Der Urlaub
2. Kapitel
Sie hatte tief und fest geschlafen. Das tat sie selten in letzter Zeit. Häufig plagten sie merkwürdige Träume. Wenn sie erwachte, erinnerte sie sich nur noch an wenige Traumbilder, die zehn Minuten später aber schon aus ihrer Erinnerung gelöscht waren. Entspannt räkelte sie sich und blieb gegen ihre Gewohnheit noch im Bett liegen. Die Fenster ihres Schlafzimmers waren an der Ostfront des Hauses.
Ein unverbauter Ausblick - auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen
Einfamilienhäuser und kleine Stadtvillen - ließ die morgendlichen Sonnenstrahlen ungehindert ins Zimmer dringen. Sie schloss die Augen und musste auf einmal an Tante Charlotte denken. Sie war die ältere Schwester ihrer Mutter. Mit ihrem zweiten Mann lebte sie auf Madeira. Kennengelernt hatten sie sich in Tirol. War es nicht am Achensee? Sie war sich nicht sicher. Tante Charlotte hatte dort einige Tage Urlaub gemacht. Später zogen sie nach Madeira. Vielmehr wusste sie von ihrer Tante nicht. Als Carlas Mutter einmal erwähnte, dass ihre Schwester schon sehr jung Witwe geworden war und sehr viel Unglück in ihrem Leben hatte, schaltete sich zu Carlas Überraschung ihr Vater in das Gespräch ein und bemerkte
kurz:
„Ihr Mann ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.“
Weitere Einzelheiten erzählten sie nicht. Und da Carla keinen emotionalen Bezug zu ihrer Tante hatte - wie sollte sie, nach vier höchstens fünf Begegnungen in ihrem Leben - hatte sie nie nachgefragt. Tante Charlotte war neun Jahre älter als ihre Mutter und müsste jetzt also fünfundsechzig sein. Die beiden Schwestern hatten einen losen Kontakt. Dass das nicht immer so war, erfuhr Carla bei einem der seltenen Gespräche, in denen über Tante Charlotte gesprochen wurde. Sie telefonierten hin und wieder, schrieben sich auch zweimal im Jahr eine Ansichtskarte und schickten sich zu
Weihnachten eine kleine Aufmerksamkeit. Seit einiger Zeit rief ihre Tante jedoch häufiger bei ihrer Mutter an. Bei einem ihrer Telefonate erwähnte ihre Mutter Carlas bevorstehende Reise nach Indonesien. Carlas Mutter lachte als sie von diesem Gespräch berichtete.
„Stell dir vor“, sagte sie, „Tante Charlotte war ganz aufgeregt als sie von deiner Reise erfuhr. Diese Reise wäre viel zu gefährlich. Als ob du zu den Wilden fahren würdest. Sie wollte alles über diese Reise wissen. Wann und wohin, mit welcher Fluggesellschaft du fliegen wirst, welches Hotel du gebucht hast…?“
Dann wurde ihre Mutter ernst.
"Wenn ich jetzt darüber nachdenke ... das
war schon recht sonderbar.“
Dann aber lachte sie wieder.
"Ich weiß doch selbst noch nicht genau wie dein Reiseablauf sein wird, Carla. Aber ich habe versprochen ihr alles mitzuteilen sowie ich Bescheid weiß. Sie hat sich schon immer Sorgen um dich gemacht.“
Carla war etwas überrascht, hatte aber nicht weiter darüber nachgedacht. Schon eine Woche nach diesem Telefonat hatte Tante Charlotte wieder angerufen und um einige neuere Fotos von allen gebeten. Sie wollte wohl ein Familienalbum anlegen. Darüber freute ihre Mutter sich ganz besonders, zumal es sie immer bedrückt hatte, dass der Kontakt zu ihrer Schwester nicht enger war. Seitdem telefonierten sie mindestens einmal
in der Woche.
Vor einigen Jahren hatte ihre Mutter Tante Charlotte auf Madeira besucht. Sie lernte deren Mann kennen und schwärmte:
„So nett und gebildet.“
Einmal sagte ihre Mutter:
"Tante Charlotte hat das ´zweite Gesicht` und du, Carla, hast das auch.“
Bei dieser Bemerkung verdrehte Carlas Vater die Augen.
