Der Urlaub
4. Kapitel
Sie flog mit Rolf nach Australien. Es war keine Urlaubsreise, jedenfalls für sie nicht ... und für Rolf erst recht nicht. Aber er sah das anders. Rolf war Informatiker und hatte eigentlich eine engere Beziehung zu seinem Computer als zu ihr. Das wurde ihr aber erst später klar. Als sie Rolf vor vier Jahren auf einer Geburtstagsfeier bei Simone kennenlernte, verstanden sie sich auf Anhieb. Er war sympathisch und erzählte anschaulich und unterhaltsam von seinen Reisen, die er aus beruflichen Gründen
unternehmen musste. Sie verabredeten sich schon für das nächste Wochenende, weitere Treffen folgten, und acht Monate später zog Rolf bei ihr ein. Der Umzug von seinem möblierten Zimmer bei einem Freund in ihre Wohnung erfolgte ohne großen Aufwand. Ein Computer, ein Laptop, ein Bücherregal, Kleidung und einige persönliche Dinge, die sich auf Fotos und Matchbox-Autos
beschränkten. Das Gästezimmer wurde etwas verändert. Rolfs Computer belegte mit Zubehör ihren Schreibtisch. Ihr eigener Computer bekam seinen Platz auf dem kleinen Tisch vor der Couch. Verbindungs- und Verlängerungskabel schlängelten sich durch das ganze Zimmer.
Von gelegentlichen Theater- oder
Restaurantbesuchen abgesehen, gestaltete sich ihr Zusammenleben nicht sehr aufregend. Eine Situation, die sie vielleicht nach dreißigjähriger Beziehung akzeptiert hätte, aber nicht nach so kurzer Zeit. Rolfs Geschäftsreisen brachten zwangsläufig immer wieder kurze Trennungen mit sich, die sie jedoch als notwendig und normal empfand. Nicht normal fand sie, dass er sich immer öfter ins Gästezimmer zurückzog, um am Computer zu arbeiten. Als Rolf sie eines Tages mit dem Vorschlag überraschte, sie auf eine zweiwöchige Reise nach Australien zu begleiten, stimmte sie ohne Zögern zu. Er hatte eine Einladung von zwei australischen Computerfachleuten bekommen, die er auf einer Fachtagung kennengelernt hatte.
„Es ist keine Geschäftsreise“, sagte er.
„Ich nehme meinen Urlaub für diese Reise“, fügte er noch mit Nachdruck hinzu. Schon wie er das sagte, hätte sie stutzig werden lassen müssen. Er erzählte ihr, dass die australischen Kollegen an einem intensiven Informationsaustausch interessiert waren, sie jedoch keine Möglichkeit hätten, ihn über ihre Firma einzuladen. Die Besichtigung neuer Datenerfassungsanlagen und die Teilnahme an Diskussionsrunden in ihrer Firma wäre jedoch möglich. Da diese unverhoffte Einladung seinem Wissendrang nach neuer Computertechnik sehr entgegenkam, opferte er gerne seinen Urlaub dafür. Er müsste nur die Flugkosten und die Verpflegung bezahlen, die Unterkunft wäre frei. Sie flogen
mit der australischen Fluggesellschaft Quantas über Bangkok und Singapur nach Adelaide im Süden Australiens. Nach zweiunddreißig Stunden Reisezeit - bedingt durch längere Wartezeiten während der Zwischenlandungen - kamen sie an einem Vormittag bei 37 °C am Bestimmungsort an. Sie wohnten in einem kleinen Haus in Hackham West, einem unscheinbaren Ort, der fünfundzwanzig Kilometer außerhalb von Adelaide lag. Der Garten, der das Haus umgab, war ungepflegt, doch eine überdachte Terrasse, auf der eine geschmacklose Sitzgarnitur aus Plastik stand, bot immerhin die Möglichkeit, zumindest am Morgen, wenn es noch nicht so heiß war, dort zu frühstücken. Der
australische Kollege, der sie vom Flughafen abgeholt hatte und nach Hackham West brachte, gab ihnen noch einige Hinweise zu technischen Besonderheiten im Haus, versprach sie am nächsten Vormittag mit dem Auto nach Adelaide zu fahren und verabschiedete sich dann bald. Erschöpft und müde aßen sie noch eine Kleinigkeit aus dem mäßig gefüllten Kühlschrank und holten dann erst einmal den versäumten Schlaf nach.
Als sie das erste Mal wach wurden war es bereits dunkel und ohne zu wissen, wie spät es war, beschlossen sie, weiter zu schlafen, bis der nächste Morgen sie wecken würde.
