Der Urlaub
5. Kapitel
In zwanzig Minuten würde die Maschine in Denpasar landen.
Carla hatte den kleinen Fernseher eingeschaltet, der an einem beweglichen Arm an ihrer Sitzlehne angebracht war. Sie wollte die letzte Zeit ihres langen Fluges am Monitor beobachten. Die knapp dreißig Minuten Flugzeit von Denpasar nach Mataram auf Lombok war nur noch ein Hüpfer, wie sie sich sagte. Sie schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit und bedauerte, dass der Anflug auf Bali nicht bei Tageslicht erfolgte. Der Flug
von Singapur war ruhig gewesen, ohne Turbulenzen und ohne besondere Ereignisse. Sie atmete innerlich auf, denn in der ersten Etappe ihrer Reise, fühlte sie sich alles andere als wohl. Carla blickte zu den Koglers, die einen etwas erschöpften Eindruck machten. Es war ihren Gesichtern anzusehen, dass sie das Ende des Fluges herbeisehnten. Mit Mühe unterdrückte sie ihren Wunsch unter einem Vorwand aufzustehen und dabei möglichst unauffällig nach ihrem ´alten Bekannten` Ausschau zu halten. Einige Passagiere, die ihr in der Kabine aufgefallen waren, vermisste sie, andere waren hinzu gekommen. Singapur war Knotenpunkt für Weiterflüge zu anderen Inseln im indonesichen Raum, aber auch
nach Australien oder Neuseeland.
Er konnte natürlich auch nach Birma oder Sumatra, vielleicht sogar nach Australien weitergeflogen sein, aber Carla hatte das Gefühl, dass er in dieser Maschine war. Sie widerstand ihrem Wunsch und überlegte stattdessen, ob sie sich nicht geirrt hatte, als sie das Mädchen mit den langen blonden Haaren auf dem Changi International Airport an einer Wand stehen zu sehen glaubte. Carla war auf dem Laufband an ihr vorbei geglitten.
„Nein, ich habe mich nicht geirrt“, murmelte sie vor sich hin. Wieder hatte sie nur ihr Profil sehen können, da die Kleine ihr halb den Rücken zukehrte. Eine Begleitung des Kindes hatte sie nicht entdecken können.
Die einzigen Leute, die sich außerhalb des Laufbandes befanden, gehörten zum Reinigungspersonal. Dieser Teil des Terminals machte - im Gegensatz zu seinem belebten Zentrum - einen verlassenen Eindruck. Als sie die Koglers, die hinter ihr standen, auf das Kind aufmerksam machen wollte, um zu fragen, ob es ihnen im Flugzeug aufgefallen war, schob nur noch das Personal die Reinigungswagen über den endlosen Gang. Carlas Augen hatten nach einer Tür gesucht, hinter der das Kind vielleicht verschwunden war. Vielleicht gab es dort eine Toilette.Sie hatte noch einmal zurückgeblickt, aber sie war schon zu weit von dem Platz entfernt gewesen, an dem das Mädchen gestanden hatte. Dann hatte sie
Herrn Kogler hinter sich sagen hören:
„Alle Maschinen, die in Singapur bei einer Zwischenlandung aufgetankt werden, bekommen eines der letzten Gates zum Weiterflug zugewiesen.“
„Ja, ja und alle Maschinen haben Tragflächen“, war die etwas genervte Antwort seiner Frau gewesen.
Bei diesen Worten hatte Carla innerlich geschmunzelt.
Inzwischen waren sie auch fast am Ende des Laufbandes angekommen und konnten schon die Nummer ihres Gates erkennen. Die Szenerie hatte sich wieder belebt. Flughafen- und Bordpersonal war zwischen Fluggästen, die zu ihren Abfluggates eilten, zu erkennen.
Um einen kleinen Getränkeausschank hatten sich einige Männer in dunklen Anzügen gedrängt, offenbar Geschäftsreisende.
