Der Urlaub
5. Kapitel
Die Maschine war pünktlich in Singapur gelandet und rollte langsam zum Gate. Obwohl Carla es bequem im Flugzeug hatte, war sie jetzt doch froh als sie die Flughafenhalle betrat. Endlich konnte sie sich etwas freier bewegen. Das würde ihr gut tun.
Der Changi International Airport war der sauberste Flughafen, den Carla bisher kennengelernt hatte. Nun ja, so viele waren es ja nicht, dachte sie. Auf ihrem Flug nach Australien war die Maschine hier
zwischengelandet. Deshalb war ihr der Flughafen nicht vollkommen fremd.
Keine überquellenden Abfallbehälter, kein Papierschnipsel auf dem blankpolierten Fußboden und schöne Blumenarrangements, die im Flughafengebäude an den unterschiedlichsten Stellen platziert waren. Im Zentrum des Terminals beeindruckte ein Gesteck aus roten Flamingoblumen, das nach Carlas Schätzung mindestens sechs Meter hoch war. Bewundernd blieb sie davor stehen und betrachtete die schönen Blüten. Sie erinnerte sich gelesen zu haben, dass Singapur vor einigen Jahren als sauberste Stadt der Welt genannt wurde. Sie war auf der Suche nach dem Bureau de Change, in
dem sie Euro in indonesische Rupiah tauschen wollte. Ihre Reiseschecks wollte sie je nach Bedarf auf Lombok eintauschen. Ab und zu blieb sie stehen und betrachtete die Auslagen in Modeboutiquen und Schmuckgeschäften. Ein Geschäft mit elektronischen Geräten hatte ihr besonderes Interesse geweckt.
Eine Vielzahl unterschiedlichster Fotoapparate waren in der Auslage. Preiswerter als in Deutschland, dachte sie, und beugte sich etwas vor um einen bestimmten Fotoapparat näher zu betrachten. In dem Augenblick wurde sie von dem älteren Paar, das im Flugzeug rechts von ihr in der Mittelreihe gesessen hatte, angesprochen.
„Entschuldigen Sie“, sagte der Mann, „wir möchten Geld tauschen, finden jedoch keine Wechselstube. Haben Sie vielleicht eine gesehen?“ Carla verneinte und erwiderte, dass sie selbst auf der Suche sei. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort und als sie um die nächste Ecke bogen, sahen sie das Bureau de Change. Nachdem alle ihr Geld getauscht und sorgfältig eingesteckt hatten, bedankte sich das Paar für die Hilfe herzlich bei Carla. Etwas unsicher blickte es sich um. Offenbar waren die beiden unschlüssig, wohin sie sich jetzt wenden sollten. Einer Bemerkung des Mannes hatte Carla entnommen, dass das Paar Ausschau nach einem ruhigen Plätzchen halten wollte. Deshalb fragte sie freundlich, ob sie bis zum
Weiterflug noch ausreichend Zeit hätten. Dann könnten sie diese auf der Terrasse verbringen, an die Carla sich noch erinnerte. Erfreut bejahten die beiden den Vorschlag und da Carla ebenfalls auf die Terrasse wollte, suchten sie diese gemeinsam auf. Draußen schlug ihnen feuchtwarme Luft entgegen. Trotzdem war Carla froh endlich dem klimatisierten Bereich geschlossener Räume nicht mehr ausgesetzt zu sein. Es gab mehrere große Sonnenschirme unter denen Sitzgruppen angeordnet waren. An jeder stand ein Ventilator, der zwar keine Kühlung, jedoch eine gewisse Luftbewegung bewirkte. Obwohl die Terrasse mit hohen Glasscheiben begrenzt war, bot sich kein Ausblick, da entlang der Glasfront Kübel mit
riesigen tropischen Gewächsen standen. Sie waren die einzigen Personen, die sich auf der Terrasse aufhielten und konnten sich somit den schönsten Platz - da waren sie sich einig - in der Nähe einer großen Topfpalme, die noch zusätzlichen Schatten spendete, aussuchen. Während das Paar in seinem Handgepäck offenbar etwas suchte, musterte Carla die beiden möglichst unauffällig.
Die Frau war klein und etwas füllig. Ihr Mann überragte sie um Kopfgröße, war schlank, beinahe schon hager.
Sie machten den Eindruck absolut bodenständiger Leute, die zum ersten Mal eine große Reise unternahmen.
