die tür zur kindheit
Ich weiß nicht mehr, wieso ich ausgerechnet an diesem Tag auf die Idee kam den Dachboden zu entrümpeln, aber es war irgendwann mal nötig, sich von dem alten Zeugs zu trennen.
Beim Aufräumen fand ich dieses kleine Kästchen wieder, in dem ich als Kind meine „Schätze“ versteckt hatte.
Ich öffnete sie und betrachtete lächelnd die kleinen Spielzeugautos, die Steinschleuder und noch anderen Krimskrams, der mir damals viel bedeutete.
Ganz unten lag ein sorgsam gefalteter Zettel. Ich entfaltete ihn und strich ihn glatt. Es war eine Art Schatzkarte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, sie gezeichnet zu haben.
Aber es war eindeutig mein kindlich unbeholfenes Werk, das ich da in Händen hielt.
Ich musste es vor gut 40 Jahren gezeichnet haben. Doch, wozu?
Es war eine Skizze des Hauses, in dem wir damals gewohnt hatten, mit einer Wegbeschreibung durch den Keller in den Gang, an dessen Ende diese verschlossenen Tür war.
Langsam dämmerte es mir wieder. Diese
Tür, die immer verschlossen war und in der Fantasie von uns Kindern ein großes Geheimnis barg.
Doch etwas anderes auf diesem Zettel erregte meine Aufmerksamkeit. Etwas, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. Es war das heutige Datum. Und in meiner krakeligen Kinderschrift stand in großen Buchstaben und zweimal unterstrichen: „Wichtig! Unbedingt noch heute!“
Es war unheimlich. Ich hatte vor 40 Jahren eine Botschaft an mich selbst geschrieben, die ich im Laufe der Zeit komplett vergessen hatte und sie genau an dem Tag durch Zufall gefunden, der auf dem Zettel stand.
Ich beschloss meinem jüngerem Ich zu gehorchen und das alte Haus in der Stadtmitte auf zu suchen, in dem ich damals gewohnt hatte. Inzwischen war es nicht mehr bewohnt und stand schon lange leer. Der Eingang zum Keller befand sich hinter dem Haus und war zu meiner Verwunderung nicht ab geschlossen. Die Treppe die hinab führte war noch etwas steiler, als ich sie in Erinnerung hatte und auch das Deckengewölbe kam mir niedriger vor.
Anscheinend hatte es auch niemand für nötig gehalten das ganze Gerümpel heraus zu schaffen, das mir den Weg zu dem Gang mit der Türe erschwerte.
Endlich hatte ich sie erreicht. Der Gang mit der grob gezimmerten Holzverkleidung, die schon fast an einen Bergwerkstollen erinnerte und die schwere zweiflügelige Holztüre, die immer verschlossen war.
Ich war mir nicht mehr sicher, was ich eigentlich hier sollte. Hinter dieser Türe konnte nur das Nachbargebäude sein mit noch mehr Gerümpel. Ich wollte schon umkehren und fasste unbewusst in meine Jackentasche, in der sich der Zettel befand. „Wichtig! Unbedingt noch heute!“, las ich meine Botschaft von damals und konnte mir vorstellen, wie immens wichtig mir das damals gewesen
sein musste.
Ich seufzte und drückte die Klinge der Tür herab. Zu meinem großen Erstaunen ließ sie sich tatsächlich öffnen.
Aber dahinter befand sich nicht das Nachbargebäude, sondern eine grüne Landschaft.
Neugierig betrat ich die irreale Welt hinter der Türe. Nur wenige Schritte später bemerkte ich einen kleinen Jungen, der gedankenverloren mit einem Spielzeugauto spielte.
„Hallo“, begrüßte ich ihn. Der Kleine drehte sich zu mir um und lächelte.
„Es hat geklappt“, freute er sich. „Es hat tatsächlich geklappt und du bist hier.“
Als ich in sein Gesicht sah, traf mich
fast der Schlag. Er war ich. Ich vor 40 Jahren.
Er erzählte mir, wie er die Karte gemalt und die Botschaft geschrieben hatte. Er wollte wissen, wie er in 40 Jahren lebt. Mit jedem Wort kam mir die Erinnerung wieder, wie ich die Karte gemalt und die Botschaft geschrieben hatte, um zu erfahren, wie es mir als Erwachsener ginge.
„Träume ich?“, fragte ich ihn. „Möglich“, antwortete er. „Womöglich träumen wir beide. Ich als Kind und du als Erwachsener.“
Ich setzte mich zu ihm auf den Rasen und wir unterhielten uns. Er erzählte mir von Dingen aus meiner Kindheit, die ich
schon längst vergessen hatte und ich berichtete ihm, was er in seinem zukünftigen Leben alles erwarten würde.
Je länger wir uns unterhielten, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich diesen Traum schon mal geträumt hatte, vor 40 Jahren.
Ich wollte damals unbedingt wissen,was aus mir werden würde, wenn ich mal erwachsen bin.
In meiner Fantasie befand sich hinter der Türe am Ende des Ganges im Keller ein Zauberland, in dem sich alle Wünsche erfüllen. Aber ich konnte nur im Traum dorthin gelangen. Also kam ich auf die Idee, mir selbst eine Nachricht zu schreiben, die ich 40 Jahre später finden
sollte und die mich als Erwachsenen in dieses Zauberland hinter der Türe führen sollte.
Ich zeichnete auf einen Zettel den Weg zu dieser Türe und schrieb ein Datum, das 40 Jahre in der Zukunft lag darauf. Um zu unterstreichen, wie wichtig mir das war, schrieb ich noch in großen Buchstaben dazu: „Wichig! Unbedingt noch heute!“
Nachdem ich den Zettel gefaltet und ganz unten in meine Schatzkiste gelegt hatte, ging ich ins Bett und träumte von diesem Zauberland.
Ich saß auf dieser grünen Wiese und spielte, als eine Stimme hinter mir „Hallo“ sagte Als ich mich umdrehte,
stand da ein Erwachsener, den ich sofort erkannte. Er war ich, 40 Jahre später. Ich lächelte und sagte: „Es hat geklappt. Es hat tatsächlich geklappt und du bist hier.“
Copyright Titelbild: Schnief.