Ausgeruht und gut gelaunt frühstückten sie am nächsten Tag auf der Terrasse. Zuvor
hatten sie das Haus erkundet, da sie bei ihrer Ankunft dafür zu müde waren. Ein großes Wohnzimmer mit angrenzender amerikanischer Küche, zwei winzige Schlafzimmer und ein Bad mit Dusche und Badewanne boten ein perfektes Urlaubsdomizil. Dass es fast ausschließlich Carlas Aufenthaltsort sein würde ahnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Wie sie später erfuhren, gehörte das Haus einem der beiden australischen Kollegen, der es nach seiner Scheidung behalten, selbst aber inzwischen eine Wohnung in Adelaide hatte. Von Zeit zu Zeit vermietete er das Haus an Urlauber und hatte so eine willkommene Nebeneinnahme. Von der Frontseite des Hauses sah man in der Ferne die Große
Australische Bucht. Es bedurfte jedoch einer Autofahrt von ungefähr zwanzig Minuten, bevor sie an dem traumhaften und fast menschenleeren Strand waren. Sie besprachen, was an diesem Tag besonders wichtig war und kamen überein zuerst ein Auto zu mieten und dann dafür zu sorgen, dass der Kühlschrank ordentlich gefüllt war. Außerdem wollten sie ihren Aufenthalt in Adelaide nutzen sich die Stadt ein bisschen anzuschauen. Vielleicht würden sie ein nettes Restaurant finden um eine Kleinigkeit zu essen. Dann konnten sie entscheiden, wie sie ihren Aufenthalt in Australien gestalten wollten. Rolf hatte schon vorsichtig darauf hingewiesen, dass seine Zeit sehr begrenzt sein würde, da er in erster Linie von der
Programmgestaltung seiner Gastgeber abhängig sein würde. Die war jedoch recht großzügig angelegt, so dass noch genügend Spielraum für Freizeitunternehmungen vorhanden war. Aber Rolf war wie besessen mehr und mehr für ihn technisches Neuland zu erkunden und die damit aufgetretenen Fragen mit seinen Kollegen in Deutschland zu erörtern. Wenn er von Zusammenkünften mit seinen australischen Kollegen zurückkehrte, setzte er sich sofort an seinen Laptop, las seine inzwischen eingegangene elektronische Post und verschickte mehrere E-Mails. Carla langweilte sich und bedauerte, dass sie Rolf auf diese Reise begleitet hatte. Zweimal fuhren sie an den herrlichen Strand von Christies Beach, ohne jedoch ins Wasser
zu gehen. Carla empfand das fast schmerzhaft. Sie hatte das Meer vor Augen und wagte es nicht ins Wasser zu gehen. Sie hatten erfahren, dass zwei Wochen zuvor ein Mann beim Schwimmen von einem Hai angegriffen und schwer verletzt wurde. Einmal besuchten sie ein Weingut im Barossa Valley, einer nahe gelegenen Region, die für guten Weinanbau bekannt war. Der Wein, den sie dort getrunken hatte, war wirklich exzellent . Er wirkte allerdings verheerend auf Carla, nachdem sie den kühlen Weinkeller verlassen hatte und in die Hitze hinausgetreten war. Rolf hatte auf den Weingenuss verzichtet, da er das Auto fuhr. Carla hatte sehr schnell gemerkt, dass sie mit dem Linksverkehr in diesem Land
Probleme hatte und wagte sich deswegen nicht selbst mit dem Auto zu fahren. So konnte sie die Zeit, die Rolf am Computer saß, auch nicht nutzen, um eigene Unternehmungen zu starten. Sie verbrachte ihre Zeit mit Lesen - deutschsprachige Bücher hatte sie sich in Adelaide gekauft - oder langen Spaziergängen, die sie wegen der hohen Temperaturen aber nur morgens oder abends unternehmen konnte. Sie war enttäuscht und verärgert. Es kam zu ihrem ersten ernsthaften Streit. Der dabei entstandene erste Riss zwischen ihnen schloss sich auch nicht mehr. Wieder zu Hause bemühten sie sich - sie selbst mit mehr Toleranz, Rolf mit mehr Interesse für gemeinsame Unternehmungen - die alte
Verbundenheit erneut herzustellen. Doch die Anziehungskraft des Computers war größer als ihre eigene. Sie waren nur noch eine Wohngemeinschaft, die versuchte gut miteinander auszukommen. Rolf konnte sich mit dieser Situation arrangieren, Carla nicht. Vor einem Jahr zog Rolf dann genauso unspektakulär aus, wie er eingezogen war. Sie erinnerte sich noch genau an Gerlindes Worte.
"Verschenkte Zeit“, hatte sie gesagt.
