Der Urlaub
13. Kapitel
Charlotte war siebzehn als eine alte Zigeunerin auf dem Grand Place in Brüssel ihre Hand nahm und sich die Handfläche sehr genau ansah. Sie fuhr mit dem Finger über einige Handlinien und murmelte dazu Worte in einer für Charlotte unverständlichen Sprache. Dann sagte sie zu ihr:
„Gebäre niemals ein Kind im Zeichen des Feuers.“
Da diese Worte von der Zigeunerin in schlecht verständlichem Französisch gesprochen wurden und Charlotte diese
Sprache ebenfalls kaum beherrschte, glaubte sie, sich verhört zu haben. Schon eine Stunde später hatte Charlotte diese Worte schon fast wieder vergessen. Sie war jung und im Kreise ihrer Mitschülerinnen. Auf einer Klassenfahrt hatte sie anderes zu tun, als über die Worte einer alten Zigeunerin nachzudenken.
Fünf Jahre später, als sie Frank Habermann kennenlernte, erinnerte sie sich noch nicht einmal mehr an die Zigeunerin. Sie hatte vor zwei Monaten ihre Ausbildung als Innendekorateurin abgeschlossen und war dabei die Schaufensterreihe eines Kaufhauses erstmalig allein zu dekorieren. Auf der Straße stand ein junger Mann, der sie schon einige Zeit durch die Scheibe
beobachtete. Obwohl Charlotte das bemerkte, arbeitete sie zügig weiter. Verstohlen warf sie ab und zu einen Blick auf ihn und musste sich eingestehen, dass er ihr gefiel. Plötzlich klopfte es an der Scheibe. Der junge Mann hielt lächelnd einen Zettel hoch, auf dem in großen Buchstaben stand:
„Wann haben Sie Feierabend?“
Charlotte trat an die Scheibe, schaute auf den Zettel, überlegte kurz und hob dann ihre Hand mit ausgestreckten fünf Fingern. So lernten sie sich kennen.
Frank Habermann war angehender Bauingenieur und absolvierte gerade sein letztes Semester.
Als sie heirateten war Charlotte
fünfundzwanzig und glaubte das Glück gepachtet zu haben. Sie irrte sich.
Frank hatte von seiner Großmutter ein altes Einfamilienhaus mit Garten geerbt. Und so zogen sie schon bald nach der Hochzeit in einen kleinen Ort, der etwa 25 km östlich von Bremen lag und kaum auf einer Karte zu finden war. Das Haus war alt und verwohnt, das Dach nicht dicht, die Elektrik lebensbedrohlich und das kleine Bad schien aus einem Museum zu stammen. Die notwendigen Reparaturen durchführen zu lassen, hatte Franks Großmutter immer abgelehnt.
„Wenn ich nicht mehr bin, könnt ihr reparieren, soviel ihr wollt“, hatte sie zu Franks Vater gesagt.
Zum Haus gehörte ein großer Garten, der einem unbewirtschafteten Feld ähnelte und nur von einigen knorrigen Obstbäumen belebt wurde. Die Johannisbeersträucher, die am Zaun standen, wirkten genauso trostlos, wie der baufällige Schuppen am Ende des Gartens. Verwandte und Freunde rieten ihnen das Haus lieber zu verkaufen und vielleicht noch einen kleinen Erlös zu erzielen, als in dieses Fass ohne Boden zu investieren. Aber dank Franks Kenntnissen im Bauwesen und Charlottes Geschick im Einrichten und Dekorieren wurde mit den Jahren ein kleines Schmuckkästchen aus ihm. Jeden Morgen fuhren sie nach Bremen mit dem Bus zur Arbeit. An den etwas umständlichen Anfahrtsweg hatten sie sich
schnell gewöhnt. Wenn sie abends nach Hause kamen wurde gewerkelt. Das Geld war knapp und so gingen Umbauten und Veränderungen am Haus eben nur schleppend voran. Nach zwei Jahren war ein neues Dach auf dem Haus und die untere Etage war fertig. Sie hatten die alten Küchenmöbel von Franks Großmutter abgeschliffen und eine kräftige blaue Farbe für den neuen Anstrich gewählt. Die Zierleisten wurden weiß gestrichen und so wirkte die frisch renovierte Küche recht gemütlich.