„Mutti hat heute wieder ihren theatralischen Tag“, meinte er scherzhaft. Doch Carla glaubte einen warnenden Unterton zu hören. Zu ihrer Mutter gewandt sagte er nur kurz:
„Überleg´ dir, was du redest.“
Dann verließ er den Raum. Carla war auch
etwas unangenehm berührt als ihre Mutter diese Bemerkung machte. Aber diese Reaktion hatte sie von ihrem Vater nicht erwartet. Da ihre Mutter sofort das Thema wechselte, fragte Carla auch nicht nach. Denken musste sie an diese merkwürdige Situation öfter. Gerade deshalb, weil ein kleines Körnchen Wahrheit in den Worten ihrer Mutter lag. Manchmal ahnte sie wirklich Ereignisse oder Reaktionen voraus, die, wenn sie dann wirklich eintraten, sie maßlos erschreckten. Und je älter sie wurde, desto ausgeprägter wurden diese Vorahnungen. War sie nun überaus sensibel oder hatte sie ein besonderes Gespür für bestimmte Dinge?
Diese Fragen stellte sie sich immer öfter.
Bei einem der seltenen Besuche ihrer Tante -
Carla glaubte, dass es der letzte vor drei Jahren war, als sie selbst ihre Eltern an einem Wochenende besuchte - sagte diese zu ihr:
„Pass auf dich auf, Kind.“
Verwirrt öffnete Carla die Augen. Warum hatte sie gerade jetzt an Tante Charlotte denken müssen? Sie schüttelte die Gedanken ab, die ihr seltsamerweise Unbehagen bereiteten. Auf einmal war das Bett nicht mehr so verlockend und sie beschloss aufzustehen und sich ein herzhaftes Frühstück mit Eiern und knusprigem Speck zuzubereiten. Eine Tasse Kaffee und ein Glas Erdbeersaft würden ihr Mahl abrunden. Und das alles würde sie auf
ihrem kleinen Balkon einnehmen. Da auch das Wohnzimmer mit dem Zugang zum Balkon zur Ostseite lag und die Außentemperatur schon auf zwanzig Grad angestiegen war, freute sie sich auf ein ausgedehntes Frühstück. Die Prophezeiungen des Wetterdienstes, der schon seit zwei Tagen starke Gewitter mit stürmischem Regen vorher gesagt hatte, würden auch heute nicht eintreten. Auch der letzte Tag im Juli würde warm und trocken werden. Da war Carla sich sicher. Vielleicht würde in der Nacht ein Regenschauer etwas Abkühlung bringen.
Während sie im Bad die Zähne putzte, puffte die Kaffemaschine asthmatisch in der Küche und der Duft des Specks, der schon in der
Pfanne brutzelte, zog ins Bad. Ihrem Haar schenkte sie jetzt nicht viel Aufmerksamkeit, fuhr nur zweimal mit der Bürste hindurch und lief dann schnell zum Herd, gab zwei Eier in die Pfanne und würzte noch etwas mit Pfeffer und Salz. Als alles fertig war, richtete sie Teller, Kaffee, Saft und ein kleines Körbchen mit zwei Scheiben Toast hübsch auf einem Tablett an und ging damit auf den Balkon. In dem Augenblick, als sie das Tablett auf dem kleinen Tisch abstellen wollte, flog eine Amsel so dicht an ihrem Gesicht vorbei, dass sie vor Schreck die Kontrolle über das Tablett verlor und das Glas mit dem Saft ins Rutschen kam. Es kippte um und fiel auf den Boden, wo es in zwei gleiche Hälften zerbrach. Bei dem missglückten Versuch den