Carla wurde aus ihren Gedanken gerissen als die Maschine mit einem Ruck aufsetzte und sofort die Geschwindigkeit so stark abbremste, dass sie mit massivem Druck in ihren Gurt gepresst wurde. Die Gestalt des Mädchens geisterte unerwünscht oft in ihrem Kopf. Herr Kogler beugte sich zu Carla hinüber und sagte:
„Es gibt nur eine Start- und Landebahn für den internationalen Flugverkehr und diese ragt ins Meer. Sie ist auch nicht übermäßig lang und es bedarf schon erfahrener Piloten, um große Flugzeuge hier sicher zu landen.“
Carla lächelte und schüttelte leicht den Kopf. Sie hatte sich auch vor Reisebeginn über Indonesien und besonders über Lombok informiert, über Besonderheiten der Flughäfen hatte sie nichts gelesen. Herr Kogler musste umfassende Studien betrieben haben. Dabei wirkte er überhaupt nicht schulmeisterlich oder wie ein notorischer Besserwisser - im Gegenteil seine Anmerkungen waren immer zurückhaltend und wirkten eher bescheiden. Die Maschine rollte nun langsam zum Gate und die Passagiere bereiteten sich darauf vor diese zu verlassen. Auch Carla prüfte nochmal ob sie nichts vergessen hatte in ihre Tasche zu packen bevor sie aufstand. Sie verabschiedete sich von den Koglers,
nicht ohne ihnen einen schönen Aufenthalt auf Bali zu wünschen. Das Ehepaar bedauerte, dass ihre Bekanntschaft nur so kurz war und strebte etwas aufgeregt dem Ausgang zu, denn die Maschine hatte inzwischen ihren endgültigen Standort erreicht. Das Gedränge der Passagiere beim Verlassen der Maschine hinderte Carla daran, nach dem älteren Herrn Ausschau zu halten. Erst beim Betreten der Gangway sah Carla, dass die Maschine nicht an ein Gate gerollt war, sondern auf dem Vorfeld stand. Ein Bustransfer brachte sie zum Flughafengebäude, wo sie sofort nach einer Informationstafel suchte. Sie blickte sich kurz um, ob sie die Koglers entdecken würde. Aber die waren schon nicht mehr zu sehen.
Ihr blieb nicht viel Zeit, denn schon in dreißig Minuten startete ihre Maschine nach Mataram. Die Informationstafel, die sie endlich entdeckte, gab nur Auskünfte über internationale Flüge. Sie bat eine vorbeigehende Frau in Uniform um Hilfe. Carla nahm an, dass sie zum Flughafenpersonal gehörte und erfuhr, dass sie zum nationalen Terminal musste. Carla hatte das Gefühl, dass die Frau noch etwas sagen wollte. Aber dann nickte sie ihr nur zu und ging weiter. Jetzt wurde Carla doch etwas nervös, da sie befürchtete unter Zeitdruck zu geraten. Aber Dank der Wegbeschreibung, die sie erhalten hatte, fand sie schnell ihr Ziel und fragte dort an einem Flugschalter nach dem Gate, von dem ihre Maschine starten
würde. Die Auskunft, die sie erhielt, war absolut nicht geeignet, ihre Nervosität zu beseitigen. Endlich sah Carla die Nummer des Gates und eilte darauf zu. Nur wenige Leute standen dort, die selbst aus der Entfernung, in der Carla sich noch befand, einen aufgeregten Eindruck machten. Ein nicht sehr großer Mann stand ebenfalls dort, der einen landestypischen Sarong und ein längeres weißes Hemd, das lose über den Sarong fiel, trug. Er hielt zwei Schilder hoch, auf denen Carla beim Näherkommen auf dem einen ihren Namen und auf dem anderen Herr Professor Simon lesen konnte. Auf beiden Schildern stand über den Namen gut lesbar Johnson´s. Sie trat auf den Mann zu und stellte sich vor, innerlich hoffend, dass
