Kurzgeschichte
Halber Neuanfang

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"Halber Neuanfang"
Veröffentlicht am 28. Februar 2016, 20 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Gunnar Assmy - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

I believe in God, but not as a thing, not as an old man in the sky. I believe that what people call God is something in all of us. -John Lennon
Halber Neuanfang

Halber Neuanfang

Es war eine ungewohnte Situation, als ich von der Schule nach Hause kam. Ich hatte Angst, aber ich war auch glücklich, weil ich wusste das morgen ein neuer Lebensabschnitt für mich beginnen würde. Ich schloss die Tür auf, zog Jacke und Schuhe aus und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß meine Mutter, sie war vor mir zu Hause. Als sie mich bemerkte schaute sie mich an. In ihrem Blick konnte ich die Enttäuschung sehen. Mir wurde etwas schummerig, aber trotz allem musste ich immer wieder daran denken, dass ab morgen mein Leben besser verlaufen würde. Ich setzte mich gegenüber von ihr hin, verschrenkte die Arme, so wie ich es immer tat, wenn

ich nicht wusste was ich machen sollte in einer unangenehmen Situation, und schaute auf den Glastisch vor mir. Ich konnte ihre erwartungsvollen Blicke auf meinem Körper spüren, doch ich wusste nicht was ich hätte sagen können. Was sagt man seiner Mutter wenn man als Minderjährige das elterliche Haus verlässt, um bei wem anders ein besseres, fröhlicheres Leben zu führen? Als ich aufschaute wanderte der Blick meiner Mutter raus, in unseren Garten. Ich sah, wie sie das Kinn anhob und ihre Augen stur in eine Richtung schauten, ihre Mundwinkel zuckten hin und her als wolle sie mir etwas sagen. So schaute sie immer, wenn sie enttäuscht worden war.

Mit diesem Blick hatte sie mir unzählige Male ein schlechtes Gewissen gemacht, hatte mir all meine Fehler immer wieder schweigend vorgeworfen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr. Ich schaute wieder auf den Glastisch und wartete darauf, das meine Mutter etwas sagte. Doch es kam nichts. Es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit, ich hörte die Vögel im unserem Garten, meine geistig-behinderte Nachbarin nebenan die die Treppen hinunterlief und hin und wieder ein Auto, dass durch die Siedlung fuhr. Ich spürte die Sonnenstrahlen die durch die Gardinen auf meine Arme herabfielen. Und dann, dann hörte ich wie meine Mutter tief Luft holte und ein

„Warum?“ in den Raum hauchte. „Na toll“, dachte ich „was soll ich ihr denn darauf jetzt antworten?“ . Ich schaute sie an. In ihren Augen bildeten sich kleine wässrige Stellen, vereinzelt liefen ihr Tränen über die Wange. Ich wusste nicht, ob ich auch weinen sollte oder einfach nur so da sitzen bleiben sollte wie bisher. Ich entschied mich für letzteres und bekam einige Minuten später ein schlechtes Gewissen. Selbst jetzt schaffte sie es noch, mich fertig zu machen. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, meine Mutter starrte wieder in den Garten. Dann hörte ich ein Auto vorfahren. Ja es war das Auto von meinem Vater. Die Autotür

wurde zugeschlagen, der Schlüssel im Türschloss herumgedreht und anschließend an die Tür in der Küche gehangen. Ich zuckte auf, als er die Küchentür und anschließend die Wohnzimmertür zuknallen ließ. Eigentlich machte er das jeden Tag, aber heute war es anders, es war lauter, aggressiver. Aber warum war mein Vater aggressiv? Wegen ihm hat das Ganze doch angefangen. ,,Na“, sagte mein Vater während er sich neben meine Mutter auf das Sofa setzte. Sein Hand streichelte die meiner Mutter um sie zu beruhigen, vergebens. Es war Nachmittag und ich hatte nichts besseres zutun als meinen letzten Tag in der Familie auf dem Sofa

hockend zu verbringen. Ich wusste genau wie dieser Tag enden würde: Ich gab meiner Mutter noch zehn Minuten, dann würde sie aufstehen, mich anschauen, mir vorwerfen ich hätte ja nie etwas zu sagen und leicht stampfend den Raum verlassen. Dann würden mein Vater und ich uns anschauen, ich würde seinen Hass und seine Wut sehen, einen patzigen Kommentar geben, aufstehen und mich in mein Zimmer zurückziehen. So war es immer. Und so war es auch diesmal.