Fall des Glases aufzuhalten, hatte sich sein Inhalt über ihr gelbes Sleepshirt ergossen und lief an ihren nackten Beinen herab. Auf dem Fußboden bildete sich eine hässliche Lache. Carla schaute an sich hinab und wieder fühlte sie Unbehagen. Der große Fleck auf ihrem Sleepshirt sah aus wie Blut. Außerdem widersprach er den physikalischen Gesetzen. Eigentlich hätte er nach unten auslaufend sein müssen, statt dessen zogen sich die Saftspuren noch oben und hatten die Form lodernder Flammen, die an ihr hochzüngelten. Nachdem sie ihre Beine schnell unter der Dusche abgespült und das schmutzige Sleepshirt gegen Rolfs altes Shirt eingetauscht, die Scherben beseitigt und den verschütteten Saft vom
Boden gewischt hatte, setzte sie sich an den Tisch und zog das Tablett zu sich heran. Sie blickte auf die inzwischen kalten Eier und den hart gewordenen Speck. Das Frühstück schmeckte ihr nicht und sie ließ die Hälfte übrig. Auch auf ein neues Glas Saft verzichtete sie, trank nur ihren Kaffee und grübelte, wo denn der Vogel mit einem Mal hergekommen sein könnte. Ihr Balkon war zur Hälfte eingebaut, fast wie eine Loggia. Noch nie hatte sich ein Vogel auf ihrer Balkonbrüstung niedergelassen. In den ersten beiden Wintern, in denen sie hier wohnte, hatte sie ein Futterhäuschen angebracht. Aber kein Vogel wollte ihre Sonnenblumenkerne. Jetzt war das Futterhäuschen auf Gerlindes Balkon.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Es war Wolfgang, ein ehemaliger Kollege, der mit seiner Familie in einem kleinen Haus mit Garten am Stadtrand wohnte. Es gehörte einem alten Ehepaar, das in ein Seniorenheim gezogen war. Wolfgang hoffte einen Kredit zu günstigen Konditionen zu bekommen und wollte es kaufen. Noch wohnte er zur Miete dort. Carla und Wolfgang kannten sich aus Bremen. Sie hatten beide in einer Firma, die Schiffsmobiliar herstellte, gearbeitet.
Er zog vor acht Jahren wegen seiner damaligen Freundin, die ihre Wurzeln in Berlin hatte, her. Inzwischen waren sie verheiratet und hatten zwei Kinder. Wolfgang hatte ihr angeboten ihr Auto während ihres
Urlaubs in seiner Garage abzustellen.
„Dann muss es nicht zwei Wochen vor deinem Haus auf der Straße stehen“, sagte er, „denn spitzfindige Leute bekommen ganz schnell mit, wenn ein Auto längere Zeit nicht bewegt wurde.“ Carla war Wolfgang dankbar für das Angebot. Nun wollte er wissen, wann sie es bringen würde.
„Ich fahre dich dann wieder zurück“, sagte er, und Carla dachte wie so oft, dass Wolfgang nicht nur ein ehemaliger Kollege sondern in erster Linie ein guter Freund ist. Auch mit seiner Frau Regine verstand sie sich sehr gut. Sie verabredeten sich für den Abend, denn tagsüber brauchte sie das Auto noch. Carla räumte ihr Frühstücksgeschirr
weg, schaltete den Geschirrspüler ein und ging ins Bad. Bevor sie duschte versuchte sie unter fließendem Wasser den hässlichen Saftfleck aus ihrem Sleepshirt zu entfernen. Sie war nicht sehr erfolgreich und ärgerte sich, dass sie nicht sofort nach dem Malheur die Fleckentfernung in Angriff genommen hatte. Aber sie wollte abends sowieso ihre Wäsche waschen und hoffte, dass in der Waschmaschine auch die letzten Spuren beseitigt werden würden. Nachdem sie geduscht hatte, zog sie sich an. Sie entschied sich für eine dunkelblaue Jeans und ein weißes Shirt, suchte nach passenden flachen Schuhen, denn sie erinnerte sich noch sehr gut an ihre schmerzenden Füße vom Vortag. Schnell
maß sie die Größe ihres Namensschildes an der Wohnungstür aus, griff nach ihrer Tasche und verließ die Wohnung.