die Auskunft, die sie eben am Flugschalter bekommen hatte, von ihr falsch verstanden worden war. Aber schon die ersten Worte des Mannes machten ihre Hoffnung zunichte. Er begrüßte sie überaus höflich und stellte sich als Mitarbeiter des Hotel Johnson´s vor nannte auch seinen Namen und seine Funktion - beides überhörte Carla jedoch in ihrer Aufregung - und teilte ihr mit, dass heute keine Maschine mehr nach Mataram starten würde. Seit dem frühen Morgen hatte sintflutartiger Regen auf Lombok den gesamten Flugverkehr auf dem Flughafen Selaparang in Mataram lahmgelegt. Ein Naturphänomen bemerkte er weiterhin, denn solche Regenfälle würden noch nicht einmal in der Regenzeit, die im Oktober beginnt,
vorkommen. Da sie Gast des Johnson´s auf Lombok sei, biete das Johnson´s auf Bali ihr eine Übernachtungsmöglichkeit zu den gleichen komfortablen Bedingungen wie auf Lombok an, teilte er ihr weiter mit. Sollte am nächsten Tag der Flugverkehr wieder aufgenommen werden können, gäbe es keine Probleme, das Notwendige zu veranlassen, dass sie umgehend zu ihrem endgültigen Reiseziel käme. Ihr Gepäck würde auch jeden Moment eintreffen, da das Flughafenpersonal alle Gepäckstücke der Passagiere, die einen Weiterflug nach Mataram gebucht hatten, zu diesem Gate bringen würde. Es folgten noch mehrere Verbeugungen und weitere bedauernde Worte, die an Carla vorbeirauschten, weil sie
erst einmal verarbeiten musste, was ihr eben mitgeteilt wurde. Plötzlich hatte sie das Gefühl unter einer riesigen Glasglocke zu stehen. Sie meinte von wabernden Hitzeschwaden umgeben zu sein. Die Vorahnung einer drohenden Gefahr überfiel sie mit einer Intensität, dass sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Sie versuchte sich auf den Mann vom Hotel zu konzentrieren. Anschwellendes Stimmengewirr lenkte jedoch ihren Blick auf die anderen Passagiere, die sich in zwei Gruppen von je sechs oder sieben Personen geteilt hatten, und von Mitarbeitern des Flughafens betreut wurden. Dass sie ein vergleichbar nobles Angebot bekommen würden, wie sie selbst es gerade erhalten
hatte, bezweifelte Carla. Der Hotelmitarbeiter wandte sich von ihr weg und lächelte jemandem zu, der offenbar auf ihn zukam. Als sie sich umdrehte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Ihr ´alter Bekannter`, einige Zeitungen unter den Arm geklemmt, steuerte auf sie zu.
„Mein Name ist Simon“, stellte er sich dem Hotelmitarbeiter vor und hörte sich dann aufmerksam die Erklärungen an, die dieser ihm gab. Dann wandte er sich Carla zu und sagte freundlich.
„Wir haben wohl das gleich Ziel oder sagen wir besser, wir hatten es. Gegen Naturereignisse sind wir Menschen machtlos, also sollten wir uns über das entgegenkommende und zudem großzügige
Angebot des Hotels freuen. Ich schlage vor, wir folgen jetzt diesem freundlichen Herrn, damit wir so schnell wie möglich ins Hotel kommen. Ich glaube, ein bisschen Schlaf in einem richtigen Bett wird uns beiden gut tun.“
Insgeheim musste Carla ihm recht geben und so nickte sie nur zustimmend mit dem Kopf, ging zum Wagen mit den Gepäckstücken, der vor kurzem in unmittelbarer Nähe von ihr gehalten hatte und zog ihren Koffer herunter. Etwas unsicher schaute sie zu dem Professor. Auch der hatte inzwischen sein Gepäck und so strebten sie zu dritt dem Ausgang zu.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013