Nachdem ich in meinem Zimmer angekommen war, holte ich meine Reisetasche hervor, packte alle wichtigen

Dinge ein und setze mich schließlich auf mein Bett, mit Tränen in den Augen. Ich holte ein Bild von mir und meinem Vater aus einem verstaubten Karton und betrachtete es eine ganze Weile. Dann klopfte es an der Tür. Ich schaute auf die Uhr: 20:18. Als ich wieder zur Tür schaute stand meine Mutter im Türrahmen, verweint und leicht zitternd. ,,Du kannst mich doch nicht mit Papa alleine lassen“, wimmerte sie. Ich schaute sie mit traurigem Blick an und dachte ,,Du konntest mich in den Weihnachtsferien auch mit ihm alleine lassen!“. Ich wusste nicht was ich sagen sollte, wie ich reagieren sollte, also hauchte ich nur ein „Tut mir Leid“.

Meine Mutter rollte mit den Augen und ging. Das war’s. Mein Vater ließ sich wie immer nicht mehr blicken. Als ich mich auf den Weg ins Badezimmer machte, hörte ich, wie sich meine Eltern unten im Wohnzimmer stritten. Auch nichts neues. Ich putzte mir die Zähne, zog mich um, legte mich ins Bett und hörte Musik, um der ganzen Welt aus dem Weg zu gehen. Mir gingen tausende Gedanken durch den Kopf, unzählige Fragen. Immer wieder ließ ich die vergangen Jahre revue passieren. Immer wieder machte ich mir Vorwürfe. Immer wieder gab ich mir die gesamte Schuld an dem Zusammenbruch meiner Famlie. Erneut liefen mir Tränen die Wange

hinunter. War ich wirklich so eine schlechte Tochter? Hatte ich wirklich alles falsch gemacht? Wieder und wieder dachte ich auch die schönen Momente in meinem Leben. Dann schlief ich ein. Am nächsten Morgen wurde ich von meinem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Ich schlug meine Bettdecke um, wälzte mich auf die andere Seite und krabbelte mühselig aus meinem Bett. Ich ging runter in die Küche, bergrüßte meinen Vater und ging duschen. Meine Mutter war schon auf dem Weg zur Arbeit. Als ich aus der Dusche kam, mir meine Haare föhnte und mich anschließend an das Packen meiner Tasche begab, hörte ich

von unten nur noch ein kurzes „Auf Wiedersehen, viel Spaß“. Ich hielt einen Moment inne um zu hören, ob er noch irgendetwas sagte, aber nichts. Ich schüttelte den Kopf, nahm meine Schultasche, meine Reisetasche und meine Jacke und machte mich auf den Weg zum Bus. Im Bus angekommen, schaltete ich mein Handy ein: Keine neuen Nachrichten. Naja, warum sollte mir meine Mutter auch schreiben. Ich wollte heute ausziehen. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Wie fast jeden Abend waren wir im Streit auseinander gegangen. Normalerweise hätten wir uns am nächsten Mittag bzw. Nachmittag wieder vertragen, aber dieses Mal gab es

kein nächstes Mal. In der Schule war alles wie immer, mit dem kleinen Unterschied, dass ich etwas nervöser war als sonst. Heute begann mein neues Leben. Die Schule würde ich nicht wechseln, aber mein Zuhause.


Nach der Schule verabschiedete ich mich von meinen Freunden und ging zum Parkplatz. Direkt in der ersten Reihe sah ich sie. Als sie mich erblickte, stieg sie aus, kam auf mich zu und gab mir die Hand. Es war eine ungewohnte Situation, dennoch war ich glücklich. Ich war gespannt, was mich erwartete. Meine Taschen legte ich in den Kofferraum. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und

schwieg. Zwischendurch schielte ich zu ihr hinüber und bemerkte, das auch sie mich ab und zu beobachtete. Ich wollte etwas sagen, ein Gespräch anfangen, aber ich wusste nicht wie. Sie war eine Lehrerin von mir. Sie war jung und trotzdem war sie bereit gewesen mich für einen noch nicht geklärten Zeitraum bei sich aufzunehmen. Die Fahrt dauerte nicht lange, kurz vor Ende fragte sie mich wie es mir geht. Ich war erleichtert, das wenigstens sie irgendwann etwas gesagt hatte. So langsam kamen wir ins Gespräch.