Ihr Auto parkte direkt vor dem Haus. Ein silbergrauer Honda Civic älterer Bauart, den sie in einem sehr guten Zustand vor einem Jahr gekauft hatte. Dabei hatte ihr die Erfahrung ihres Vaters sehr geholfen, sonst hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit, nein mit Sicherheit, eine Fehlentscheidung getroffen. In die Firma fuhr sie in der Regel mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Es war angenehmer, als sich mit dem Auto im Berufsverkehr durch die halbe Stadt zu quälen. Von ihrer Wohnung bis zur
Bushaltestelle waren es nur vier Minuten. Bis zum S-Bahnhof waren es drei Stationen mit dem Bus. Bei schönem Wetter verzichtete sie manchmal auf den Bus und lief die Strecke. Wenn sie allerdings Besorgungen machen musste, freute sie sich, durch das Auto doch an Beweglichkeit gewonnen zu haben.
Ihr erstes Ziel war der Schlüsseldienst, da man dort auch Namensschilder anfertigen lassen konnte. Sie wusste, dass es im Einkaufszentrum einen gab. Nach zehn Minuten war sie am Ziel. Sie äußerte ihre Wünsche und freute sich, dass das Schild schon zwei Tage später abgeholt werden konnte. Carla würde ihre Eltern bitten sich darum zu kümmern. Ihr Vater würde ihr das neue Schild auch bestimmt gleich anbringen.
Jetzt brauchte sie noch Getränke. Bier, Mineralwasser und zwei Flaschen Ananassaft, den ihre Mutter so gern trank. Die Sorte, die ihre Mutter mochte, bekam sie nicht im ersten Laden, den sie aufsuchte. Aber im nächsten hatte sie Glück. Lebensmittel wollte ihre Mutter selbst einkaufen. Carla überlegte, ob sie zuerst zu Simone fahren und auf dem Heimweg ihre Sachen aus der Reinigung holen sollte. Kurz entschlossen entschied sie, zuerst die Reinigung, dann Simone.
Simone Michaelis war Carlas beste Freundin. Vier Jahre älter als sie und seit einem Jahr geschieden. Sie lernten sich in einem Cafe kennen, kurz nachdem Carla nach Berlin
gezogen war. Zu dieser Zeit durfte in Restaurants und Cafe´s noch geraucht werden und Simone hatte kein Feuer, um sich eine Zigarette anzuzünden. Carla hatte Streichhölzer in der Tasche, die sie irgendwann einmal irgendwo eingesteckt hatte. Simone bot ihr eine Zigarette an und war überrascht, dass Carla, obwohl sie Streichhölzer bei sich hatte, gar nicht rauchte. So kamen sie beide ins Gespräch. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch, so dass die Verabredung, die sie bei der Verabschiedung vereinbarten, ihnen ganz normal erschien. Es entwickelte sich eine tiefe und warmherzige Freundschaft zwischen ihnen. Simones Mann Holger allerdings gehörte nicht zu dem Typ von Leuten, die
Carla mochte. Seine charmante und zuvorkommende Art machte auf sie immer den Eindruck, dass er ein bestimmtes Bild von sich vermitteln wollte. Außerdem war er nicht ehrlich. Das spürte sie. Manchmal hatte sie auch das Gefühl, er würde es lieber sehen, wenn die Freundschaft zwischen den beiden Frauen nicht so eng wäre. Vor zwei Jahren stand Simone weinend vor ihrer Tür. Holger hatte schon ein Jahr ein Verhältnis mit einer Kundin der Werbeagentur, in der er arbeitete, und davor hatte er eine kurze Liaison mit einer Taxifahrerin, die er auf einer seiner vielen Geschäftsreisen kennengelernt hatte. Simone war durch einen Zufall darauf gekommen. Sie wartete im Auto auf ihren Mann an der Tankstelle während er an der
Kasse bezahlte. Sie wollte telefonieren und stellte fest, dass der Akku ihres Handys leer war. Als sie nach dem Telefon ihres Mannes griff, ging eine SMS ein, die sie ohne Hintergedanken las. Die Nachricht war eindeutig. Als sie ihren Mann zur Rede stellte, gab er sofort alles zu, gestand auch seinen früheren Seitensprung, nachdem Simone ihn mit weiteren Fragen bedrängte. Simone erzählte, dass er noch nicht einmal versucht hatte sich zu rechtfertigen, sondern lapidar erklärte, so etwas käme nun einmal vor. Carla litt damals mit Simone. Die Gefühlsregungen ihrer Freundin wechselten zwischen Schmerz, Enttäuschung und Wut, wobei letztere dominierte. Aber heute war sie wieder die Frau, die Carla vor knapp sechs
Jahren kennengelernt hatte. Selbstbewusst und fröhlich führte sie recht erfolgreich eine eigene Modeboutique, die mittlerweile schon einen respektablen Bekanntheitsgrad erreicht hatte. Obwohl sie zwei Verkäuferinnen angestellt hatte und meistens selbst im Laden mit bediente war das Arbeitspensum kaum noch zu bewältigen, so dass sie in Erwägung zog ein zweites Geschäft zu eröffnen und dann noch zwei Mitarbeiter einzustellen. Eine größere Verkaufsfläche anzumieten widerstrebte ihr, da sie befürchtete, das besondere Flair ihrer Boutique würde verlorengehen. Sie lebte allein und war mit dieser Situation auch zufrieden. Noch, wie sie selbst sagte. Die Verabredungen, die sie hin und wieder hatte,
hinterließen nie einen ernsten Nachhall bei ihr.
