Lollies Erkenntnis
Ich stolpere durch den Wald. Die Sonne erkämpft sich soeben den Gipfel. Doch durch den schneidenden Wind will es nicht warm werden. Er heult zwischen den Bäumen hindurch und denkt, er könne mich erschrecken.
Zerrt an meinem Haar und treibt mir eine Gänsehaut über die Arme. Doch im Moment habe ich nur ein einziges Ziel. Heim. Und ich weiß es genau: gleich habe ich es geschafft! Lasse mich nicht beirren.
Gleich nimmt Papa mich in den Arm und nichts kann mir mehr etwas anhaben.
Und eine warme Suppe hängt immer über dem Feuer.
Die wird mir guttun, mich durchwärmen. Mama wird Margarete direkt auftragen, dass ich ein Bad brauche. Ich habe so einen Hunger, ich kann ihn kaum noch als solchen erkennen. Mein Körper zittert wie Espenlaub! Und mein Kopf spielt mir Streiche.
Üble Streiche!
Alles dreht sich, als befände ich mich auf dem Rummel. Mit ausgestreckten Armen strauchele ich zwischen den großen, kratzigen Fichten hindurch. Stets verheddern sich meine Haare in den kleinen Ästchen. Unbeirrt laufe ich weiter und störe mich nicht an ihnen. Lasse sie einfach in meinen Haaren stecken. Mit den Fingern kann ich sie schon lange nicht mehr richten.
Es tut weh, so lasse ich es eben.
Papa meint, sie sehen aus wie flüssiges Gold. Der Rocksaum bleibt ständig im Unterholz hängen. Ich habe Angst, dass er mir jetzt, so kurz vor dem Ziel, nun doch völlig zerreißt. Ich durfte das Kleid nicht tragen. Noch nicht! Es war für besondere Anlässe bestimmt. Schließlich komme ich aus gutem Hause.
Papa wird schimpfen! Mich dennoch gleichzeitig milde anlächeln.
Mama … Das wird schlimmer! Sie wird richtig wütend werden!
Ich sehe an mir runter. Selbst wenn der Saum halten sollte - das Kleid ist ruiniert. Tausende kleiner Ästchen stecken in der Spitze fest.
Ich stöhne auf.
Hoffentlich ist Papa zuhause. Von Anfang an war es ein bisschen groß. Doch Papa klopfte
mir liebevoll auf die Schulter und meinte mit einem Augenzwinkern zu mir: „Das wird schon, Lolli.“
Mama meinte, er solle mich bei meinem Namen nennen, sonst wüsste ich nie, wer ich wirklich bin.
So ein Unsinn!
Ich bin Lolli. Je nach Stimmungslage auch Lieselotte, oder aber nur Lotte!
Aber am liebsten und eigentlich bin ich Lolli.
Ich wollte mich treffen.
Mit einem Jungen!
Georg.
Deshalb trage ich mein neues Kleid. Er hatte mir eine Botschaft über Margarete zukommen lassen. Wir wollten uns am Grenzstein treffen. Wenn die Sonne die Baumspitzen berührt.
Ich war da. Mit pochendem Herzen.
Er nicht.
Und jetzt?
Es kommt mir alles so weit weg vor.
Endlich wird der Wald lichter und in ungefähr achtzig Ellen Entfernung breiten sich die weiten Felder aus!
Lieselotte von Grünenfelde kehrt heim!
Kurz streiche ich mein Kleid glatt und schon laufe ich los.
Alle Schwäche und Düsternis fallen von mir ab. Außer Atem bleibe ich auf dem Hügel stehen. Von hier aus kann man über unsere Ländereien sehen. Mittendrin unser Gut. Angrenzend die Stallungen und der Hof, der Brunnen!
Ach ... ist das schön, heim zu kommen!
Mit ausgebreiteten Armen laufe ich den Hügel hinab, gerade so, als könne ich fliegen. Ich wünsche mir, dass Papa mich von seiner Schreibstube aus sieht und mich unten auffängt. Doch es scheint niemand da zu sein. Ich werde langsamer. Mit zittrigen Beinen und klopfendem Herzen hole ich erst mal Luft.
Irgendwie ist es anders.
Aufgeregt sehe ich mich um.
Mein Blick wandert zu meinen Füßen.
Ich stehe auf einem harten, grauen Streifen, der bis zum Haus führt.
Seltsam.
Nun - - - so gehe ich den Streifen entlang.
