Der Urlaub
12. Kapitel
Carla saß auf der kleinen Terrasse, die zum Lanai des Professors gehörte. Umgeben von Hibiskussträuchern und einer großen Agave war sie vor Blicken anderer Gäste geschützt. Durch die offene Terrassentür sah sie, dass der Professor im Zimmer einige Papiere und einen großen Briefumschlag, der offenbar wichtige Dokumente enthielt, ordnete. Er hatte sie gebeten sich einen kleinen Augenblick zu gedulden. Er würde sofort wieder auf die Terrasse kommen. Carla fühlte sich elend. Und als sie heute morgen in den Spiegel geschaut hatte, konnte nichts
darüber hinwegtäuschen, dass sie auch so aussah. Wenn sie wirklich einmal eingeschlafen war, wachte sie schon nach kurzer Zeit schweißüberströmt wieder auf. Die meiste Zeit hatte sie wach gelegen und versucht eine Erklärung für das am vergangenen Abend Vorgefallene zu finden. Die Terrassentür hatte sie nur einen winzigen Spalt offengelassen, so dass ein eventuell herumstreunender Hund nicht hindurch gelangen konnte. Auch die Vorhänge hatte sie nicht zugezogen. Das brausende Meer verfehlte diesmal seine beruhigende Wirkung auf sie. Die Tränen waren ihr über das Gesicht gelaufen während sie verzweifelt über die sie ängstigenden Vorkommnisse grübelte. Was auf dem Fest passiert war,
übertraf jedoch alle bisherigen Merkwürdigkeiten. Als endlich das erste Morgenlicht durch die Scheiben der Terrassentür fiel, hatte sie erleichtert aufgeatmet. Mit einem Glas Mineralwasser hatte sie sich auf die Terrasse gesetzt und auf das Meer geschaut.
Dem Besuch beim Professor hatte sie entgegengefiebert. Bevor er sich gestern Abend von ihr verabschiedet hatte, hatte er sie eindringlich gebeten, heute zu ihm zu kommen, da er dringend mit ihr reden müsse. Gerade als sie wieder ins Zimmer gehen wollte, um sich noch eine Stunde ins Bett zu legen, sah sie Frau Kogler mit einer kleinen silbernen Kanne in der Hand über den Rasen eilen. Sie musste nur darauf gewartet haben,
bis sich in Carlas Villa etwas regte.
„Guten Morgen, Frau Bern. Wie geht es Ihnen? Der Professor hat uns gestern Abend berichtet, dass Ihnen plötzlich übel geworden sei und Sie kurz vor einer Ohnmacht standen.“
Nach einem prüfenden Blick in Carlas Gesicht hatte sie hinzugefügt:
„Wenn ich Sie mir anschaue, Frau Bern, so war meine Frage überflüssig. Ich habe Ihnen eine Kanne Kräutertee aufbrühen lassen. Die Mischung habe ich selbst zusammengestellt. Als ich jünger war bin ich mit einem Kosmetikköfferchen gereist - heute habe ich einen Medizinkoffer dabei. Wenn Ihnen der Tee hilft, sagen Sie mir Bescheid. Ich habe noch Reserven. Und jetzt will ich
nicht weiter stören. Trinken Sie eine Tasse Tee und legen sich dann ins Bett. Und wenn Sie noch etwas brauchen, rufen Sie einfach an. Wir bleiben heute am Strand.“
Sie hatte Carla einen Zettel, auf dem die Telefonnummer ihrer Villa und ihre Handynummer stand, gereicht, ihre Hand aufmunternd getätschelt, sich umgedreht und war davon geeilt. Sie muss sehr früh aufgestanden sein, um den Tee in der Hotelküche aufbrühen zu lassen, hatte sie gedacht. Wieder waren ihr die Tränen in die Augen gestiegen.
Carla war dankbar, dass der Professor diese Erklärung gewählt hatte, mit der ihr plötzliches Verschwinden, nachdem sie am Vorabend den Tisch verlassen hatte,
entschuldigt wurde. Er hatte sie sofort nach dem Vorfall am Grill zu ihrer Villa begleitet und war dann offensichtlich zu den Koglers zurückgekehrt, um diese zu informieren.
In ihre Gedanken vertieft, bemerkte sie nicht, dass der Professor die Terrasse betreten hatte. Sie zuckte etwas zusammen als er an den Tisch trat.