Ein Kiefernholztisch mit vier Stühlen stand direkt am Fenster. Charlotte hätte zwar gern eine moderne Küche gehabt, aber andere Anschaffungen waren wichtiger. Manchmal
nahmen Charlotte und Frank sich eine Auszeit und machten einen langen Spaziergang durch den nahen Wald oder streiften nur über die Wiesen. Mit einem Strauß bunter Wiesenblumen kamen sie zurück, der seinen Platz dann auf dem Küchentisch bekam. Die Elektrik war nicht mehr lebensgefährlich und sogar das Bad verdiente jetzt seinen Namen. Die obere Etage war immer noch eine Baustelle. Nur Toilette und Dusche waren bereits fertig. Charlotte fand das Bad in der unteren Etage zwar für ausreichend, aber Frank hatte auf den Einbau eines zweiten Sanitärbereiches bestanden. Und jetzt war sie froh darüber. Ein Zimmer wurde dadurch etwas kleiner, war aber immer noch groß genug, um es später
als Kinderzimmer zu nutzen. Dieses Zimmer hatten sie sich notdürftig als Schlafraum eingerichtet. Das Nebenzimmer, ihr künftiges Schlafzimmer, sollte in vier Wochen fertig sein. Dort wollten sie auch das Kinderbettchen aufstellen bis das Kinderzimmer fertig war. Charlotte war im siebten Monat schwanger.
Obwohl sie Angst vor der Geburt hatte, sehnte sie diese doch herbei. Sie wollte die Schwangerschaft endlich hinter sich bringen. Es verging kein Tag, an dem sie keine Schmerzen hatte, an dem ihr nicht übel war und sie keine Beschwerden beim Atmen hatte. Mehrmals hatte sie einige Tage im Krankenhaus gelegen. Doch gründliche Untersuchungen hatten immer wieder
ergeben, dass alles in Ordnung war. Ihre Mutter, die zu diesem Zeitpunkt noch lebte, war sehr besorgt.
„Das ist nicht normal“, sagte sie häufig zu Charlotte.
„Aber wenn die Ärzte sagen, dass alles in Ordnung ist, wird es schon seine Richtigkeit haben.“
Zur Arbeit fuhr sie schon seit Wochen nicht mehr, da der Arzt sie wegen ihres schlechten Allgemeinzustandes krank geschrieben hatte. Und eine Hilfe für Frank war sie auch nicht mehr. Sie hätte gern den Garten ein bisschen verschönert, denn dieser sah noch fast so aus, wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn übernommen hatten. Es hatte einfach die Zeit gefehlt und jetzt war sie dafür in einer viel
zu schlechten Verfassung.
Überwuchert von hohem Gras machte er einen recht verwilderten Eindruck.
Die Obstbäume und die an den Zaun gepressten Johannisbeersträucher machten auch keinen gesunden Eindruck und müssten entfernt werden. Aber es gab für Frank jetzt Wichtigeres, das erledigt werden musste. Manchmal nahm er den alten Rasenmäher, den er billig von einem Bewohner aus dem Ort gekauft hatte, und versuchte etwas Übersichtlichkeit in das Grasdickicht zu bringen. Nur gut, dass sie keine Nachbarn hatten, denn das vorsintflutliche Gerät machte einen höllischen Lärm. Da ihr Haus jedoch außerhalb des Ortes lag - im Niemandsland, wie Frank immer
sagte - störte es niemanden. Am linken und hinteren Gartenende schloss ein großes Maisfeld an und die rechte Seite wurde von Brachland begrenzt an dessen Rand eine Reihe hoher Pappeln stand. In der Ferne hinter dem Maisfeld sah man hier und da das Dach eines Hauses. Eine unbefestigte schmale Straße führte zwischen Baumgruppen, überwiegend waren es Ahornbäume, zu ihrem Haus. Von der Landstraße, die in den Ort führte, konnte man das Haus nicht sehen.
