20. kapitel
Stumm sahen die drei mich an. Sie strahlten eine solche Autorität aus, dass ich mich unweigerlich klein und unwichtig fühlte. Eingeschüchtert blickte ich auf meine sich berührenden Knie. Sie zitterten. Diese Situation gefiel mir ganz und gar nicht.
„Mira, Sie wissen sicher, aus welchem Grund wir Sie zum Gespräch gebeten haben“, begann Ms Hillard mit ruhiger Stimme.
Ich konnte nicht länger so tun, als würde mich diese Situation nichts angehen, also hob ich zaghaft meinen Blick und schüttelte ahnungslos den Kopf.
In diesem Moment konnte ich an nichts denken, kein Gedanke schaffte es, Form anzunehmen. Die Überraschung und Verwunderung darüber, dass der Schulleiter und die beiden Leiterinnen der Fachrichtung des Contemporary-Dance mit mir sprechen wollten, hatte mich derart überrumpelt, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden.
Ms Hillard seufzte und verschlang ihre Finger ineinander, die sie dann auf ihren nackten Knien ablegte. „Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Sie im Dezember bei der Gala eine hervorragende Leistung erbracht haben. Bisher ist es kaum einem Erstsemester
gelungen, für eine der Hauptrollen ausgewählt zu werden. Wir haben einstimmig positive Rückmeldungen von unseren Gästen erhalten und waren deshalb sehr stolz auf Sie.“
Waren. Sie sprach in der Vergangenheitsform. Das große Aber, das über ihren Worten schwebte, war kaum zu überhören. Mit angehaltenem Atem folgte ich ihren nächsten Worten.
„Wir wissen, zu welcher Leistung Sie imstande sind. Aus diesem Grund hat es uns sehr beunruhigt, Ihre Entwicklung in den vergangenen Wochen zu verfolgen. Nicht nur uns sind diese Veränderungen an Ihnen aufgefallen. Auch Ihre anderen Lehrer berichten darüber, dass Sie
unachtsam, abgelenkt und vollkommen undiszipliniert wirken. Sie vergessen einfachste Schrittfolgen und behindern so den Unterricht der anderen. Wenn wir nicht mit eigenen Augen gesehen hätten, wie gut Sie sein können, würde man meinen, dass dies Ihre ersten Tanzversuche sind.“
Der vorwurfsvolle strenge Ton in ihrer Stimme ging mir durch Mark und Bein. Das schlechte Gewissen begann an mir zu nagen. Natürlich war mir selbst aufgefallen, dass ich zur Zeit nicht in Bestform war, dennoch hatte ich nicht auch nur ansatzweise geahnt, dass es so schlimm war, dass es solch großes Aufsehen
erregte.
Mit gerunzelter Stirn sah Ms Hillard mich an. Hatte sie noch etwas gesagt? „Tut mir leid. Was haben Sie gesagt?“ Ich biss mir auf die Unterlippe und rutschte nervös auf dem Sofa herum. Diese Unaufmerksamkeit war genau der Grund, warum ich mich in diesem Schlamassel befand.
Sie räusperte sich. „Wir verlangen von unseren Schülern ein hohes Maß an Ernsthaftigkeit. Das bedeutet, Tänzer, die die Ideale der ´Royal Dance Academy´ nicht vertreten, haben hier nichts zu suchen. Beherzigen Sie das bitte. Es gibt unzählige Mädchen, die alles dafür geben würden, Ihren Platz einzunehmen.
Deshalb wollen wir Sie bitten, über das was Sie wollen, gründlich nachzudenken.“ Ich schnappte hörbar nach Luft.
„Wollen Sie mich von der Schule werfen?“, brach es aus mir heraus, ohne dass ich mich rechtzeitig stoppen konnte.
Nun war es Ms Stewart, die das Wort ergriff: „Natürlich ist Ihr Rauswurf, wie Sie es nennen, das was wir am wenigsten wollen. Alles was wir möchten ist, dass Sie Ihr volles Potential ausnutzen und uns beweisen, dass Sie es verdienen an dieser Schule zu sein und das Tanzen nicht nur als einfaches Hobby betrachten. Sie haben großes Talent Mira. Vergeuden Sie es
nicht.“
Mein Kopf schwirrte. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, so nachlässig zu sein? Ich liebte das Tanzen, konnte mir nicht vorstellen, je etwas anderes zu tun. Dennoch setzte ich meine Zukunft an der besten Schule des Landes aufs Spiel und das nur, weil es mir mal nicht so gut ging.