„So, Frau Bern, jetzt nehmen wir uns sehr viel Zeit für ein Gespräch. Ich hoffte, es nie führen zu müssen.“
Er stellte ein Tablett mit zwei Gläsern Saft, in denen Eiswürfel schwammen, auf den Tisch. Daneben legte er den großen Umschlag, der Carla schon beim Blick durch die offene Terrassentür aufgefallen war. Sie sah den Professor an und erschrak. Die Blässe, die
auf seinem inzwischen leicht gebräunten Gesicht durchschimmerte, war mit Sicherheit nicht auf mangelnden Schlaf zurückzuführen. Er ist krank, dachte sie traurig - und erschrak erneut. Diesmal jedoch über die Gewissheit ihrer Gedanken. Er setzte sich etwas umständlich. Carla schien es so, als ob er Zeit gewinnen wollte. Er suchte sichtlich nach Worten. Schließlich griff er über den Tisch nach Carlas Händen und hielt sie behutsam fest.
„Frau Bern, Sie sind keine Fremde für mich. Ich bin der Lebensgefährte ihrer Tante Charlotte. Wir haben uns vor vierundzwanzig Jahren kennengelernt und leben seit zweiundzwanzig Jahren zusammen. Charlotte hat Ihr Leben immer aus der Ferne begleitet
und damit waren Sie in unserem Hause oftmals ein Anlass zur Freude aber auch Besorgnis.“
Carla schaute den Professor verständnislos an. Im Moment hatte sie einige Mühe, das, was der Professor gerade gesagt hatte, zu verarbeiten. Ihre Mutter hatte immer von Charlottes Mann gesprochen. Ein Familienname war nie erwähnt worden. Warum auch? Und da sie Tante Charlotte ohnehin nur flüchtig kannte, hatte sie auch nie darüber nachgedacht. Aber wenn man so lange zusammenlebt spricht man wahrscheinlich von ´meinem Mann` oder ´meiner Frau`, dachte sie. Aber warum hat er nicht schon eher gesagt, wer er ist, überlegte sie. Er ist also nicht zufällig hier - und er
wusste seit ihrem ersten Zusammentreffen, wer sie war. Vielleicht schon in Berlin auf dem Flughafen. Sie wollte gerade danach fragen als der Professor weitersprach:
„Bevor ich Ihnen erzähle, was das alles zu bedeuten hat, sagen Sie mir, was Ihnen in letzter Zeit an merkwürdigen oder unerklärlichen Begebenheiten widerfahren ist. Und bitte gestatten Sie mir, dass ich sie Carla nenne.“
Carla nickte zustimmend. Warum auch nicht, dachte sie verwirrt. Sie waren ja so gut wie verwandt. Aber als er ihr anbot ihn ebenfalls beim Vornamen zu nennen, hielt eine natürliche Hemmschwelle sie davon ab. Für sie blieb er der ´Professor´. Eine leichte Verlegenheit befiel Carla. Doch bevor der
Professor diese bemerken konnte, erzählte sie ihm, was sie in letzter Zeit so beunruhigt hatte. Ohne, dass es ihr bewusst war, sprudelten die Worte aus ihr heraus. Die zerbrochenen Gläser, deren sonderbares Zerbrechen in zwei gleiche Teile, die unnatürliche, teilweise schmerzhafte Hitze, die sie immer öfter überfiel, die verschwundenen Holzfiguren, ihre erschreckenden Angstgefühle und das blonde Mädchen, das immer wieder auftauchte - zuletzt gestern Abend. Und dann erzählte sie dem Professor, was am Grill passiert war. Dazu war sie gestern nicht mehr fähig gewesen. Zuletzt überschlugen sich ihre Worte, so dass der Professor erneut nach ihren Händen griff und beruhigend auf
sie einredete. Doch seine Augen konnten seine Besorgnis nicht verhehlen.
„Haben Sie das Mädchen denn nicht gesehen?“, fragte Carla. Noch bevor der Professor langsam den Kopf schüttelte, wusste sie die Antwort.
„Ich werde es nie sehen“, sagte er.
Dann öffnete er den großen Umschlag und zog ein etwas abgegriffenes Foto heraus, das er schweigend Carla reichte. Zögernd griff sie danach und erstarrte.
„Das ist Cora“, sagte er.
Carlas ohnehin bestehende Verwirrung schlug in Fassungslosigkeit um, sodass die nächsten Worte des Professors wie aus weiter Ferne zu ihr drangen.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe
09/2013