Warum wusste ich, als Simone damals weinend vor meiner Tür stand, was passiert war, dachte Carla. Keine Details, aber ich wusste, dass ihr Mann sie betrog.
Sie trat abrupt auf die Bremse. Beinahe wäre sie auf das vor ihr fahrende Auto aufgefahren, das abgebremst hatte, um rechts abzubiegen. Was war nur los mit ihr? Sie holte tief Luft und fuhr nun konzentriert weiter.
Zehn Minuten später bog Carla in die belebte Straße ein, in der Simone wohnte. Wie so oft suchte sie vergeblich nach einer Parklücke und musste nun doch in das Parkhaus fahren, das an der nächsten
Straßenkreuzung stand. Sie mochte keine Parkhäuser, gewann der Sache jedoch einen positiven Aspekt ab, da sie auf dem kurzen Fußweg zu Simone an einem Blumenladen vorbeikommen würde und somit für diese noch ein paar Blumen kaufen konnte. Als sie sich Simones Haus näherte, sah sie diese schon winkend am Fenster stehen. Schnell stieg sie die Treppe in die erste Etage hinauf. Simone stand in der schon geöffneten Tür und schloss Carla herzlich in die Arme. Erfreut nahm sie den Strauß gelber Ranunkel, den Carla ihr mitgebracht hatte, entgegen. Carla hob die Nase und schnupperte. Simone lachte und sagte:
„Komm´, du kannst schon ´mal in den Topf gucken. In einer halben Stunde gibt es ein
leckeres Mittagessen. Brühkartoffeln! Die Rinderbrühe mit viel Liebstöckel gekocht! Der duftet auch so intensiv. Es müssen nur noch die Kartoffeln gekocht werden."
Carla freute sich. Nach ihrem missratenen Frühstück konnte sie eine gute Mahlzeit gebrauchen. Außerdem war Simone eine hervorragende Köchin. Es gelang ihr mühelos für mehrere Personen eine ausgeklügelte Spezialität auf den Tisch zu bringen. Die größte Freude bereitete es ihr jedoch, wenn sie ein deftiges Essen zubereiten konnte. Carla beneidete sie um diese Fähigkeit. Ihre eigenen Kochkünste waren sehr bescheiden und wenn sie mehr als drei Gäste zum Essen hatte, bekam sie Schweißausbrüche. Während Simone den
Tisch deckte, bewunderte Carla, wie so oft, die geschmackvolle Einrichtung. Simones Geschmack unterschied sich sehr von ihrem eigenen. Trotzdem gefiel Carla die Kombination von modernen Möbeln mit recht konservativ gestalteten Ruhepolen. Obwohl die Hundertachtzig-Quadratmeter-Wohnung viel zu groß für Simone war, konnte diese sich immer noch nicht entschließen in eine kleinere zu ziehen. Nicht, dass sie sich die Wohnung nicht leisten konnte. Simone hatte einiges Vermögen. Als ihre Eltern vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen, erbte sie nicht nur die Stadtvilla, in der sie bis dahin auch selbst wohnte, sondern auch ein gut bestücktes Bankkonto. Die Villa verkaufte sie und zog in eine kleine
Maisonette-Wohnung. Dank der Hilfe und Umsicht eines Onkels hatte sie ihr Vermögen gut angelegt. Er riet ihr auch bei einer Heirat einen Ehevertrag zu schließen. Klugerweise war sie diesem Rat gefolgt. Erst nachdem sie Holger kennengelernt hatte, wechselte sie in ihre jetzige Wohnung. Carla wusste, dass er Simone maßgeblich zu dieser Entscheidung gedrängt hatte.
„Fertig“, sagte Simone und stellte die Vase mit den Blumen auf den hübsch gedeckten Tisch.
"Die Kartoffeln müssten jetzt auch gar sein“, meinte sie dann und ging in die Küche.
„Du kannst schon die Brühe in die Terrine füllen und auf den Tisch stellen und ich bringe dann nur noch die Kartoffeln“, sagte
sie zu Carla.
Carla kannte dieses Gericht nicht, aber es schmeckte vorzüglich. Nach dem Essen räumten beide den Tisch ab und gingen anschließend in den Erker. Die Korbgarnitur, bestehend aus einem runden Tisch und vier kleinen Sesseln hatte Simone erst vor kurzem gekauft. Auf dem Tisch stand eine Schale mit Aprikosen, die sie extra für Carla hingestellt hatte, weil sie wusste, dass diese sie gern aß. Sie selbst zündete sich eine Zigarette an. Sie hatten sich drei Wochen nicht gesehen und nur zweimal kurz miteinander telefoniert, so dass alles Wichtige und Unwichtige erst einmal besprochen werden musste. Simone hatte sich extra zu diesem Zweck den heutigen Tag
frei genommen. Hauptthema war natürlich der bevorstehende Urlaub von Carla. Wieder einmal erwähnte Carla, doch ein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie so einen teuren Urlaub gebucht hatte. Er kostete sie fast ihre gesamten Rücklagen. Den neuen Fernseher, den sie sich in diesem Jahr kaufen wollte, konnte sie streichen. Der Laptop musste auch warten. Sie würde weiterhin den monströsen Turm auf ihrem Schreibtisch zu stehen haben.
"Das Johnson´s ist eines der teuersten Hotels auf Lombok, Simone. Und statt wie Millionen anderer Urlauber in der Touristenklasse zu fliegen, habe ich bei Singapure Airline in der Business Class gebucht.“
Simone wusste das alles. Doch bevor sie Carlas Entscheidung gut heißen konnte, rechtfertigte sich diese beinahe etwas trotzig.
„Aber warum eigentlich nicht. Ich hatte lange keinen richtigen Urlaub und außerdem lebe ich ansonsten recht sparsam, stelle keine hohen Ansprüche, außer an meine Kleidung. Glücklicherweise kommst du mir da mit preiswerten Angeboten entgegen.“ Dankbar drückte sie Simones Hand. Dann erzählte sie Simone, dass ihr Chef, einen ordentlichen Urlaubsbonus auf ihr Gehalt dazugelegt hatte. Simone bekräftigte Carla in ihrer Meinung und riet ihr, sich endlich auf den Urlaub zu freuen und diesen dann auch zu genießen. Als Carla ihr vor vier Monaten
erzählte, dass sie vorhabe nach Indonesien zu fliegen, hatte sie in Erwägung gezogen sie zu begleiten. Sie hätten beide viel Spaß gehabt. Simone hatte ihre Termine hin und her geschoben, aber es passte einfach nicht in ihre Zeitplanung. Nach drei Stunden, die beiden Frauen wie im Fluge vergangen waren, verabschiedete sich Carla. Sie hatte noch einiges zu tun. Ihre Wäsche musste noch gewaschen, das Gästezimmer für ihre Eltern hergerichtet und der Koffer gepackt werden. Um neunzehn Uhr wollte sie bei Wolfgang sein. Sie war schon im Treppenhaus als ihr Simone nachrief, in Indonesien nur in Garküchen zu essen, weil die Speisen dort immer frisch sein würden.
„Und ruf gleich an, wenn du im Hotel
angekommen bist“, setzte sie noch hinzu.
© KaraList
Erstveröffentlichung der Gesamtausgabe 09/2013