Ich musste ihnen beweisen, dass ich sehr wohl an diese Schule gehörte, dass ich es mehr als jeder andere verdient hatte, hier zu sein. Ich würde mein bestes geben!
Ein entschlossener Ausdruck trat in mein Gesicht, mit dem ich die drei vor mir förmlich nieder starrte. Ein leichtes Zucken umspielte Mr Kendrix
Mundwinkel, doch es war sofort verschwunden, als ich noch einmal genauer hinsah. Er nickte zufrieden und sagte dann an seine beiden Kolleginnen gewandt: „Das dürfte genügen. Ich denke, sie hat ihre Entscheidung bereits getroffen und wir werden in den nächsten Tagen eine kleine Überraschung erleben.“
Ms Stewart und auch Ms Hillard erhoben sich in einer fließenden Bewegung und verabschiedeten sich dann. Ich wollte ebenfalls aufstehen, doch Mr Kendrix gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich sitzen bleiben sollte.
Er lehnte sich etwas nach vorn in meine Richtung und stützte die Ellbogen auf
seinen Knien ab. Dann trafen seine grauen Augen auf meine. Er durchbohrte mich mit seinen Blicken. Ein Schauer rieselte meinen Rücken herab. Ich musste mich zwingen, seinem Blick standzuhalten.
„Dieser Überfall tut mir leid“, sagte er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit, die er mir einfach nur in die Augen sah. Perplex zuckte ich zusammen. „W...wie bitte?“, stammelte ich und hob eine Augenbraue.
„Ms Hillard nimmt ihre Aufgabe als Fachrichtungsleiterin sehr ernst und sie duldet keine Abweichungen vom vorgesehenem Plan“, war alles was er sagte, bevor er mich wieder eingehend
musterte.
Ms Hillard war mir bereits am Tag des Vortanzens zielstrebig und konsequent erschienen. Sie war nett und hatte sicher ein gutes Herz, das stand außer Frage, aber sie war eine Frau, die wusste was sie wollte und sich dabei von nichts und niemandem in die Quere kommen ließ.
Trotzdem verunsicherten mich Mr Kendrix Worte. Sollte das bedeuten, dass dieses Gespräch gar nicht seine Idee gewesen war?
Eine kleine Welle der Erleichterung rollte durch meinen Körper und ließ mich endlich wieder unbeschwert atmen. Wäre es Mr Kendrix gewesen, der dieses Gespräch anberaumt hätte, hätte ich ein
noch größeres Problem gehabt als wenn es „nur“ Ms Hillard war.
„Ich weiß, dass Sie unter enormen Druck stehen Mira“, fuhr der Schulleiter fort. Fragend sah ich ihn an. „Jeder Schüler an der RDA hat ein hohes Pensum zu erreichen und ist großem Stress ausgesetzt. Bisher hat Ihnen das jedoch nichts ausgemacht. Ich muss also davon ausgehen, dass Sie irgendetwas beschäftigt, das Ihr derzeitiges Verhalten rechtfertigt. Wenn da also etwas ist, hoffe ich, dass Sie wissen, dass Sie sich mir anvertrauen können. Wenn Sie das Gespräch, das wir am Abend der Gala geführt haben...“ Er hielt kurz inne, um sich zu räuspern.
Sollte das hier eine Therapie-Stunde werden? Wut stieg in mir auf. Was dachte dieser Mann eigentlich, wer er war? Mit welchem Recht stellte er diese Hypothesen auf!?
„Sie haben Recht“, begann ich, bevor er weitersprechen konnte und musste den Zorn in meiner Stimme mit großer Anstrengung zurückhalten, „der Unterricht an dieser Schule ist hart und verlangt einem viel ab. Doch das bedeutet nicht, dass ich damit nicht fertig werde. Tanzen ist mein Leben. Wenn ich in Ihnen während der letzten Wochen Zweifel geweckt habe, was meinen Wunsch Tänzerin zu sein betrifft,
dann tut mir das leid. Das war nicht meine Absicht. Ich werde an mir arbeiten und alles daran setzen, Ihnen zu beweisen, dass ich es wirklich ernst meine. Dass ich es verdient habe, hier zu sein.“
Mit vor Überraschung weit geöffneten Augen sah er mich an. „Ich habe nie an der Ernsthaftigkeit Ihrer Absichten gezweifelt. Ihre Mutter war genauso, Sie sind ihr sehr ähnlich.“
Mein Geduldsfaden drohte jeden Augenblick zu reißen. Ruckartig stand ich auf. „Sie wissen nichts von mir oder meiner Mutter!“, knurrte ich beinahe. Meine Selbstbeherrschung bröckelte von mir ab. Ich musste mich
zusammenreißen, nicht laut zu schreien. Mr Kendrix erhob sich nun ebenfalls und kam auf mich zu.
„Ich weiß alles, was ich wissen muss“, widersprach er mit ruhiger Stimme. „Und das wäre?“ Er zuckte mir den Schultern. „Das wirst du eines Tages schon noch herausfinden.“
Seine Lippen hoben sich zu einem flüchtigen Lächeln. Dass er plötzlich die formelle Anrede wegließ, ließ mich all meine Zurückhaltung über Bord werfen. Wütend stemmte ich die zu Fäusten geballten Hände in die Hüften und funkelte ihn an.
„Hören Sie Mr Kendrix, ich weiß nicht was genau da zwischen Ihnen und meiner
Mutter war, aber es ist mir auch ehrlich gesagt scheißegal! Es interessiert mich nicht, was Sie zu wissen glauben. Sie waren vor zwanzig Jahren der Tanzpartner meiner Mutter und jetzt sind Sie der Leiter der Schule, die ich besuche. Punkt. Aus. Mehr gibt es da nicht zu sagen!“
Ohne auf seine Reaktion zu warten, machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Büro.
Kaum dass mir die kühle Abendluft entgegenschlug, legte sich mein Zorn und hinterließ Unglauben darüber, wie ich mich gerade meinem Schulleiter gegenüber benommen hatte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Er wollte nur nett sein und ich ging auf ihn los! Das würde sicher noch Konsequenzen nach sich ziehen. Niedergeschlagen trottete ich zu meinem Auto. Toby lehnte an der Beifahrerseite und unterhielt sich mit einem hübschen blonden Mädchen, das mir irgendwie bekannt vorkam, ich konnte aber einfach nicht einordnen wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Als er mich bemerkte, verabschiedete er sich von der Unbekannten und stieg ins Auto.
Die ganze Fahrt über schwiegen wir. Er schien das Chaos in meinem Inneren zu bemerken, kannte mich aber mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass es jetzt
besser war, mich nicht darauf anzusprechen.
Donnerstag und Freitag trieb ich meinen Körper an seine Grenzen. Ich musste meinen Lehrern zeigen, was in mir steckte und dass ich diese Ausbildung nicht auf die leichte Schulter nahm. Allem voran musste ich es mir jedoch selbst beweisen.
Ich konzentrierte mich auf den Unterricht, die Anweisungen, die uns gegeben wurden und gab mein bestes. Wieder kehrte dieser Kopfschmerz zurück, der mittlerweile zu meinem ungeliebten Begleiter geworden war. Doch ich ließ mich davon nicht aus der
Bahn werfen, schluckte ein paar Schmerztabletten und machte weiter.
Ms Hillard nickte mir nach dem Unterricht kurz zu, deutete auf diese Weise an, dass sie mit meiner heutigen Leistung zufrieden war.
„Freust du dich auf morgen?“, fragte Dad als wir am Abend gemeinsam in der Küche zu Abend aßen. Ich zuckte die Schultern. „Klar, es wird bestimmt ein netter Abend.“ Er öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schloss ihn aber wieder und führte stattdessen sein Glas an die Lippen.
Die letzten Tage hatten mich sehr angestrengt, weshalb ich nun direkt nach dem Essen eine heiße Dusche nahm und
mich dann in mein Bett kuschelte. Dawson war sofort an meiner Seite.
Er bettete meinen Kopf auf seiner nackten Brust und gab mir einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel. Langsam fuhr ich mit meinen Fingen an seinem Arm rauf und runter und auch er erkundete mit seinen Fingern meinen Rücken. Dabei schob er den Stoff meines Schlafshirts jedes Mal ein Stückchen weiter nach oben.
Immer wieder streifte er die nackte Haut an meiner Hüfte, der Taille und meinem Bauch. Wohlige Schauer rieselten mir den Rücken herab und ließen mein Herz schneller schlagen.
Ich rückte dichter an ihn heran, doch
noch immer fühlte ich mich viel zu weit entfernt und würde am liebsten direkt in ihn hineinkriechen.
Dawson lachte leise, ich konnte das Lächeln, das er dabei auf den Lippen trug, vor meinem geistigen Auge sehen. Meine Sehnsucht überwältigte mich, also zog ich den Kopf zurück und schob mich weiter nach oben. Nun waren wir auf einer Augenhöhe.