Aber was Carla sofort für die beiden einnahm, war die liebevolle Art, in der sie
miteinander umgingen. Es erinnerte sie an ihre Eltern und einen Augenblick wünschte sie sich, sie wären hier. Endlich schien die Frau gefunden zu haben, wonach sie gesucht hatte. Sie förderte drei winzige Flaschen Trinkjoghurt zu Tage und bot Carla eine davon an. Innerlich schmunzelte Carla, nahm aber dankend das Angebot an. Die kleine Flasche Mineralwasser, die sie selbst mitgenommen hatte, musste sie bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen ja leider zurücklassen. Als die Frau erwähnte, dass sie vielleicht doch nicht so viel Zeit auf der Terrasse verbringen könnten, da sie noch ihr Abfluggate suchen müssten, fragte Carla, wohin denn ihr Weiterflug gehen würde.
„Nach Bali“, antwortete der Mann.
„Wir wünschten, wir wären schon da“, fuhr er fort.
„Das ist ja schön“, erwiderte Carla.
„Dann fliegen wir ja gemeinsam weiter. Ich fliege zunächst nach Bali und dann weiter nach Lombok. Wir haben noch eine knappe Stunde Zeit bis zum Abflug und können noch etwas den Aufenthalt hier genießen.“
Die Erleichterung war den beiden anzusehen, dass sie nicht allein durch das riesige Flughafengebäude irren mussten.
„Wenn wir schon gemeinsam weiterreisen, möchten wir uns auch vorstellen“, sagte der Mann.
„Ich bin Markus Kogler und das ist meine Frau Helene. Wir kommen aus Frankfurt.“
Carla stellte sich ebenfalls vor und wollte
gerade fragen in welcher Region Balis sie ihr Hotel gebucht hatten, als sich die automatische Tür zur Terrasse öffnete und ihr inzwischen vertrauter Bekannter aus Berlin, wie sie ihn jetzt in Gedanken nannte, die Terrasse betrat. Er blickte in ihre Richtung, neigte leicht den Kopf und lächelte freundlich bevor er zu einer Sitzgruppe ans andere Ende der Terrasse ging. Carla konnte nur noch unkonzentriert den Worten des Ehepaares Kogler folgen. Vielmehr war sie damit beschäftigt, sich den älteren Herrn genau anzusehen. Er war groß. Sie schätzte ihn mindestens einen Kopf größer als sie selbst war - vielleicht siebzig Jahre alt, ein von wenigen Falten durchzogenes markantes Gesicht und fast weißes, am Haaransatz über
der Stirn schon stark gelichtetes Haar. Er trug eine helle Hose und ein hellbraunes Polohemd. Eine braune Wildlederjacke legte er über die Lehne des Stuhles, der neben dem stand, auf den er sich setzte. Hellbraune Schuhe vervollständigten seine saloppe jedoch gut aufeinander abgestimmte Kleidung. Neben seinen Stuhl hatte er eine Aktentasche und eine kleine Reisetasche gestellt. Seine Gesichtsfarbe schien ihr etwas blass, sie konnte sich jedoch aufgrund der Entfernung auch täuschen. Dieser Mann ist meinetwegen hier, dachte sie. Doch bevor sie diesen Gedanken richtig verarbeiten konnte, war er schon wieder verflogen und sie hörte Frau Kogler sagen:
„… das Johnson´s soll ein sehr schönes
Hotel sein.“
Carla versuchte sich zu erinnern, was Frau Kogler vorher gesagt hatte, konnte aber keinen Zusammenhang herstellen. Sie wollte nicht, dass das Ehepaar bemerkte, wie unaufmerksam, eigentlich gar nicht, sie dem Gespräch gefolgt war, und so sagte sie:
„Mir wurde dieses Hotel ebenfalls empfohlen.“
„Mein Mann und ich sind in diesem Jahr siebzig geworden …“, sagte Frau Kogler.
„… und unsere Kinder haben uns zu diesem Anlass diese Reise geschenkt“, fügte ihr Mann hinzu.
