Der Urlaub
3. Kapitel
Carla zog ihren Koffer über den Bordstein und ärgerte sich einen Moment, dass ihr der Taxifahrer diese Aufgabe nicht abgenommen hatte. Ein unfreundlicher beleibter Mann in den Vierzigern, der zudem auch noch ungepflegt wirkte. Ihrer Bitte, an der Vorinformation des Flughafen Tegel zu halten, war er auch nicht nachgekommen. Anhand der Flugnummer hätten sie sich informieren können, von welchem Gate die Maschine startete, so dass das Taxi gleich zum richtigen Terminaleingang hätte fahren
können. Der Taxifahrer hielt am erstbesten Eingang. Entsprechend klein fiel auch das Trinkgeld aus. Als er mit einer fleischigen Hand nach dem Geld griff, fiel ihr Blick erneut auf den klotzigen silbernen Ring am kleinen Finger seiner rechten Hand, der ihr schon zuvor aufgefallen war. Eine Strähne seines fettigen Haares war ihm in die Stirn gefallen. Die Narbe, die sich über die rechte Wange zog, verstärkte den missmutigen Ausdruck auf seinem Gesicht. Unsympathischer Kerl, dachte sie.
In der Flughafenhalle suchte Carla nach einer Informationstafel und erwartete schon ein Stück laufen zu müssen. Doch das digitale Anzeigenfeld war in unmittelbarer Nähe und ihr Abfluggate auch nicht weit
entfernt. Obwohl sie noch Zeit hatte, checkte sie sofort ein und betrat den Warteraum, in dem noch relativ wenige Fluggäste Platz genommen hatten. Sie setzte sich an eines der großen Panoramafenster, von denen sie einen Teil des Flugfeldes beobachten konnte. Die Maschine, mit der sie fliegen würde, stand schon bereit. Sie musste erst nach Frankfurt und dort umsteigen, um nach Singapur weiterzufliegen. In Singapur hatte sie einen Zwischenstopp und dann ging es weiter bis nach Denpasar auf Bali. Von dort würde sie die letzte Reisestrecke nach Lombok dann mit der lokalen Fluggesellschaft Merpati fliegen. Die einfachere Lösung wäre gewesen, von Singapur gleich nach Lombok zu fliegen.
Doch das Reisebüro konnte diese Flugverbindung leider nicht buchen. Das häufige Umsteigen bereitete ihr doch etwas Sorge. Sie kannte zwar den Flughafen von Singapur, aber seine Weiträumigkeit begünstigte doch sehr, dass man sich verlief. War man erst einmal auf den nicht enden wollenden Laufbändern, die die Fluggäste zu ihren Abfluggates brachten, gab es nur wenige Abstiegsmöglichkeiten, um diese wieder zu verlassen.
Hatte man die falsche Richtung gewählt, bedeutete das einen Zeitverlust. Hetzen wollte sie nicht, um ihre Anschlussmaschine zu erreichen. Aber daran mochte sie jetzt eigentlich nicht denken. Sie versuchte sich zu entspannen und beobachtete das Flugfeld.
Dabei überlegte sie, ob sie auch an alles gedacht hatte.
Den Wäscheständer, den sie mit der gestern gewaschenen Wäsche über Nacht auf den Balkon gestellt hatte, stand jetzt mit der noch etwas feuchten Wäsche im Bad. Ihre Mutter würde sofort nach ihrer Ankunft erst einmal für die notwendige Ordnung sorgen. Sie bedauerte, den Ananassaft nicht doch aus dem Kühlschrank genommen zu haben. Er würde ihrer Mutter zu kalt sein. Den Stecker des Bügeleisens hatte sie ebenfalls gezogen. Die Couch im Gästezimmer war ausgezogen und das Bettzeug - sie hatte extra die neue Bettwäsche aufgezogen - bereitgelegt.
Sie hatte überlegt, ob sie ihr eigenes Bett für die Eltern vorbereiten sollte. Es war zwar sehr
breit, jedoch nicht annähernd so, wie die Couch im Gästezimmer. Außerdem liebte ihre Mutter dieses Zimmer. Mit Sitzecke, kleinem Tisch, Bücherregal und einer flach gehaltenen kleinen Möbelwand war es sehr gemütlich eingerichtet.
„Spießig“, meinte Simone.