Nur die Straßenlaternen vor meinem Zimmer spendeten ein wenig Licht, sodass ich Dawsons Umrisse erahnen konnte. Sein Mund war leicht geöffnet. Ich näherte mich ihm noch weiter und bedeckte seine Lippen endlich mit meinen.
Kaum dass wir uns berührten, schmolz ich dahin. Ein wildes Feuer loderte in meiner Brust, das unersättlich nach mehr verlangte. Das Verlangen nach dem Mann, der unter mir lag, überwältigte mich, so wie jedes Mal.
Hatte ich mich bisher immer von meinen Zweifeln zurückhalten lassen, standen sie mir dieses Mal nicht mehr im Weg. Mein Gehirn verabschiedete sich und ließ meinen Körper ganz allein auf sich gestellt zurück.
Dawson fuhr mit seiner Zunge die Konturen meiner Lippen nach. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich auf meinem gesamten Körper aus und ließ
mich leicht zittern.
Unsere Küsse wurden immer ungestümer, wilder und fordernder. Immer wieder hauchte Dawson meinen Namen und sagte, dass er mich liebte. Ich war jedoch nicht mehr in der Lage auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn verständliche Worte zu bilden.
Mein Körper übernahm die Führung und nahm sich was er wollte. Und er wollte Dawson. Oh, wie sehr ich ihn in diesem Moment wollte.
Seine Hände strichen an meinen Seiten entlang, jagten kleine Stromschläge über meine Haut und kamen schließlich auf meinem Hintern zur Ruhe.
Er drückte mich fester an sich. Die Luft
wurde aus meinen Lungen gepresst und ich stöhnte zufrieden auf.
Ohne dass ich mich daran erinnern konnte, mich bewegt zu haben, bemerkte ich plötzlich, dass ich rittlings auf ihm saß.
Wieder ließ er seine Hände auf Wanderschaft gehen. Ohne zu zögern schlüpfte er unter mein Shirt und umschloss dann meine Brüste. Sie passten perfekt in seine Hände und schienen nur für sie gemacht zu sein.
Ich umfasste sein Gesicht und sah ihm tief in die Augen. Auch während wir uns weiter küssten, konnten wir den Blick nicht von dem jeweils anderen lösen. Wir waren gefangen im Strudel unserer
Leidenschaft. Ich wünschte mir, dass dieser Moment niemals enden würde.
Irgendwann lag ich nackt unter Dawson. Sein Blick verband sich mit meinem als er nach einem Anzeichen des Zögerns, der Unsicherheit suchte. Doch er würde nichts dergleichen finden. Seit dem Auftritt am Wohltätigkeitsabend war ich mir so sicher, wie man es nur sein konnte.
Alle Bedenken, die mir vorher noch im Kopf herumgeschwirrt waren, waren wie ausgelöscht. Auch wenn ich mich vor einer gefühlten Ewigkeit für Dawson entschieden hatte, war da doch immer noch ein winziger Teil, tief in meinem Unterbewusstsein vergraben, der Angst
hatte.
Was wenn ich wirklich krank war und mich sowohl emotional als auch körperlich einem einfachen Symptom hingab?
Ich konnte diese unsichtbare Grenze einfach nicht überschreiten. Aus diesem Grund konnte ich auch nie die drei Worte aussprechen, vor denen ich solche Panik bekam, als Dawson sie das erste Mal gesagt hatte.
Doch all das war jetzt vergessen. Ich war mir meiner Gefühle für Dawson so sicher, dass ich nicht länger warten wollte. Und auch wenn wir nie eine Beziehung führen konnten, wie alle meine Freunde es taten, so wollte ich
doch wenigstens all jene Erfahrungen mit ihm teilen, die möglich waren.
Ich war bereit und das zeigte ich Dawson mit meinem Blick. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, die er nun auf meine senkte und mich im nächsten Moment Gefühle empfinden ließ, die mich schier zu überwältigen drohten.
Ein Feuerwerk nach dem nächsten jagte durch meinen Körper und ließ ihn in tausend Teile zerspringen. So schmerzhaft diese Beschreibung auch klang, es war berauschend und weckte in mir das Gefühl, nach den Sternen greifen zu können.
Atemlos rollte Dawson sich von mir
herunter und zog mich in seine Arme. Mein Körper zitterte, mein Herz schlug so kräftig, dass ich dachte, es würde mir jede Sekunde aus der Brust springen und mein Atem kam stoßweise aus meinem Mund.
Nie hätte ich gedacht, dass ich diesen Mann noch mehr lieben könnte. Aber genau so war es. Hätte ich gewusst, wie umwerfend es sich anfühlen würde, hätte ich niemals so lange gewartet.