Ich bin erleichtert, als ich im Hof unsere
schönen rundgewaschenen Steine sehe. Schnell sehe ich nach …
Direkt bei dem Brunnen habe ich meine Initialen in einen Stein gehauen.
Harte Arbeit, aber ich habe es hinbekommen. Nah am Brunnen wächst zwischen den Steinen Wiese. Ich halte die Grashalme zur Seite.
Und da sind sie! Meine Buchstaben!
L v G !
Soll ich mir erst etwas sauberes anziehen oder gehe ich direkt zu Margarete in die Küche?
Zur Antwort kneift mich mein Magen kräftig, sodass ich beinahe in die Hocke gehen muss. Ich atme tief und drücke beide Hände in meinen Bauch. Ich werde zu Margarete
gehen.
Zielgerichtet steuere ich auf den Dienstboteneingang zu, denn das ist der kürzeste Weg in die Küche.
Verdutzt starre ich auf die Mauer.
Genau hier war die Tür!
Immer!
Ich erinnere mich genau!
Weil ich meinen Augen kaum traue, greife ich mit meinen Händen danach. Die Tür ist weg! Raue Steine, wo die dunkle Holztür hingehört. Ein ohrenbetäubendes Knattern reißt mich aus meinen Überlegungen.
Es scheint von überall zu kommen! Ich hocke mich schnell hin und halte mir die Ohren zu. Fest presse ich die Lippen aufeinander.
Ich schreie nicht!
So leicht bin ich nicht zu erschrecken! Plötzlich verstummt der Krach.
Ich sehe auf.
Eine Gestalt mit einem großen runden Kopf in der Farbe des Himmels, wenn die Sonne so stark scheint, dass es unter dem alten Kirschbaum am angenehmsten ist, steigt von einem seltsamen Gefährt ohne Pferde. Es kommt auf mich zu!
Erschreckt starre ich ihn an.
In seinem Gesicht spiegelt sich der Himmel.
„Heiko!“ schallt es von irgendwoher, „da bist du ja endlich! Wasch dir die Hände und komm
zum Essen. Wir sitzen bereits alle am Tisch!“ Abrupt bleibt er stehen, macht auf dem Absatz kehrt und geht in Richtung Haupteingang.
Er zieht an seinem runden Kopf und rotblonde Locken kommen zum Vorschein.
Mit einer kräftigen Bewegung schüttelt er sie auseinander.
Das ist also Heiko.
Er verschwindet um die Ecke. Langsam folge ich ihm. Die Stimme hat von Essen gesprochen. Vorsichtig gehe ich an dem Gefährt vorbei. Der runde Kopf wurde daran aufgehängt.
Das Haus spiegelt sich nun darin.
Das Gefährt knackt und knistert auf seltsame Art. Warme Luft und ein schlechter Geruch
steigen davon auf.
Als ich näher heran trete, kann ich mich in dem Kopf selbst sehen.
Ich bin schmutzig und meine Haare sind ein Graus!
Oh je! Wenn Mama mich so sieht!
Ich versuche zu retten, was zu retten ist. Doch sobald ich meine Finger hindurch ziehen will, ziept es fürchterlich!
Ich gehe zur Eingangstür.
Sie steht wie eh und je offen. Doch die Tür ist eine andere! Weiß mit Fensterscheiben!
Wo ist unsere Holztür mit dem Messingring?
Der Geruch von warmem Essen zieht mich ins Haus hinein.
Ich betrete die Empfangshalle.
Es ist ungewohnt hell.
„Heiko von Grünenfelde, wie schön, dass der Herr geruht, heimzukehren“, sagt eine Männerstimme.
Ein Stuhl wird gerückt.
Die Frauenstimme fragt: „Wo ist das Haarband? Ich möchte, dass du es beim Essen trägst!“
„Jawohl, Monika von Grünenfelde.“
„Für dich immer noch Mama!“
Wieder wird der Stuhl gerückt.
„Jawohl, liebe Mutti!“ Heiko kommt eilig auf mich zu.
Schnell drücke ich mich hinter die Wand. Schließe meine Augen. Warum sind sie mir alle fremd? War ich wirklich so lange weg? Ich
sehe an mir runter. Der Junge mit den roten Haaren sieht ganz anders aus. Er trägt komische Sachen.
Als ich aufsehe, geht er schon wieder an mir vorbei. Sein Haar wurde mit einem Stirnband gebändigt. Er scheint mich nicht bemerkt zu haben!