Aber Carla gefiel es. Der Schreibtisch, auf dem der Computer und ein zweiter Telefonapparat stand - die Basisstation befand sich in der Diele - blockierte ein wenig den Zugang zum Fenster, aber eine andere Stellmöglichkeit gab es nicht. Ihre Liebe zu Grünpflanzen war selbstverständlich auch in diesem Zimmer zu erkennen. Die Grünpflanzen hatten auch noch einmal Wasser bekommen. Sie hatte ihre Mutter
während des gestrigen Telefonates ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein übermäßiges Gießen nicht notwendig sei, da Gerlinde nach Abreise der Eltern die weitere Pflege übernehmen würde. Ihr Auto war auch sicher abgestellt. Carla war sehr zufrieden mit sich. Sie blickte sich im Warteraum um, der sich inzwischen gefüllt hatte. Dabei fiel ihr Blick auf einen älteren Herrn, der zwei Plätze weiter links von ihr saß. Sie konnte sich nicht erinnern, ob er schon dort gesessen hatte, als sie ihren Platz eingenommen hatte. Er hielt locker ein Buch auf dem Schoß, in dem er jedoch nicht las. Šaman las sie auf dem Bucheinband. Sie wandte den Kopf und war irritiert, dass dieses Wort ein unangenehmes Gefühl in ihr hervorrief, obwohl sie noch nicht
einmal wusste, was es bedeutet. Als sie erneut den Kopf wandte, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht verlesen hatte, war der Mann weg. Inzwischen hatte sich schon eine Schlange von Passagieren an der Bordabfertigung gebildet und Carla wollte sich ebenfalls einreihen, entschied sich aber dann noch etwas zu warten. Sie würde noch lange genug im Flugzeug sitzen und außerdem hoffte sie den Mann mit dem Buch zu entdecken. Vielleicht hielt er das Buch noch in der Hand. Sie hätte gern noch einmal einen möglichst unauffälligen Blick auf den Buchtitel geworfen. Suchend durchforschten ihre Augen den Warteraum, konnten den Mann jedoch nicht entdecken. Schließlich hing sie sich ihre Tasche über die Schulter,
nahm ihre kleine Reisetasche und ging an Bord. Eine viertel Stunde später startete die Maschine.
Carla saß nun schon einige Zeit in der Cafeteria des Frankfurter Flughafens, die in unmittelbarer Nähe ihres Abfluggates nach Singapur war. Draußen war es fast dunkel geworden. Sie wollte sich erst einen kleinen Thunfischsalat bestellen, nahm aber dann doch nur einen Cappuccino, da es kurz nach dem Start der Maschine an Bord noch ein Abendessen geben würde. Obwohl sie zum Perfektionismus neigte - oder war es mehr Pedanterie, nein, eher doch übertriebene Pingeligkeit, wie sie sich selbst heimlich eingestand - und alles immer sehr durchdacht
plante und vorbereitete, war sie doch froh, dass sie endlich durch die Passkontrolle war. Nicht auszudenken, wenn mit ihrem Pass etwas nicht in Ordnung gewesen wäre. Aber das Reisebüro hatte sich um das benötigte Visum gekümmert und alles sorgfältig vorbereitet. Die Personenkontrolle erschien ihr noch gründlicher als sie diese von ihrem letzten und einzigen Fernflug in Erinnerung hatte. Der lag allerdings drei Jahre zurück. Inzwischen war im Flugverkehr viel passiert. Es war also nicht verwunderlich, wenn akribische Kontrollen durchgeführt wurden. Entspannt trank sie ihren Cappuccino und dachte an den langen Flug, der vor ihr lag. Elf Stunden. Wenn sie die Zeitverschiebung berücksichtigte, würde sie ungefähr gegen
Mittag des nächsten Tages in Singapur sein. Sie wollte gerade in ihre Tasche greifen, um auf ihrem Flugticket nach der genauen Ankunftszeit zu schauen, als das Boarding für ihren Flug auf der Anzeigentafel aufleuchtete. Sie trank ihren Cappuccino aus und bezahlte die Rechnung. Bevor sie den Warteraum betreten konnte, erfolgte eine weitere Personen- und eine gründliche Kontrolle des Handgepäcks. Die kleine Flasche Mineralwasser, die sie in der Tasche hatte, wurde begutachtet und geschüttelt und landete letztlich in einem Behälter mit anderen Gegenständen, die ebenfalls nicht mit an Bord genommen werden durften. Carla reihte sich in die Schlange der Passagiere ein, die an der Bordabfertigung
standen und sah auf einmal den älteren Herrn, der ihr auf dem Flughafen in Berlin aufgefallen war. Er betrat gerade den Zugang zur Maschine.