Jetzt begriff Carla, dass die Koglers auch in einem Johnson´s wohnten, genau wie sie selbst, aber auf Bali. Da haben die Kinder
ihren Eltern aber ein sehr großzügiges Geschenk gemacht, dachte sie, denn sie wusste nur zu gut, was diese Reise kostete. Sie erzählte den beiden, dass sie in einem Hotel derselben Hotelkette wohnen würde, allerdings auf Lombok. Carla schaute auf ihre Uhr und schlug vor, sich auf den Weg zum Abfluggate zu begeben. Sie hatte schon auf der Suche nach der Wechselstube auf die Nummerierung der Gates geachtet und vermutete, dass sie bis zum Ende des Terminals gehen müssten. Als Frau Kogler den Inhalt der Tasche ordnete, aus der sie die Joghurtflaschen genommen hatte, fiel Carla wieder auf, wie schwer sich die Tasche bewegen ließ. Sie erinnerte sich, dass Herr Kogler Mühe hatte, die Tasche in der
Gepäckbox zu verstauen. Ihr etwas verwunderter Blick wurde von Frau Kogler bemerkt, die daraufhin lächelnd sagte:
„Mein Mann wollte seine Reiseliteratur lieber im Handgepäck transportieren als im Koffer. Wenn der Koffer verlorengeht ist das für ihn kein Problem, Hauptsache er hat seine Bücher. Und sechs Bücher haben schon ein Gewicht.“
Sie lächelte und sah dabei ihren Mann an.
„Aber du musst sie ja tragen“, meinte sie zu ihm.
Carla erkundigte sich interessiert, was Herr Kogler denn gerade Spannendes lesen würde und war überrascht als er antwortete:
„Die Epoche der Renaissance hat mich schon immer beeindruckt, besonders Malerei
und Architektur. Jetzt werde ich mich etwas intensiver darüber informieren.“
„Aber er liest auch Kriminalromane, historische Bücher, Biographien“, schaltete Frau Kogler sich wieder in das Gespräch ein. Bei diesen Worten schob sie energisch die Hand ihres Mannes zur Seite, der ein dickes Buch aus der gerade gepackten Tasche ziehen wollte, um es Carla zu zeigen.
„Ein ruhiges Plätzchen, eine Tasse Tee und ein Buch sind für ihn die beste Entspannung und er ist der glücklichste Mensch.“
Liebevoll tätschelte Herr Kogler den Arm seiner Frau, die endlich die Tasche geschlossen hatte, und sie dann demonstrativ ihrem Mann hinschob. Carla brannte eine Frage auf der Zunge, wusste
jedoch nicht, ob es nicht doch zu aufdringlich war, sie zu stellen. Aber schon kamen ihr die Worte über die Lippen.
„Ich habe kürzlich ein Buch mit dem Titel ´Šaman` gesehen, Herr Kogler. Wissen Sie vielleicht was dieses Wort bedeuten könnte?“
In dem Moment erkannte sie das Absurde ihres Verhaltens. Sie hatte das Ehepaar erst vor kurzer Zeit kennengelernt. Wie kam sie dazu diese Frage zu stellen? Außerdem, was interessierte sie überhaupt dieses Buch, das sie bei dem älteren Herrn gesehen hatte. Dabei streifte ihr Blick kurz den Mann auf der anderen Seite der Terrasse. Sie wollte sich schon für ihre Aufdringlichkeit entschuldigen, als Herr Kogler antwortete.
„So genau weiß ich das nicht. Aber es hat
etwas mit Schamanismus zu tun.“
Bedauernd hob er die Schultern und schüttelte leicht den Kopf.
„Šaman“, murmelte er vor sich hin und sagte dann etwas zögernd:
„Man müsste den Wortursprung wissen. Ich glaube es hat auch etwas mit Hitze und Feuer zu tun. Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Das ist ein Thema mit dem ich mich noch nie beschäftigt habe. Irgendwann habe ich einmal einen Artikel in der Zeitung darüber gelesen.“
Dafür, dass er sich mit diesem Thema nicht beschäftigt hatte, wusste er doch mehr als sie selbst, dachte Carla. Sie hatte keine Zweifel an seinen Erklärungen. Jetzt wünschte sie noch aus einem anderen Grund,
die Frage nicht gestellt zu haben. Denn das Wissen um die Bedeutung dieses Wortes bereitete ihr das gleiche Unbehagen, das sie schon empfunden hatte, als sie es zum ersten Mal gelesen hatte. Verwirrt warf sie sich ihre Tasche über die Schulter, griff ihre Reisetasche und gemeinsam mit den Koglers machte sie sich auf den Weg zum Abfluggate. Auch der ältere Herr traf Anstalten aufzubrechen.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe
09/2013