Wie das?
Ich nehme all meinen Mut zusammen und betrete das Esszimmer. Schließlich habe ich auch Hunger.
So wie die da sitzen, habe ich sogar den größten.
Heiko nimmt Platz.
„Prima, dann können wir ja endlich beginnen. Guten Appetit“, der Vater sieht in die Runde,
an mir vorbei und durch mich hindurch.
Ich denke darüber nach, mir einen Teller aus dem Schrank zu holen, verwerfe diesen Gedanken aber sofort.
Ich nähere mich vorsichtig dem Tisch und frage an den Hausherrn gerichtet: „Darf ich auch platznehmen?“ Der kleine blonde Junge sieht mich an und grinst frech. Ansonsten bekomme ich keine Antwort.
Ich grinse zurück und gehe zu ihm hin.
Er beobachtet mich genau.
Es macht mir Freude, dass wenigstens einer Notiz von mir nimmt. Kokett hocke ich mich neben ihn, zwinkere ihm zu und nehme mir ein Fleischklößchen von seinem Teller.
Nun sieht er mich mit runden Augen an. Ich kaue schnell und nehme mir noch eins. Und
noch eins.
„Mama! Wir haben ein Gespenst!“
„Natürlich, Schatz“, sagt die Mutter milde, „das ist ein altes Haus, selbstverständlich gehören ein paar Gespenster dazu.“
„Mama, es isst alle meine Klößchen auf!“
Der Rotgelockte lacht laut auf: „Du bist ein Scherzbold! Du kannst sicher noch welche kriegen, auch ohne Lügerei.“
Die Mutter sieht streng auf: „Heiko! Dein Bruder lügt nicht, er hat nunmal eine lebhafte Fantasie.“
Sie streicht dem Kleinen übers Haar.
Der Große sieht wieder auf sein Essen.
„Benne! Das ist nicht lustig!“
„Was denn, hast du auch zu viel Fantasie?“
„Ich bin Realist! Frag deine liebe Mutti!“ „Mama? Ist Heiko Realist?“
„Natürlich Schatz!“
Der Große sieht den Kleinen mit kalten Augen an. „Wie hast du das gemacht? Sag schon. Wann hast du meine Klößchen gefuttert?“
Ich zwinkere erneut dem blonden Jungen zu und gehe an den nächsten Teller. Der Kleine hält sich jetzt die Hand vor den Mund, um nicht lauthals loszulachen. Das nimmt Heiko ihm wiederum krumm.
Blitzschnell langt er über den Tisch.
Benne bekommt von seinem Bruder eine schallende Ohrfeige. Der Vater springt auf und fasst den Großen am Kragen.
Es sieht seltsam aus, weil der Sohn den Vater um ein kleines Stück überragt.
„Rauf auf dein Zimmer! Kein Computer! Keine Affenmusik! Ich frage heute Abend die Vokabeln ab!“ Und damit gibt er seinem Sohn noch einen kräftigen Schubs.
Mit großen Augen sehe ich Benne an. Das hatte ich nicht gewollt! Der reibt sich die rote Wange, vergießt aber keine Träne.
Ich verlasse den Raum. Möchte mich ein bisschen umsehen. Benne schaut mir nach. Im Hinausgehen drehe ich mich kurz zu ihm um. Wir tauschen noch einen Blick, dann piekt er sich eine Kartoffel auf.
Langsam steige ich die Stufen hinauf. Alles hat sich verändert. Gebannt bleibe ich stehen. An der Wand hängt ein dunkles Abbild meiner Eltern!
Papas freundliche Augen, Mama sieht traurig aus. Sie tragen beide schwarze Kleidung. Eine feine Spitze schmückt Mamas Hals.
Ich wundere mich, normalerweise trägt sie gern leuchtende Grüntöne.
Ich gehe zu meinem Zimmer nach oben.
Es ist verschlossen.
Ein seltsamer Krach dröhnt an meine Ohren. Vielleicht verbirgt sich Heiko hinter dieser Tür. Ich mache kehrt, möchte nach draußen gehen. Wieder vorbei an meiner traurigen Mutter. Benne sitzt immer noch über seinen Kartoffeln.
Ich winke ihm zu.
Dann gehe ich vor die Tür.
Dort wartet das Gefährt unbewegt auf seinen Herrn. Dennoch hat es aufgehört, so
eigentümlich zu knacken und zu knistern.