„Mich hat schon lange gewundert, dass dir nicht eher aufgefallen ist, wen Rolf mehr liebt - den Computer oder dich“, fügte sie noch hinzu. Er packte seine Kleidung und seine persönlichen Dinge, verstaute seinen Computer samt Zubehör und bezog wieder
ein Zimmer zur Untermiete. Das Bücherregal konnte sie behalten und ihr eigener Computer bekam wieder seinen Platz auf ihrem Schreibtisch. Bei Rolf hatte ihr Frühwarnsystem versagt.
Ein mehrmaliges Ruckeln der Maschine riss sie aus ihren Gedanken. Ihr war unangenehm warm, so dass sie zu dem älteren Paar auf der anderen Seite des Ganges schaute, ob sie vielleicht Anzeichen entdecken würde, die darauf deuteten, dass es ihm ebenso erging. Aber beide waren in ihre Decken gewickelt und blickten etwas unsicher um sich. Die Beleuchtung in der Kabine war wieder etwas heller geworden und die elektronische Anzeige forderte die
Passagiere auf, sich anzuschnallen und die Sitze senkrecht zu stellen.
An den hochgestellten Sitzen erkannte Carla, dass der größte Teil der Passagiere dies schon getan hatte, denn die Turbulenzen hatten nicht nur an Heftigkeit zugenommen, auch das Ruckeln der Maschine erfolgte nunmehr in immer kürzeren Intervallen. Wahrscheinlich durchflogen sie eine Schlechtwetterfront. Vielleicht überflogen sie auch ein Gebirge. Carla hatte aber jetzt keine Lust den Fernseher einzuschalten, um anhand der Flugroute festzustellen, wo sie sich gerade befanden. Sie hoffte, dass sie bald den bisherigen ruhigen Flug fortsetzen würden können. Diese Hoffnung sollte sich nicht so bald erfüllen. Es dauerte immerhin
fast eine Stunde bis die Maschine wieder in ruhigere Gefilde kam. Carla traf Vorbereitungen, um nun endlich etwas zu schlafen. Sie legte die Decke, die immer noch auf dem Nebensitz lag, ordentlich zusammen, da sie sie nicht brauchen würde, denn ihr war immer noch warm, legte ihr Kissen zurecht und bat die Stewardess noch um ein Glas Mineralwasser, das sie in der dafür vorgesehenen Halterung abstellte, nicht ohne gründlich zu prüfen, ob dieses auch sicher stand. Unerwartet schnell schlief sie ein und wachte erst wieder auf als das erste Tageslicht durch das Kabinenfenster schimmerte. Sie hatte dieses absichtlich nur teilweise verdunkelt. Carla war schweißgebadet und ihr Herz klopfte bis zum
Hals. Sie grübelte ob sie zu intensiv geträumt hatte oder krank werden würde. Die letzte Möglichkeit schob sie weit von sich, denn eine Krankheit konnte sie im Urlaub überhaupt nicht gebrauchen. Sie musste unbedingt zur Toilette, um sich zu erfrischen. Immer wieder benetzte sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser, hielt ihre Handgelenke unter den etwas spärlichen Wasserstrahl und nach einiger Zeit fühlte sie sich wirklich besser. Sie trocknete sich das Gesicht ab und blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Dabei dachte sie an die letzte Nacht zu Hause.
Da hatte sie ebenfalls geträumt. Sie war vollkommen desorientiert gewesen als sie erwachte. Aber sie konnte sich an den Traum nicht erinnern. Die wenigen Traumfetzen, die
nach dem Aufwachen noch durch ihren Kopf geisterten, verblassten schon nach kurzer Zeit. Sie wusste nur, dass es ein schrecklicher Traum war. Und sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass der Traum eine Bedeutung für sie hatte. Unangenehm berührt verließ sie die Toilette. Als sie zu ihrem Platz zurückging konnte sie die Kabine recht gut überblicken, da die meisten Passagiere ihre Fensterverdunkelung schon geöffnet hatten und außerdem die Bordbeleuchtung volles Licht gab. Unwillkürlich hielt sie Ausschau nach dem Mädchen, das kurzzeitig den Platz neben ihrem eigenen eingenommen hatte, konnte es aber nicht entdecken. Aber sie sah den älteren Herrn, der ihr schon auf dem
Flughafen in Berlin aufgefallen war und den sie in Frankfurt den Zugang zur Maschine hatte betreten sehen. Er saß ganz hinten in der anderen Fensterreihe und blickte sie mit ernsten und wie ihr schien besorgten Augen an. Verwirrt setzte sie sich auf ihren Platz und hatte sofort wieder das Gefühl, dass es wärmer wurde. Erneut berührte sie den Nebensitz und ihren eigenen Platz an den unterschiedlichsten Stellen, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken.