Auf einem Schriftstellerkongress trafen sich die Sage, das Märchen und die Fabel in einer Kleingruppe, um ihre Überlebenschancen in der Postmoderne zu diskutieren.
„Ich sehe für meine Zukunft schwarz“, begann die Sage. „Solange die Spinnräder noch schnurrten und es kein Fernsehen gab, erzählte man sich gerne die alten Sagen, zum Beispiel von der weißen Burgfrau und dem Kobold in der Mühle. Sie wirkten in sicherer Stube so schaurig schön, und einige glaubten sie sogar. Aber die Vernunftgläubigkeit der modernen Zeit kann mit mir nichts mehr
anfangen. Ich bin überholt.“
„Du schätzt deine Chancen zu pessimistisch ein“, entgegnete das Märchen. „Du hast übersehen, dass dich der moderne Tourismus reanimiert. Wenn heute alte Burgruinen, stillgelegte Mühlen und wieder entdeckte Wanderwege besucht werden, erinnern sich die Reiseführer an die alten Sagen, und wenn es keine gegeben hat, werden neue in antiquierter Sprache erfunden, sodass die Zuhörer an die Echtheit ihrer Überlieferung glauben. Wer prüft das schon so genau. Moderne Menschen finden alte Sagen amüsant, gleichgültig, ob sie ihre Inhalte glauben. Du hast
wieder Unterhaltungswert, liebe Sage.“ Das Märchen machte der Sage noch mehr Hoffnung , indem es ergänzte: „Du hast bescheiden die unsterblichen Mythen nicht für dich reklamiert. Wenn du auch sie als Sagen bezeichnest, sieht deine Zukunft rosig aus.“ Diese günstige Prognose hatte die Alte ganz übersehen und sie strahlte über ihr runzliges Gesicht.
Nachdem die Sage ihr neues Glück gefasst hatte, wollte sie aber nicht als naiv erscheinen, machte sich bewusst gegenüber dem Märchen klein und schmeichelte ihm: „Du hast zwar recht, dass ich noch nicht aufs Altenteil muss,
aber welch glänzende Zukunft hast du im Vergleich zu mir.
Das technische Zeitalter hat die Romantik neu entdeckt, und was für Gedichte dieser Epoche gilt, das trifft auch auf Märchen zu. Die Menschen mögen sie als Hort des Geheimnisvollen, des Unerklärbaren, des Wunderbaren, des Glücks, das den Kleinen und Benachteiligten zuteil wird.
Aber du bedienst nicht nur die Sehnsüchte von Romantikern, sondern auch von Aufklärern, die in Form von Antimärchen die alten Märchen so umschreiben, dass sie in ihr vernunftgeleitetes Weltbild passen. So erfüllst du die Bedürfnisse Erwachsener,
von den Kindern gar nicht zu reden. Denen ist der Streit zwischen Romantikern und Aufklärern herzlich egal, Hauptsache, deine wunderbare Welt ist voller Abenteuer, leicht wie fliegende Teppiche, schön wie Schneewittchen, gruselig wie ein Gespensterschiff, und am Ende wird alles gut.“ „Das kann ich nicht bestreiten“, schmunzelte das Märchen und gab sich Mühe, seine Selbstzufriedenheit nicht zu offen zu zeigen.
„Ja, Ja“ seufzte die Sage, „und die Kinder müssen noch nicht einmal Fantasie aufwenden, um deinen Bildern zu folgen. Die Kinderkanäle des
Fernsehens spielen dich in allen nur möglichen Variationen durch.“
Jetzt schauten Sage und Märchen gespannt auf die Fabel, die die ganze Zeit geschwiegen hatte.
„Warum bist du so still? Deine Chancen stehen doch auch nicht so schlecht“, sagte das Märchen, denn du bist die Kürzeste von uns.“ „Das klingt eher mager“, lächelte die Fabel. „Nein, ich meine das ganz ernst“ entgegnete das Märchen. „Wegen der Reizüberflutung der Mediengesellschaft können sich nur noch wenige Menschen lange konzentrieren, und du nimmst mit deiner Kürze auf diese Schwäche Rücksicht.“
„Das ist wohl wahr“, antwortete die Fabel, „aber auch meine Kürze ändert nichts daran, dass ich den meisten langweilig erscheine. Der moderne Mensch mag zwar konzentrationsschwach sein, aber er ist nicht mehr so einfach gestrickt wie frühere Generationen, die es widerspruchslos hinnahmen, dass der Fuchs immer schlau, die Gans immer dumm und der Löwe immer stark sei. Der Konsum von Kriminalfilmen hat ihn zum Beispiel gelehrt, dass die meisten Charaktere gemischt sind. Kommt hinzu, dass meine Adressaten nicht mehr auf den Trick hereinfallen, Tiere an die Stelle von Menschen zu setzen, damit sie
meine Lehre besser schlucken.
Ist ja lieb von euch, Freunde, dass ihr mich lobt, aber auch VW musste irgendwann mal ein anderes Modell als den Käfer bringen.“ „Ersetze die Tiere doch durch Pflanzen oder hauche den Dingen Leben ein und lasse sie sprechen“, warf die Sage ein. „Das mag für kurze Zeit hilfreich sein“, widersprach die Fabel, „nein, ich muss mich gründlicher wandeln, wenn man mich zukünftig lesen soll.“ „Und wie willst du das anstellen?“, fragte das Märchen. „Ein Patentrezept habe ich noch nicht“, antwortete die Fabel. „Doch eines ist klar. Meine Akteure dürfen nicht mehr so einfach über den
Tugendleisten geschlagen werden, und meine sprichwörtliche Lehre darf nicht mehr so leicht zu entschlüsseln sein.
Beim nächsten Treffen lese ich euch einfach eine innovative Fabel vor. Dann kann ich mir alle Theorie sparen.“
© Ekkehart Mittelberg, März 2016