Eine hübsche Asiatin in einem bunt gemusterten Kleid begrüßte Carla am Eingang zur Business Class und wies ihr den Weg zu ihrem Platz. Gleichzeitig übergab sie ihr die Speisekarte. Die kurze Konversation erfolgte in Englisch. Damit hatte Carla keine Schwierigkeiten. Sie sprach diese Sprache nicht perfekt, aber ihre Kenntnisse reichten aus, um sich recht gut zu verständigen. Sie flog zum ersten Mal mit Singapore Airline. Schon beim Betreten der Kabine waren ihr die breiten Sitze, die fast schon wie Sessel anmuteten, aufgefallen. Als sie ihren Platz in
der dritten Reihe erreicht hatte, zog sie ihre Jacke aus und verstaute sie in der Gepäckbox. Sie würde sie später wieder anziehen, denn aus Erfahrung wusste sie, dass es kühl im Flugzeug werden konnte. Aus diesem Grunde hatte sie sich bei der Wahl ihrer Reisekleidung für eine etwas wärmere und bequeme dunkelgraue Hose und ein hellgraues Kaschmirtwinset entschieden.
Als sie ihre Reisetasche ebenfalls in der Gepäckbox verstauen wollte kam ihr sofort eine Flugbegleiterin zu Hilfe. Wie immer, wenn sie mit dem Flugzeug reiste, hatte Carla einen Platz am Gang gebucht. Andere zu stören oder zu bitten aufzustehen, wenn sie ihren Platz verlassen wollte, war ihr immer
sehr unangenehm. Hier jedoch war so viel Platz zum vor ihr befindlichen Sitz, dass ungehindert jemand hindurchgehen konnte, ohne dass der Sitzende gestört werden würde. Carla setzte sich und war angenehm überrascht, wie bequem die Sitze waren. Ihre Schultertasche stellte sie vor sich auf den Boden. Sie würde später sehen, wo der beste Platz für sie war. Der Fensterplatz links neben ihr war noch unbesetzt. Rechts von ihr in der mittleren Sitzreihe - setzte sich gerade ein älteres Paar. Etwas umständlich hatte der Mann versucht, das Handgepäck zu verstauen, benötigte aber letztlich die Hilfe eines anderen Fluggastes, um das zwar nicht sehr große aber offenbar schwere Gepäckstück ordentlich unterzubringen. Die
Unsicherheit ihres Auftretens, die geflüsterten Worte - die Carla trotzdem verstand - über den Komfort in der Kabine, machten ihr die beiden sofort sympathisch. Aha, dachte sie, die fliegen auch zum ersten Mal in der Business Class. Inzwischen waren fast alle Plätze besetzt und zwei Flugbegleiterinnen boten Sekt und Orangensaft an. Carla entschied sich für Sekt, da sie erfahrungsgemäß von Sekt müde wurde, und somit hoffte, später schlafen zu können. Während sie ihren Sekt trank dachte sie daran, dass sie Simone weder von ihrem gestrigen Missgeschick auf dem Balkon noch von ihren merkwürdigen Gedanken an jenem Morgen erzählt hatte. Sie wollte sich einfach nicht dem gutmütigen
Spott ihrer Freundin aussetzen. Wobei sie mit dem wahrscheinlich recht gehabt hätte. Trotzdem musste Carla sich eingestehen, dass sie seit einigen Tagen eine seltsame Unruhe verspürte, schob diese jedoch letztlich auf die Hektik der letzten Arbeitstage und das Reisefieber, das sie offenbar befallen hatte. Als sie sah, dass die Flugbegleiterinnen die Gläser einsammelten, trank sie den letzten Rest aus, und stellte das Glas in die dafür vorgesehene Halterung, die neben der Armlehne des Sitzes angebracht war. Ob sie eine ungeschickte Bewegung gemacht oder das Glas nicht richtig abgestellt hatte wusste sie nicht. Es fiel herunter und zerbrach in zwei Teile. Der Vorfall war ihr peinlich, auch wenn
offenbar niemand der anderen Passagiere etwas davon bemerkt hatte. Bevor Carla die Scherben aufheben konnte, war eine Flugbegleiterin zur Stelle, die mit einem freundlichen Lächeln die Scherben entfernte und sich besorgt erkundigte, ob sie sich verletzt habe. Kurze Zeit später kam die Ansage über Bordfunk, dass die Maschine in wenigen Minuten starten würde. Der Platz neben Carla blieb leer.