Jetzt stand Charlotte im Garten und blickte auf den alten Ford, der vor dem Gartentor stand. Vor vier Monaten hatte Frank ihn günstig von einem Kollegen gekauft. Inständig hoffte sie, dass er ihnen noch einige
Zeit die Treue halten würde.
Im Haus hörte sie ein lautes Klappern. Vielleicht war Frank etwas von der Leiter gefallen. Er strich gerade die Zimmerdecke.
„So ein Mist“, drang es aus dem offenen Fenster.
Sie drehte sich um und ging zum Haus zurück. Sie wollte sehen, was passiert war. Außerdem nahm ihr die Hitze die Luft zum Atmen. Schon seit einer Woche - es war Ende Mai - hielt sich das hochsommerliche Wetter.
Ein plötzlicher Schmerz ließ sie zusammenzucken. Er ließ auch nicht nach und sie hatte das Gefühl ihr Leib würde mit unermesslicher Kraft auseinandergerissen. Zusammengekrümmt stützte sie sich an der
Hauswand ab, bevor sie mühsam ins Haus gehen konnte. Als sie sich im Wohnzimmer auf die Couch legte, dachte sie, wenn das Kind doch nur früher kommen würde. Der errechnete Geburtstermin war der dreißigste Juli.
Charlotte war seit drei Tagen im Krankenhaus. Zur Beobachtung beruhigten sie die Ärzte. Es ist alles in Ordnung. Komplikationen seien nicht zu befürchten. Seit vier Stunden hatte sie Wehen. Deren Intensität ließ eine baldige Geburt vermuten. Für Charlotte kroch die Zeit dahin, ohne sichtbaren Geburtsfortgang. Sie durchlebte qualvolle Stunden. Das Kind ließ sich Zeit. Sehr viel Zeit. Der Arzt und die Hebamme
waren ratlos. Die Lage des Kindes wies keine Abnormitäten auf. Schließlich entschloss sich der Arzt für einen Kaiserschnitt. Cora wurde am zehnten August geboren. Als Charlotte aus der Narkose erwachte saß Frank an ihrem Bett. Ein großer Strauß Margeriten stand auf dem Nachttisch neben ihrem Bett. Sie liebte diese Blumen. Noch bevor Frank ihr sagen konnte, dass er sich Cora schon angesehen hatte, war Charlotte wieder eingeschlafen. Am nächsten Tag kam Frank wieder. Er brachte gleich die Säuglingsschwester mit, die ein kleines Bündel auf dem Arm trug. Es war das erste Mal, dass Charlotte ihre Tochter sah. Charlotte war so geschwächt, dass der Arzt entschieden hatte, ihr einen Tag absolute
Ruhe zu gönnen. Sie hatte viel geschlafen.
Als die Säuglingsschwester das Bündel Charlotte in den Arm legte, blickten sie zwei ungewöhnlich dunkle Augen an.
„So ein hübsches Baby hatten wir selten“, sagte die Schwester fast euphorisch.
„Die ganze Station spricht nur von der Kleinen.“
Charlotte lächelte und blickte auf Frank, der vor Freude ganz rot im Gesicht war. Dann betrachtete sie das kleine Gesicht und als sie erneut in die dunklen Augen sah, glaubte sie für einen kurzen Moment, dass diese Augen sie ebenfalls musterten. Ihr wurde plötzlich heiß und sie bat Frank das nur angelehnte Fenster weit zu öffnen. Frank wies sie darauf hin, dass sie keinen erfrischenden Luftzug
erwarten durfte, denn draußen herrschte eine Gluthitze. Es war August. Der Monat des Feuers. Charlotte hatte das Gefühl sich an etwas erinnern zu müssen und schaute Frank hilfesuchend an. Und dann war sie da die Erinnerung. Ihr fiel die alte Zigeunerin ein.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013