Ich fühle mich einsam. Niemand von meiner Familie hat auf mich gewartet. Alle scheinen weg zu sein.
Wie lange war ich nur unterwegs?
Ich freue mich darüber, dass wenigstens der alte Kirschbaum noch da ist. Ich eile zu ihm hin und streiche über seinen Stamm. Langsam sehe ich an ihm hoch.
„Du bist groß geworden, mein Alter“, sage ich anerkennend, „schön, dass du auf mich gewartet hast.“
Ich lege meine Arme um ihn und verharre für eine Weile. Er ist inzwischen so dick, dass ich ihn nur zur Hälfte umfassen kann!
Wie eh und je schenkt er mir behagliche Geborgenheit. Ich vernehme ein Kichern
hinter vorgehaltener Hand. Kurz klopfe ich noch den Stamm, dann drehe ich mich um. „Findest du mich lustig?“
Benne steht ein paar Schritte von mir entfernt. „Du sprichst ja mit Bäumen!“, unterdrückt er sein Lachen.
„Natürlich, du nicht?“ Ich sehe an meinem alten Freund empor, streiche erneut mit der flachen Hand über seine Rinde. „Er kennt alle Geheimnisse. Und wenn du dich gut mit ihm stellst, verrät er dir vielleicht eins.“
Verwundert blickt Benne zu der Baumkrone empor: „Echt? Bist du dir sicher?“
„Natürlich! Er war immer für mich da. Mein Alter lässt mich nicht allein. Er ist scheinbar der einzige, der auf mich gewartet hat. Und wenn du ihn fest umarmst, wird er auch dir
Kraft schenken. Er ist ein freundlicher Geselle. Komm her!“
Zögerlich kommt der Kleine näher.
„Du musst ihn umarmen! So!“
„Der ist hart!“
„Ach was! Probiere es.“ Ich knie mich hin. „Vielleicht können wir uns um den Stamm herum die Hände reichen.“
Doch Bennes Arme sind zu kurz.
„Dazu brauchen wir noch jemanden. Hol deinen Bruder.“
„Der muss in seinem Zimmer bleiben. Außerdem hat der zu so was sowieso keine Lust.“
„Nein? Warum nicht?“
„Der hört lieber seine Affenmusik.“
„Du magst deinen Bruder wohl nicht
sonderlich.“
„Doch. Aber ich bin ihm zu doof.“
„Was bedeutet doof?“
„Zu klein. Dabei bin ich schon acht! Wie alt bist du denn?“
„Ich bin sechzehn. Im Sommer soll ich vermählt werden.“
„Hä? Wieso das denn?“ Ich muss lachen: „Na, weil es Zeit wird, Junge!“
Stöhnend sehe ich an mir runter.
„Das Kleid war für das Fest gedacht, wenn die jungen Männer eingeladen werden, die in Frage kommen. Mein Papa möchte, dass ich mir meinen Mann selber aussuche!“
Benne zieht die Nase kraus: „Das Kleid kannst du wohl vergessen!“
Ich nicke ihm zu: „Es muss gewaschen und geflickt werden.“
Der kleine macht runde Augen: „Glaubst du, das geht?“
„Ach du!“ Ich versetze ihn einen kleinen Stupser und lasse mich auf den Boden nieder, lehne mich an den Baumstamm. Benne setzt sich dicht neben mich.
„Bist du ein Gespenst?“
Ich muss lachen: „Glaubst du an Gespenster? Mein Papa hat gesagt, diese Geschichten sind alle Unfug. Wenn es ums Haus heult, so ist es nur der Wind.“
„Und wo kommst du her?“
„Ich wohne hier.“
„Ich auch. Aber ich habe dich hier noch nie gesehen!“
„Ich dich auch nicht.“
„Wenn du mich fragst … Ich glaube, du bist ein Gespenst.“
Ich lehne meinen Kopf an den Stamm: „Na, mein Alter, kannst du es mir verraten? Wer ist hier das Gespenst?“
Verwundert starre ich in die Weite. Ganz leise flüstere ich: „Er sagt, ich bin es. Lolli! Ich bin von uns beiden das Gespenst!“
Ich sehe den Kleinen an: „Das kann doch nicht sein! Oder?“
Der Kleine legt unbeholfen den Arm um mich: „Ich glaube, der Baum weiß das besser als wir. Du heißt Lolli? Der Name passt aber gut zu dir.“