Den größten Teil ihres Abendessens ließ Carla unberührt. Obwohl sie zwischen drei Gerichten wählen konnte, hatte sie sich doch für das falsche Menü entschieden. Sie mochte kein süßsauer zubereitetes Fleisch. Aber sie hatte die Cremespeise und das Obst
gegessen. Das Glas Mineralwasser, das sie nach dem Essen bestellt hatte, hielt sie mit beiden Händen fest bis es vom Bordpersonal eingesammelt wurde. Das heiße feuchte Tuch, das ihr vor und nach dem Essen gereicht wurde, brannte in Carlas Händen wie Feuer. Erschrocken legte sie es beide Male auf den aufgeklappten Tisch. Das ältere Paar in der mittleren Sitzreihe schien dieses Problem nicht zu haben. Ausgiebig reinigten sie sich die Hände. Nachdem auch die Tücher eingesammelt waren, verdunkelte sich das Licht in der Kabine. Carla schaltete die Lampe über ihrem Sitz ein und erwog noch einige Seiten in ihrem Buch zu lesen. Aber das war in ihrer Reisetasche. Die hätte sie erst aus der Gepäckbox nehmen müssen.
Dazu hatte sie jetzt keine Lust. Also schaltete sie das Licht wieder aus. Sie würde versuchen etwas zu schlafen. Zuvor wollte sie noch die Toilette aufsuchen. Sie griff nach der kleinen Tasche, die ebenfalls alle Passagiere in der Kabine bekommen hatten. Zwischen Schlafmaske, Socken und diversen Kosmetikartikeln, fand sie Zahnpaste und Zahnbürste. Die Toiletten waren vor dem Cockpit und es standen schon einige Passagiere dort. Carla ging nach vorn, denn je länger sie warten würde, desto länger würde die Schlange der Wartenden werden. Sie stand erst eine kurze Zeit in der Reihe der Passagiere, als sie das Gefühl hatte beobachtet zu werden. Sie sah sich um und bemerkte, dass auf dem Fensterplatz neben
ihrem eigenen Platz, ein Mädchen mit langen blonden Haaren saß. Es schaute aus dem Fenster in den Nachthimmel und nahm keinerlei Notiz von dem, was um sie herum geschah. Carla stand in nur geringer Entfernung und konnte ein ebenmäßiges Profil erkennen. Das Alter des Mädchen schätzte sie auf vielleicht zehn oder elf Jahre. Die Kleine hat wohl bemerkt, dass dieser Platz unbesetzt ist, dachte Carla und schaute sich weiter um, ob sie die Eltern entdecken konnte, die möglicherweise schon nach ihrer Tochter Ausschau hielten. Aber weil die Kabine schon abgedunkelt war, konnte sie im hinteren Teil der Kabine kaum etwas erkennen. Ihr machte es nichts aus, wenn die Kleine gerne dort sitzen wollte, obwohl sie
schon beschlossen hatte, den Fensterplatz hin und wieder zu belegen. Als sie später zu ihrem Platz zurückkehrte, war das Mädchen nicht mehr da. Während Carla auf der Toilette war, hatten die Passagiere Decken und Kissen bekommen.. Auch auf ihrem Platz lag ein Kissen. Die Decke lag auf dem Sitz des Fensterplatzes. Sie stellte die Rückenlehne so weit nach hinten, wie es möglich war, legte sich das Kissen zurecht und griff neben sich nach der Decke. Dabei hatte sie einen kurzen Moment das Gefühl als ob Wärme vom Nebensitz aufstieg. Etwas irritiert kuschelte sie sich in ihre Decke. Doch nach kurzer Zeit warf sie die Decke auf den Nebensitz, da ihr unerwarteter Weise warm wurde. Normalerweise fror sie auf Flügen, die
länger als zwei Stunden dauerten immer. Als sie vor einigen Jahren mit Simone nach Rom geflogen war, hatte sie im Flugzeug so gefroren, dass sie eine Bronchitis bekommen hatte. Ihre Unternehmungslust in Rom war deswegen doch recht eingeschränkt gewesen. Das hatte ihr im Hinblick auf Simone sehr leid getan. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass der Platz neben ihr eine eigenartige Hitze ausstrahlte und berührte sicherheitshalber die Sitzfläche und die Lehne, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie versuchte zu schlafen, merkte aber schon nach kurzer Zeit, dass sie zu unruhig war, um sich zu entspannen. Ihre Gedanken schweiften zu ihrem letzten Fernflug, dem einzigen, der schon drei Jahre
zurück lag.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013