Bei ihr angekommen, öffnete sich sofort die Haustür. Ein junger Mann kam heraus, machte meine Tür auf und

umarmte mich. Als ich ihn etwas irritiert anschaute, lachte er und sagte: „ Ach du musst das verloren gegangene Kind sein, herzlich Willkommen in unserer bescheidenen Familie!“. Ich schaute immer noch etwas irritiert zu meiner Lehrerin, die mich daraufhin mit einem Alles-ist-gut-er-macht-Witze-Lächeln anschaute. Ich musste lachen. Als ich meine Taschen aus dem Kofferraum geholt hatte und nun etwas verloren im Hausflur stand, fiel mir auf, wie glücklich ich auf einmal war. Mit einem „Komm rein, fühl dich wie zu Hause. Tom wird dir gleich dein Zimmer zeigen“,wurde ich von ihr ins Wohnzimmer gezogen. Ich schaute mich

um. Es war groß, modern und wirklich gemütlich eingerichtet. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Tom tippte mich von hinten an und verdeutlichte mir mit einem Augenzwinkern, dass ich ihm doch bitte folgen solle. Wir gingen eine schmale Wendeltreppe hoch und einen kleinen Flur entlang bis ans Ende. Er leitete mich in ein großes, geräumiges Zimmer und machte eine auschweifende Handbewegung „Das ist dein Reich“. Ich war perplex. „Wie? Das alles?“, fragte ich ihn. „Das alles“, antwortete er und ließ sich auf einen kleinen Sessel neben dem Fenster fallen. Ich schaute mich um. Immer und immer wieder. Ich konnte es kaum glauben. Ich hätte mir allem

gerechnet, aber auf keinen Fall damit. Ein riesiges, eigenes Zimmer. Eine halbe Familie die überfreundlich zu mir war. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Dann legte ich meine Taschen auf das Bett und begann meine Sachen in den Schrank zu räumen. Als ich die neugierigen Blicke von Tom bemerkte, hielt ich einen Moment inne, ich hatte gerade ein Foto von mir und meinen Eltern in der Hand. Ein Foto, wo wir alle drei vor einem Rathaus auf den Steintreppen saßen. Niederlande 2014. Ein wirklich schöner Urlaub, der allerdings auch im Streit endete. Plötzlich stand Tom auf, ging zur Tür und verabschiedete sich mit einem „Ich

will dich ja nicht stören, ich gehe mal unten in der Küche helfen“. Ich mussten lachen.


Ich ging die Treppe hinunter und blickte auf einen gedeckten Esstisch. Sich gegenübersitzend erblickte ich meine Lehrerin und ihren Mann. Beide lächelten mich an und baten mich zu Tisch. Spaghetti Bolognese. Lecker. Als ich mich hingesetzt hatte, überkam mich ein nervöses Gefühl. Was würden Gesprächsthemen beim Essen sein? Würden sie fragen, wie meine Eltern reagiert hatten? Ich starrte etwas abwesend nach draußen um keine Panikattacke zu bekommen. „Es ist alles

gut keine Angst“, sagte Tom und wollte mir seine Hand auf die Schulter legen. Ich zuckte blitzartig zusammen. „Mist“, dachte ich. „Tut mir Leid“, entschuldigte ich mich und schaute ihn etwas wehleidig an. Er nickte nur und sagte „Ist schon gut, kein Problem.“. Meine Lehrerin hingegen war etwas aufmerksamer und wollte wissen warum ich bei Berührungen jener Art immer so zusammenzuckte, sie kannte es ja schon aus der Schule, wenn sie versucht hatte mich zu beruhigen. Ich wollte nicht antworten aber ich auf der anderen Seite, könnte es auch helfen. Ich überlegte eine Weile. Ich wunderte mich, dass keiner der beiden mein Schweigen unterbrachen

oder mich anmeckerten, warum ich nicht antworten würde. Sie saßen einfach nur da. Wir aßen in Ruhe weiter und wechselten das Thema


Nach dem Essen, machte sich Tom auf den Weg in sein Arbeitszimmer und meine Lehrerin fragte mich, ob wir den Abend nicht gemeinsam verbringen wollen würden. Ich stimmte zu. Wir kochten uns einen Tee und setzten uns auf das Sofa. Ich merkte wie meine Lehrerin mich beobachtete. Dann konnte ich nicht mehr. Ich musste ihr einfach alles erzählen. Ich konnte sie nicht weiter anlügen. Sie hatte mich bei sich aufgenommen. Sie musste die ganze

Wahrheit wissen. Und so begann ich zu erzählen:

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Über den Autor

ImkeSte
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Loraine Spannend - ich bin an weiteren Kapiteln sehr interessiert! LG Loraine
Vor langer Zeit - Antworten
Rehkitz Liest sich sehr gut. Denke das Du etliche Leser verbuchen darfst. Weiterschreiben ist angesagt.

Liebe Grüße
Theresia
Vor langer Zeit - Antworten
trixi1303 Also mir gefällts. Bin gespannt wie es weiter geht.
Vor langer Zeit - Antworten
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