeckten Tisch war der Glaskrug, den Frank in die Mitte des Tisches gestellt und mit Traubensaft gefüllt hatte, in zwei Teile zerbrochen. Der rote Saft breitete sich auf dem Tisch aus. Rinnsale bildeten sich an den Tischkanten. An einigen Stellen war der Saft schon auf den Boden getropft.
Am nächsten Morgen hatte Cora die Zurechtweisung von Frank offenbar
vergessen. Noch bevor Frank zur Arbeit fuhr, kam sie die Treppe hinunter, umklammerte seine Beine und kicherte fröhlich. Auch Charlotte bedachte sie mit freundlichen Blicken. Das verfehlte natürlich nicht die beabsichtigte Wirkung auf Frank. Als er sie auf den Arm nahm, schlang sie die Arme um seinen Hals und erinnerte ihn daran, dass sie sich viele Kerzen auf ihrem Geburtstagstisch wünsche. Oma und Opa, Franks Eltern, sollten kommen und natürlich Tante Marion. Und Manuel und seine Schwester könnten auch kommen. Frank und Charlotte sahen sich überrascht an. Lächelnd strich Frank Cora über das blonde Haar und verabschiedete sich von ihr und Charlotte. Während Charlotte das Frühstück für Cora
bereitete, die schon am Tisch saß, sah sie immer wieder zu ihr hin. Auch jetzt lächelte Cora. Dabei blickte sie jedoch Charlotte nicht an. Als Charlotte sie fragte, ob sie an etwas Schönes denken würde, bekam sie keine Antwort.
Als Charlotte am Nachmittag Cora vom Kindergarten abholte, wunderte sie sich, dass trotz des schönen Wetters kein Kind im Garten spielte. Sie war an diesem Tage etwas spät und hoffte, dass die Erzieherin nicht wieder missbilligend den Kopf schütteln würde. In letzter Zeit war es hin und wieder vorgekommen, dass sie länger arbeiten musste. Als sie das Gebäude betrat, fiel ihr sofort die Unruhe auf, die bei den Erzieherinnen und auch bei den Kindern
herrschte. Als sie fragte, ob etwas passiert sei, erzählte man ihr, dass der kleine Manuel mit Schnittverletzungen im Gesicht laut weinend im Garten gelegen hatte.
Die Laterne der Gartenbeleuchtung war zersprungen und einige der umherstreuenden Glasscherben hatten sein Gesicht verletzt.
Das wurde jedenfalls vermutet, denn gesehen hatte es niemand. Die verantwortliche Erzieherin war gerade mit einem anderen Kind beschäftigt. Und Manuel war noch zu klein um den Hergang schildern zu können. Jetzt war er im Krankenhaus.
„Nur gut, dass Cora so ein kluges Mädchen ist“, sagte eine Erzieherin.
„Sie stand mit einer großen Glasscherbe
neben Manuel. Wahrscheinlich hat sie diese von seinem Gesicht oder vom Körper genommen. Sie war vollkommen aufgewühlt und konnte uns keine Erklärung geben. Aber jetzt hat sie sich beruhigt. Sie erneut darauf ansprechen möchten wir nicht. Wir sind so froh, dass sie sich nicht auch noch verletzt hat.“
Bestürzt hatte Charlotte der Erzieherin zugehört. Mit Worten des Bedauerns über das Unglück des kleinen Manuel verabschiedete sie sich schnell von ihr und holte Cora aus dem Gruppenraum. Auf dem Nachhauseweg war sie dieses Mal froh, dass Cora schwieg. Beunruhigende Gedanken geisterten durch ihren Kopf. Vier Tage später feierte Cora ihren dritten Geburtstag. Oma
und Opa kamen. Tante Marion schenkte ihr ein neues Märchenbuch, ein dickes Malbuch und Buntstifte. Und auf ihrem Geburtstagstisch standen viele Kerzen.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013